T 0267/91 (Füllstoff/PLÜSS-STAUFER) of 28.4.1993

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1993:T026791.19930428
Datum der Entscheidung: 28 April 1993
Aktenzeichen: T 0267/91
Anmeldenummer: 80106420.5
IPC-Klasse: C09C 1/02
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: B
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Mineralischer Füllstoff, insbesondere Calciumcarbonat für Farben und Papierbeschichtungsmassen
Name des Anmelders: Plüss-Staufer AG
Name des Einsprechenden: ECC International Limited
Kammer: 3.3.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 100(b)
European Patent Convention 1973 Art 54
Schlagwörter: Ausreichende Offenbarung (ja) - Offenkundige Vorbenutzung (nein) - Zugänglichkeit eines Firmenprospekts (nein) - Meßunsicherheiten bzw. Fehlergrenzen bei der Beurteilung der Neuheit
Novelty - enabling disclosure - yes
Novelty - public prior use - no
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0077/94
T 0037/98
T 0448/98
T 0260/03
T 1253/04
T 1453/05
T 1464/05
T 1510/06
T 1511/06
T 1512/06
T 1513/06
T 1234/19

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung 80 106 420.5 wurde das europäische Patent 0 027 997 aufgrund von zwei Stoffansprüchen für die Vertragsstaaten BE, DE, FR, GB, IT, NL, SE und zwei Verfahrensansprüchen für Österreich erteilt. Der Stoffanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:

"1. Mineralischer Füllstoff, insbesondere natürliches Calciumcarbonat, für Farben und Papierbeschichtungsmassen, dadurch gekennzeichnet, daß das Verhältnis

Gew.-% Teilchen < 1 µm

_________________________ = R = 4 - 8

Gew.-% Teilchen < 0,2µm

ist und daß mindestens 93 Gew.-% der Teilchen kleiner als 2 µm sind.

II. Gegen die Patenterteilung legte die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) wegen fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit (Art. 100 a) EPÜ) und nicht ausreichender Offenbarung (Art. 100 b) EPÜ) Einspruch ein. Zur Stütze ihrer Vorbringen hat die Beschwerdegegnerin u. a. auf folgende Dokumente verwiesen:

(1) GB-A-2 015 487

(4) Firmenprospekt "English China Clays Products for paper industry"

(13) Schriftliche Erklärung von Herrn A.G.F. Barr

(14) Brief von Herrn Barr an die China Clay Handelsgesellschaft vom 25. Mai 1977.

Außerdem hat die Beschwerdegegnerin eine offenkundige Vorbenutzung des Produkts SETACARB geltend gemacht und zu deren Nachweis folgende Beweismittel eingereicht:

(10) Internes Memorandum, Dr. J.F. Williams, vom 2. August 1979 mit Partikelgrößen-Verteilungskurve des Produkts SETACARB

(11) Internes Memorandum, M.J. Hine, vom 26. September 1979

(12) Schriftliche Erklärung von Herrn M.W. Gould.

Während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 8. Januar 1991 hat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) einen Hilfsantrag (Hilfsantrag 1) überreicht, der sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags nur dadurch unterscheidet, daß der Bereich für das Verhältnis R auf 4 - 5 eingeschränkt worden ist.

III. Die Einspruchsabteilung hat das Patent wegen mangelnder Neuheit der Stoffansprüche 1 gemäß Hauptantrag und gemäß Hilfsantrag widerrufen. In der Entscheidung wird ausgeführt, daß für die Einspruchsabteilung glaubwürdig sei, daß Dokument (10) "existiere" und am 2. August 1979 abgefaßt wurde. Die Vorveröffentlichung des Dokuments (4) sei auch glaubwürdig, da die Einsprechende von Anfang an 1977 als Vorveröffentlichungsjahr angegeben und eine entsprechende Deklaration unter Artikel 117 (1) EPÜ eingereicht habe. Es stehe somit fest, daß die Produkte SETACARB und NP 100 E/P vor dem Anmeldetag des Streitpatents bekannt bzw. im Verkehr waren. Ferner würden diese Produkte die im Anspruch 1 des Hauptantrags erwähnten Merkmale aufweisen.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 sei auch neuheitsschädlich getroffen. Im Dokument (1) werde ein Produkt F beschrieben, das 100 % Korngröße unter 2 µm und ein Verhältnis R von 3,6 aufweise. In der mündlichen Verhandlung wurde angenommen, daß die Fehlergrenze bei der Messung der Korngröße ca 1 % der %-Menge des jeweiligen Schnittes betrage. Dies ergebe nun nach der bekannten Relation d(u/v) < 2.du.(u.v)/v2, wobei (u/v) = R, für R = 4 bis 5 einen Fehler von 8 % bis 10 % auf den Quotienten. Dieser 10 % Unsicherheitsfaktor gelte selbstverständlich für die Bemessung des beanspruchten Umfangs wie für die Werte aus dem Stand der Technik, so daß der Raum zwischen 4 und 3.6 für die R-Werte im ganzen Bereich dieses Unsicherheitsfaktors läge. Daher sei der untere Bereich von R vorweggenommen.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin Beschwerde erhoben und eine Begründung hierzu eingereicht. Mit einem weiteren Schreiben vom 3. November 1992 hat sie einen zweiten Hilfsantrag (Hilfsantrag 2) nachgereicht. Am 28. April 1993 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Die Beschwerdegegnerin nahm an dieser Verhandlung nicht teil, wie sie am 22. April 1993 schriftlich mitgeteilt hatte.

V. Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, daß aus dem Vorliegen des Dokuments (10) sich kein Rückschluß darauf ziehen lasse, ob und wann das Pigment SETACARB der Öffentlichkeit zur Verfügung gestanden habe. Ein firmeninterner Bericht gehöre nicht zum Stand der Technik. Ferner hat sie bestritten, daß die in den Dokumenten (4) und (10) beschriebenen Produkte die Neuheit des Füllstoffes gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags zerstören.

In bezug auf Dokument (1) und auf die Fehlerrechnung in der angefochtenen Entscheidung hat die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgendes ausgeführt:

In Dokument (1) sei ein Verhältnis R überhaupt nicht beschrieben. Dieses Dokument offenbare nicht die Lehre des Streitpatents, nämlich die Einstellungs- bzw. Bemessungsregel selbst, geschweige denn die Kombination dieser Einstellungsregel mit dem zweiten erfindungsgemäßen Merkmal. Aber selbst wenn man mit Kenntnis der erfindungsgemäßen Lehre die in (1) enthaltenen Korngrößen in das erfindungsgemäße Verhältnis von R einsetze, werde ein Wert R = 3,6 erhalten. Der untere Wert gemäß Hauptantrag und Hilfsantrag 1 für R sei jedoch 4. Um hier die Neuheit zerstören zu können greife die Einspruchsabteilung zu Mitteln, nämlich dem Heranziehen von Meßungenauigkeiten und der Berechnung von Fehlergrenzen oder Unsicherheitsfaktoren, die völlig verfehlt erscheinen würden. Diese Fehlergrenzen seien als ein gekünstelter unpräziser Bereich bzw. eine Verschmierung um den tatsächlichen offenbarten Wert zu betrachten. Die Einführung solcher Fehlergrenzen sei keinesfalls mit den für die Neuheit üblicherweise angelegten Maßstäben vereinbar.

Wollte man nämlich bei der Prüfung auf Neuheit mit Fehlergrenzen operieren, könnten tausende und aber tausende von Patenten im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren widerrufen bzw. vernichtet werden, die beim Anlegen der üblichen Maßstäbe durchaus neu wären.

Die Toleranz bei der Bestimmung der Teilchengrößen feinteiliger Materialien liege nicht bei ± 3 %, sondern höchstens bei ± 0,6 %.

Der Fachmann werde zur Bestimmung von Kornverteilungen nicht eine solche Methode auswählen, die hohe Fehlergrenzen ergebe, sondern eine Methode mit einer möglichst hohen Sicherheit, d. h. einer Fehlergrenze von z. B. 0,6 % (Scheibenzentrifuge). Alles andere widerspreche der allgemeinen Lebenserfahrung. Aus diesem Grund seien die im Streitpatent angegebenen Werte selbstverständlich nach der Methode bestimmt, welche die geringsten Fehlergrenzen gewährleiste, d. h. mit der Scheibenzentrifuge.

Auf Befragung der Kammer hat die Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung angeführt, daß sie die in der angefochtenen Entscheidung erwähnte Formel und deren Verwendung für die Fehlerrechnung bezüglich des Quotienten R nicht vestanden habe.

VI. Die Beschwerdegegnerin hat schriftlich u. a. folgende Argumente vorgebracht:

Es sei auf Dokument (10) nicht als "öffentliches" Dokument verwiesen worden, sondern als Beweis für die Existenz des Produkts SETACARB vor dem Prioritätsdatum und für dessen Korngrößenverteilung. Das Dokument (4) offenbare unter dem Namen NP 100 E/P nicht ein einziges, isoliertes Produkt, sondern einen Bereich von möglichen Produkten, von denen einige innerhalb des beanspruchten Bereichs fallen würden.

In bezug auf Dokument (1) und auf die Berücksichtigung von Unsicherheitsfaktoren werde darauf hingewiesen, daß ein angegebener Wert für den Anteil an Partikeln mit einer bestimmten Größe keinen festen und unvariablen Punkt darstelle. Dieser Wert müsse als Bereich von Möglichkeiten betrachtet werden. Die Erklärung von Herrn Gould zeige, daß der Fachmann den Unterschied zwischen den für die Abänderung des R-Wertes von 3,6 auf 4 notwendigen Anteilen als einen innerhalb des Meßschwankungsbereiches liegenden Unterschied betrachten würde und nicht als einen wirklichen Unterschied zwischen den Korngrößenverteilungen des Produktes.

VII. In einer Mitteilung gemäß Art. 11 (2) VB hat die Kammer Zweifel darüber geäußert, ob das Produkt SETACARB vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents der Öffentlichkeit zur Verfügung stand und ob das Dokument (4) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag), hilfsweise mit dem am 8. Januar 1991 eingereichten Hilfsantrag 1 oder mit dem am 3. November 1992 eingereichten Hilfsantrag 2.

Die Beschwerdegegnerin hat am 21. April 1993 mitgeteilt, daß sie sich aus der Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung zurückziehe und daß sie gegen die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung keinen Einwand habe.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Im Einspruchsverfahren hat die Beschwerdegegnerin vorgetragen, daß im Streitpatent keine Meßmethode für die Ermittlung der Teilchengrößen angegeben sei und daher das Patent die Voraussetzungen bezüglich der Offenbarung der Erfindung nicht erfülle (Art. 100 b) EPÜ).

Es trifft zwar zu, daß die Meßmethode im Streitpatent nicht expressis verbis erwähnt ist und daß unterschiedliche Ergebnisse erhalten werden können je nachdem welche Methode für die Bestimmung der Teilchengrößen verwendet wird, nämlich Gravitationssedimentation, Zentrifugalsedimentation, optische Mikroskopie oder Elektronenmikroskopie. Jedoch werden in der Beschreibung des Streitpatents und der ursprünglich eingereichten Anmeldung unter Bezugnahme auf den Stand der Technik gemäß DE-A-2 808 425 der negative Einfluß der "hochfeinen" Partikeln (Größe unter 0,2 µm) auf den Glanz der Farben sowie andere Nachteile erörtert. Gemäß dem anschließenden Satz besteht die Aufgabe der Erfindung darin, diese Nachteile zu vermeiden (siehe Streitpatent, Seite 2, Zeilen 43 - 51; ursprüngliche Beschreibung, Seiten 2 und 3). Sollte der Fachmann selbst unter Heranziehen des allgemeinen Fachwissens über die Methoden für die Bestimmung von Teilchengrößen nicht in der Lage sein herauszufinden, durch welche Methode die Partikelgrößen im Streitpatent bestimmt worden sind, dann würde er zweifellos in diesem Dokument nachschlagen. Aus Seite 6, Zeilen 2 - 3 erfährt er, daß die Messung der Korngrößenverteilung für Partikel mit einer Größe von ca. 3 oder 4 µm bis unter 0,2 µm mittels Sedimentationsanalyse im Fliehkraftfeld erfolgt. In Anbetracht dessen, daß das Streitpatent (und auch die ursprüngliche Anmeldung) sich bei der Aufgabenstellung auf dieses Dokument bezieht, würde der Fachmann unmittelbar ableiten, daß im Streitpatent die Bestimmung der Partikelgrößen für den gleichen Größenbereich ebenfalls durch Sedimentationsanalyse im Fliehkraftfeld ausgeführt wurde (siehe in diesem Zusammenhang T 6/84, ABl. EPA 1985, 238; T 288/84, ABl. EPA 1986, 128 und T 611/89 im ABl. nicht veröffentlicht). Daraus ergibt sich, daß der Fachmann aufgrund der Angaben im Streitpatent erkennen kann mit welcher Methode die Partikelgrößen bestimmt wurden. Somit wird die Offenbarung der Erfindung als ausreichend betrachtet.

3. Die Ansprüche 1 und 2 gemäß Hauptantrag erfüllen, die Vorschriften des Artikels 123 (2).

4. Hauptantrag: Neuheit

4.1. Offenkundige Vorbenutzung des Produkts SETACARB

Die Behauptung der Beschwerdegegnerin, daß das Pigment SETACARB vor dem Prioritätsdatum (29. Oktober 1979) durch Lieferung an Kunden oder potentiellen Kunden zugänglich gemacht worden sei, wurde von der Beschwerdeführerin bestritten.

Die Prüfung der Frage der Offenkundigkeit der behaupteten Vorbenutzung ergibt folgendes:

Unter Berücksichtigung der firmeninternen Berichte vom 2. August 1979 und 26. September 1979 - Dokument (10) und 11) - ist glaubhaft, daß die Beschwerdegegnerin vor dem Prioritätsdatum eine Probe der SETACARB-Aufschlämmung erhalten und deren Korngrößenverteilung durch Sedimentationsanalyse im Schwerkraftfeld nach der Andreasen-Methode ermittelt hat. Jedoch ist aus den Dokumenten (10), (11) oder (12) nicht zu entnehmen, wie und unter welchen Umständen diese Probe erhalten wurde. Auf Seite 1 des Dokuments (10) ist zwar folgendes erwähnt: «the analysis of the first sample of slurry SETACARB obtained from (Blank) has been completed», jedoch wurde die Information über die Herkunft der Probe weggelassen. Obwohl die Kammer in der Mitteilung vom 12. Februar 1993 darauf hingewiesen hatte, daß die Umstände, unter denen die behauptete Vorbenutzung stattgefunden hat, unklar waren, wurde von der Beschwerdegegnerin kein weiteres Beweismittel diesbezüglich vorgelegt. Unter Berücksichtigung dessen, daß der Einsprechende (Beschwerdegegner), der sich auf seine eigene Vorbenutzung des Produkts SETACARB stützt keine Erklärungen darüber gegeben hat, wie er eine Probe dieses Produkts erhalten hat - d. h. ob der Erhalt dieser Probe mit einer Geheimhaltungsvereinbarung verbunden war, oder ob das Produkt z. B. durch Kauf und ohne Geheimhaltungsverpflichtung erlangt wurde - noch nachgewiesen hat, daß das Produkt vor dem Prioritätsdatum der Öffentlichkeit zur Verfügung stand, kann die Kammer die Offenkundigkeit der geltendgemachten Vorbenutzung nicht als gegeben betrachten. Daraus ergibt sich, daß das Produkt SETACARB und somit auch dessen Korngrößenverteilung nicht als zum Stand der Technik gehörig angesehen werden können.

4.2. Zugänglichkeit des Firmenprospekts (4)

Dokument (4) ist ein Firmenprospekt der Beschwerdegegnerin selbst, deren Firmennamen im Jahre 1977 geändert wurde. Bezüglich der Zugänglichkeit dieses Prospekts ist die Kammer zu folgendem Ergebnis gekommen:

Unter Berücksichtigung der Dokumente (13) und (14) ist glaubhaft, daß ein Exemplar des mit dem Firmennamen «English China Clays Sales Co. Ltd.» versehenen Prospekts (4) mit dem Brief vom 25. Mai 1977 der zugehörigen deutschen Vertriebsgesellschaft «China Clay Handelsgesellschaft» in Mannheim zugeschickt worden ist und daß diese Vertriebsgesellschaft weitere Exemplare des Prospekts, auf Bestellung, bei der Werbungsabteilung der English China Clays Sales Co. Ltd. erhalten konnte. Es ist zwar im Dokument (13) angegeben, daß die deutsche Vertriebsgesellschaft Exemplare des Prospekts bestellt und weiter verteilt habe, jedoch kann aus diesem Dokument nicht entnommen werden, wann die Bestellung und Verteilung stattgefunden haben. Zwischen dem Brief vom 25. Mai 1977 und dem Prioritätsdatum des Streitpatents sind ca. 29 Monate vergangen. Da es im Interesse der Beschwerdegegnerin lag die Firmenprospekte zur Kenntnis ihrer Kunden oder potentiellen Kunden zu bringen, um sie über die Eigenschaften ihrer eigenen Produkte zu informieren (wie dies im Dokument (13) angedeutet ist) könnte davon ausgegangen werden, daß unter normalen Umständen innerhalb von 29 Monaten Exemplare des Prospekts nicht nur bestellt sondern einige davon auch verteilt worden sind (vgl. T 82/90 und T 743/89 im ABl. EPA nicht veröffentlicht). Jedoch muß im vorliegenden Falle zusätzlich berücksichtigt werden, daß der Firmenname "English China Clays Sales Co. Ltd", der auf der letzten Seite des Prospekts (4) gedruckt ist, am 1. Oktober 1977 zum "ECC International Ltd" geändert wurde, d. h. ca 4 Monate nach Sendung des Briefs vom 25. Mai 1977, und daß infolgedessen ab 1. Oktober 1977 die Prospekte (4) nicht den richtigen Firmennamen trugen. Unter diesen Umständen ist fraglich, ob Exemplare dieses Propekts nach dem 30. September 1977 an Mitglieder der Öffentlichkeit verteilt wurden oder noch erhältlich waren. Ferner hat die Beschwerdegegnerin keinen Beweis dafür erbracht, daß Exemplare des Prospekts (4) in der relativ kurzen Zeitspanne von Juni 1977 bis September 1977 bestellt und verteilt wurden. In Anbetracht der relativ kurzen Zeit von etwa 4 Monaten kann im vorliegenden Falle durch Abwägung der Wahrscheinlichkeit keine Schlußfolgerung über die Zugänglichkeit bzw. Verteilung des Prospekts (4) gezogen werden. Es ist im Dokument (13) zwar erwähnt, daß die Prospekte (4) auf Papierindustriemessen und Tagungen erhältlich gewesen wären, jedoch wann, wie und auf welcher Papierindustriemesse oder Tagung dies geschehen wäre, wurde selbst nach Befragung der Kammer (vgl. Mitteilung vom 12. Februar 1993) nicht geklärt. In einer solchen Situation wo der Einsprechende (Beschwerdegegnerin) sich auf seinen eigenen Firmenprospekt als Stand der Technik stützt, ohne dessen Zugänglichkeit nachweisen zu können, während diese von der Beschwerdeführerin bestritten wird und die Kammer nicht in der Lage ist, von Amts wegen die Zugänglichkeit des Prospekts festzustellen, muß zu Lasten des Einsprechenden der Prospekt als nicht zum Stand der Technik gehörig angesehen werden (vgl. T 82/90 bereits erwähnt; T 219/83, ABl. EPA 1986, 211).

4.3. Dokument (1) offenbart einen mineralischen Füllstoff, insbesondere natürliches Calciumcarbonat, für Farben und Papierbeschichtungsmassen, der keine oder möglichst wenig, jedenfalls höchstens 15 Gew.-% an Teilchen kleiner als 0,2 µm (Äquivalentdurchmesser bestimmt mittels Sedimentationsanalyse im Fliehkraftfeld) enthält (vgl. Seite 1, Zeilen 3 - 4 und 52 - 57; Seite 2, Zeile 21; Seite 5, Anspruch 1). Gemäß Dokument (1) führt dieser mineralische Füllstoff bei der Verwendung in Papierbeschichtungsmassen oder in Farben und Lacken zu guten Ergebnissen, insbesondere gutem Glanz, wenn der Anteil an Teilchen kleiner als 0,2 µm 3 bis 12 Gew.-% beträgt. Ferner erfährt der Fachmann aus diesem Dokument, daß nicht nur der Anteil an Teilchen kleiner als 0,2 µm sondern auch der Anteil an Teilchen kleiner als 1 µm (Äquivalentdurchmesser wie oben) die Eigenschaften der Papierstreichfarbe, insbesondere den Glanz, stark beeinflußt und somit für das Erzielen der gewünschten Ergebnisse auch eine wichtige Rolle spielt (siehe Beispiel 2). Demgemäß lehrt Dokument (1), daß die bevorzugten Füllstoffe zugleich zwei Bedingungen erfüllen, nämlich deren Anteil an Teilchen kleiner als 0,2 µm beträgt vorzugsweise 3 - 12 Gew.-% oder bis 8 Gew.-% und sie enthalten 80 - 95 Gew.-% (Vorzugsbereich) an Teilchen kleiner als 1 µm: vgl. Seite 1, Zeile 60 bis Seite 2, Zeile 4; Ansprüche 1, 2, 3 und 5.

Daraus folgt, daß das Dokument (1) nicht nur die Produkte B, C, D und E der erfindungsgemäßen Ausführungsbeispiele offenbart sondern u. a. auch ein Produkt, dessen durch Sedimentationsanalyse im Fliehkraftfeld bestimmte Korngrößenverteilung einen Anteil an Teilchen kleiner als 1 µm von 95 Gew.-% und einen Anteil an Teilchen kleiner als 0,2 µm von 12 Gew.-% aufweist (vgl. Grenzwerte der erwähnten Vorzugsbereiche). Somit beträgt das errechnete Verhältnis Gew.-% Teilchen < 1 µm / Gew.-% Teilchen < 0,2 µm, d. h. der genannte R-Wert, 95:12 = 7,9. Dieser errechnete R-Wert liegt in dem beanspruchten Bereich R = 4 - 8 gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags und zerstört daher die Neuheit dieses Bereichs. Gleichzeitig erfüllt dieses Produkt ebenfalls die zweite Bedingung des Anspruchs 1, nämlich daß mindestens 93 Gew.-% der Teilchen kleiner als 2 µm sind; denn ein Produkt mit einem Anteil an Teilchen kleiner als 1 µm von 95 Gew.-% weist zwangsläufig entweder über 95 Gew.-% Teilchen < 2 µm auf, oder 95 Gew.-% Teilchen < 2 µm je nachdem ob es Teilchen mit Äquivalentdurchmesser im Bereich 1 µm - < 2 µm enthält oder nicht. Beide Alternativen liegen in dem im Anspruch 1 definierten Bereich von 93 - 100 Gew.-% der Teilchen < 2 µm. Daraus ergibt sich, daß das in Dokument (1) offenbarte Produkt, dessen Anteil an Teilchen < 1 µm und an Teilchen < 0,2 µm 95 Gew.-% bzw. 12 Gew.-% betragen, die Neuheit der im Anspruch definierten Füllstoffe zerstört. Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag genügt daher den Voraussetzungen des Artikels 52 (1) und 54 nicht.

5. Hilfsantrag 1

5.1. Die geänderten Ansprüche 1 und 2 erfüllen die Vorschriften des Artikels 123 (2) und 123 (3). Der Anspruch 1 stützt sich auf die ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 bis 3 und die ursprüngliche Beschreibung, Seite 5, Zeilen 10 - 14 und Tabelle I, Produkt Nr. 3; Seite 8, Tabelle III, Produkte Nr. 3 und 4 hinsichtlich der Einschränkung der R-Werte auf den Bereich 4 - 5. Das Merkmal wonach «mindestens 93 Gew.-% der Teilchen kleiner als 2 µm sind» ist in Verbindung mit einem R-Bereich von 4 - 5 in den Tabellen I und III und auf Seite 4, Zeilen 34 - 35 offenbart.Die Verwendung der Füllstoffe für Farben und Papierbeschichtungsmassen findet eine Stütze z. B. auf Seite 9, Zeilen 15 - 18, der ursprünglichen Beschreibung. Der im Anspruch 2 angegebene R-Wert "in der Nähe von 5" ist wörtlich auf Seite 5, Zeile 11, der Beschreibung erwähnt. Der Schutzbereich der geänderten Ansprüche ist gegenüber dem des erteilten Anspruchs 1 durch die Einschränkung auf einen Bereich R = 4 - 5 eindeutig eingeschränkt.

5.2. Neuheit

5.2.1. Die im Dokument (1) bevorzugten Bereiche für die Anteile an Teilchen < 1 µm und an Teilchen < 0,2 µm, nämlich 80 - 95 Gew.-% bzw. 3 - 12 Gew.-% oder bis 8 Gew.-% (vgl. Punkt 4.3 oben) ergeben durch in Beziehung setzen der Grenzwerte folgende Werte für das errechnete Verhältnis Gew.-% Teilchen < 1 µm / Gew.-% Teilchen < 0,2 µm: 80 : 12 = 6,7; 95 : 12 = 7,9; 80 : 3 = 26,7; 95 : 3 = 31,6; 80 : 8 = 10; 95 : 8 = 11,9. Diese errechneten Werte und die daraus resultierenden Bereiche für das Verhältnis R, nämlich R = 6,7 bis 31.6 und R = 8 bis œ, liegen eindeutig außerhalb des beanspruchten Bereichs R = 4 - 5 gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrags 1. Die Produkte B, C, D und E in den erfindungsgemäßen Ausführungsbeispielen des Dokuments (1) weisen ein berechnetes Verhältnis R von 13; 9,7; 9,4 bzw. 10,0 auf, d. h. Werte die relativ weit entfernt von dem beanspruchten Bereich R = 4 - 5 liegen. Die im Dokument (1) weiteren offenbarten Produkte A; F und G enthalten mehr als 15 Gew.-% an Teilchen < 0,2 µm, nämlich 17 bzw. 25 und 35 Gew.-%, und stellen folglich keine erfindungsgemäße Beispiele, sondern Vergleichsbeispiele dar. Aus den in diesen Vergleichsbeispielen angegebenen Anteilen an Teilchen < 1 µm und an Teilchen < 0,2 µm ergeben sich für die Produkte A, F und G die berechnete R-Werte 3,1 bzw. 3,6 und 2,6. Diese Werte liegen ebenfalls außerhalb des beanspruchten Bereichs von R = 4 - 5 gemäß Hilfsantrag 1.

Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, daß die im Punkt 7.4 der Entscheidung T 17/85 (ABl. EPÜ 1986, 406) erwähnten Bedingungen, die zur Zerstörung der Neuheit führten, im vorliegenden Falle in dem ein Bereich von R = 4 - 5 beansprucht wird nicht vorliegen.

5.2.2. In bezug auf die Berücksichtigung von Fehlergrenzen und Unsicherheitsfaktoren in der angefochtenen Entscheidung (vgl. den vorstehenden Punkt III) hat die Beschwerdeführerin u. a. vorgetragen, daß die Einführung von Fehlergrenzen keinesfalls mit den für die Neuheit üblicherweise angelegten Maßstäben vereinbar sei und folglich ausgeschlossen werden sollte.

Die Frage, ob Meßunsicherheiten und Fehlergrenzen in Verbindung mit der Angabe von Parametern bzw. physikalischen Größen für die Beurteilung der Neuheit berücksichtigt werden sollen, ist in den Entscheidungen T 215/87 und T 93/83 (im ABl. EPA nicht veröffentlicht) der Beschwerdekammer bereits erörtert worden. In T 215/87 wurden Meßunsicherheiten in bezug auf die Bestimmung der Oberfläche nach der BET-Methode für die Beurteilung der Neuheit in Betracht gezogen. In diesem Fall war in der Entgegenhaltung nicht nur der punktuelle Wert von 150 m2/g sondern auch die Meßunsicherheit in der Form 150 ± 30 m2/g angegeben. Aus der Entscheidung T 93/83 (Punkt 4.5) geht hervor, daß die mit der Bestimmung der mechanischen Eigenschaften verbundene Standardabweichung in diesem Fall für die Beurteilung der Neuheit von Bedeutung war. Somit wurde die Berücksichtigung von Meßunsicherheiten als in Übereinstimmung mit den für die Neuheit üblicherweise angelegten Maßstäben angesehen.

Nach Auffassung der Kammer hängt die Frage der Berücksichtigung von Meßunsicherheiten oder Fehlergrenzen bei der Beurteilung der Neuheit eines Falles unter anderem davon ab, ob die Entgegenhaltung Angaben über die Meßunsicherheit bezüglich der Bestimmung des betroffenen Parameters enthält, oder ob diese Meßunsicherheit dem Fachmann bekannt ist.

Im vorliegenden Fall offenbart Dokument (1) ein Produkt F (natürliches Calciumcarbonat), das 90 Gew.-% an Teilchen < 1 µm und 25 Gew.-% an Teilchen < 0,2 µm enthält, wobei die gröbsten Teilchen einen maximalen Querschnitt von 2 µm aufweisen. Daraus ergibt sich der berechnete R-Wert von 90 : 25 = 3,6, der knapp außerhalb des beanspruchten Bereiches R = 4 - 5 liegt. In Dokument (1) wird aber keinerlei Hinweis über die mit der Bestimmung der Partikelgrößenverteilung gekoppelte Meßunsicherheit angegeben, so daß der vorliegende Fall bereits aus diesem Grunde anders gelagert ist, als in der Entscheidung T 215/87. Die Berücksichtigung der Meßunsicherheiten bezüglich der Anteile an Teilchen < 1 µm und an Teilchen < 0,2 µm setzt jedoch voraus, daß diese Meßunsicherheiten dem Fachmann bekannt sind, falls Dokument (1) keinen Hinweis darüber enthält. Im Laufe des Einspruchsverfahrens wurden bezüglich der Messung der Partikelgrößenverteilung mit der Joyce-Loebl- Scheibenzentrifuge «Absolutwert-Abweichungen» von ± 1 % für den Anteil an Teilchen < 1 µm und ± 1,5 % für die Teilchen < 0,2 µm erwähnt (vgl. Brief der Beschwerdeführerin vom 4. Januar 1990), wogegen in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung angenommen wurde, daß «die Fehlergrenze bei der Korngröße ca. 1 % der %-Menge des jeweiligen Schnittes betrug» (vgl. angefochtene Entscheidung) und im Beschwerdeverfahren von einer «Toleranz von ± 0,6 %» oder einer « Fehlergrenze von z. B. 0,6 % mit der Scheibenzentrifuge» die Rede ist (vgl. Brief der Beschwerdeführerin vom 3. November 1992). Auf Basis dieser unterschiedlichen nicht mit einander übereinstimmenden Hinweise und ohne klare und präzisere Angaben über die tatsächliche Meßunsicherheit kann ebenfalls kein präziser Unsicherheitsfaktor für den Quotienten R berechnet werden. In diesem Zusammenhang wird im übrigen darauf hingewiesen, daß die Kammer in der auf Seite 8 der angefochtenen Entscheidung erwähnten Formel keine im Gebiet der Fehlerrechnung bzw. Fehlerverpflanzung bekannte Formel erkennen kann. Unter diesen Umständen und in Abwesenheit von überzeugendem Beweismittel bzw. übereinstimmenden Angaben darüber, welche Meßunsicherheit der Messung der Partikelgröße von Calciumcarbonat durch Sedimentationsanalyse im Fliehkraftfeld üblicherweise zugeordnet wird und wie diese Meßunsicherheit sich auf das Verhältnis R auswirkt, kann sich die Kammer den Ausführungen zur Fehlerrechnung in der angefochtenen Entscheidung nicht anschließen und infolgedessen kann der für das Produkt F berechnete R- Wert von 3,6 nicht als neuheitsschädlich für den beanspruchten Bereich von R = 4 - 5 angesehen werden.

5.2.3. Aus alledem folgt, daß ein mineralischer Füllstoff mit einem R-Verhältnis von R = 4 - 5 im Dokument (1) nicht offenbart ist. In den anderen im Einspruchsverfahren zitierten und zum Stand der Technik gehörigen Dokumenten ist ein Füllstoff mit einem R-Verhältnis in dem Bereich 4 - 5 ebenfalls nicht beschrieben. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 1 neu.

5.3. Die Frage des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens einer erfinderischen Tätigkeit ist hinsichtlich des Hilfsantrags 1 noch nicht geprüft worden. Die Akte enthält derzeit keine Angaben, aus denen entnommen werden könnte, welche Eigenschaften gegenüber den Füllstoffen gemäß dem nächstliegenden Stand der Technik - Dokument (1) - durch die beanspruchten Maßnahmen verbessert bzw. optimiert worden sind. Diesbezüglich wird darauf hingewiesen, daß die in Dokument (1) berichteten Glanzwerte für die Produkte E, D oder F nicht unmittelbar mit den im Streitpatent erwähnten Glanzwerten verglichen werden können, da andere Versuchsbedingungen verwendet wurden. Des weiteren wurden die Vergleichsbeispiele des Streitpatents mit Produkten durchgeführt, die hinsichtlich der Anteile an Teilchen < 1 µm und an Teilchen < 0,2 µm nicht den Produkten E, D oder F entsprechen. Daher ist noch unklar, welche Aufgabe gegenüber (1) tatsächlich gelöst worden ist. Unter diesen Umständen hält die Kammer es für nicht angezeigt, die Frage der erfinderischen Tätigkeit zu untersuchen und macht von ihrer Befugnis nach Art. 111 (1) EPÜ Gebrauch, die Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur Fortsetzung des Verfahrens auf der Grundlage des Hilfsantrags 1 an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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