European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1993:T053790.19930420 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 20 April 1993 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0537/90 | ||||||||
Anmeldenummer: | 84890127.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | C21D 9/52 B21B 45/02 C22C 38/06 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | B | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zur Herstellung von Walzdraht mit guter Kaltverformbarkeit | ||||||||
Name des Anmelders: | VOEST-ALPINE Aktiengesellschaft | ||||||||
Name des Einsprechenden: | I. Saarstahl AG II. Thyssen Stahl AG III. SMS Schloemann-Siemag AG |
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Kammer: | 3.2.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit (nein) Ergebnis zielgerichteten fachmännischen Handelns Inventive step (no) - general technical knowledge |
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Orientierungssatz: |
In einem relativ kurzen Zeitraum gehäufte Veröffentlichungen von Tagungs- und Forschungsberichten in einschlägigen Fachzeitschriften über in einer im Durchbruch befindlichen Technik gewonnene Erkenntnisse können das zu dieser Zeit allgemein präsente Fachwissen wiedergeben (s. Punkt 2.2) (im Anschluß an T 292/85, Ziff. 3.4.3, ABl. EPA 1989, 275). |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Auf den Gegenstand der am 10. Juli 1984 eingereichten europäischen Patentanmeldung 84 890 127.8 ist am 30. Dezember 1986 das vier Patentansprüche umfassende europäische Patent 0 132 252 erteilt worden, dessen unabhängige Ansprüche 1 und 2 wie folgt lauten:
"1. Verfahren zur Herstellung von Walzdraht mit guter Kaltverformbarkeit, bei welchem für weiche Ziehgüten ein Draht aus einem Stahl der Zusammensetzung
0.003 bis 0,20 Gew.-% C
0,001 bis 0,40 Gew.-% Si
0,15 bis 0,65 Gew.-% Mn
0,001 bis 0,1 Gew.-% Al
0,001 bis 0,035 Gew.-% P
0,001 bis 0,035 Gew.-% S
und gegebenenfalls
0,001 bis 1,5 Gew.-% Cr
0,001 bis 2,0 Gew.-% Ni
0,001 bis 2,5 Gew.-% Mo
0,001 bis 0,5 Gew.-% V
0,001 bis 0,5 Gew.-% Ti
0,0001 bis 0,03 Gew.-% B
0,001 bis 0,5 Gew.-% Zr
Rest Eisen und übliche Verunreinigungen ausgehend von einer Endwalztemperatur von 950 bis 1100 °C zunächst einer Wasser- und Luftabkühlung bis zur Erzielung einer Temperatur von über 900 °C bis 1050 °C unterworfen wird und anschließend ausgefächert und langsam mit einer Geschwindigkeit von weniger als 4 °C/s auf Temperaturen von 200 bis 350 °C abgekühlt wird.
2. Verfahren zur Herstellung von Walzdraht mit guter Kaltverformbarkeit, bei welchem zur Erzielung von Draht mit guten Kaltstaucheigenschaften ein Draht aus einem Stahl der Zusammensetzung
0.04 bis 0,5 Gew.-% C
0,01 bis 0,4 Gew.-% Si
0,15 bis 1,5 Gew.-% Mn
0,001 bis 1,0 Gew.-% Cr
0,001 bis 1,5 Gew.-% Ni
0,001 bis 0,5 Gew.-% Mo
0,001 bis 0,5 Gew.-% V
0,001 bis 0,1 Gew.-% Al
0,001 bis 0,03 Gew.-% B
0,0001 bis 0,045 Gew.-% P
0,0001 bis 0,045 Gew.-% S
Rest Eisen und übliche Verunreinigungen ausgehend von einer Endwalztemperatur von 950 bis 1100 °C zunächst einer Wasser- und Luftkühlung bis zur Erzielung einer Legetemperatur von 850 bis 950 °C unterworfen wird und anschließend ausgefächert und langsam mit einer Geschwindigkeit von etwa 4 °C/s auf <300 °C abgekühlt wird."
Die abhängigen Ansprüche 3 und 4 geben eingeschränkte Vorschriften für in den Ansprüchen 1 und 2 angegebene Verfahrensparameter wieder.
II. Gegen das erteilte Patent wurden drei Einsprüche, erkennbar auf der Grundlage von Artikel 100 a) EPÜ, eingelegt.
Die Einsprüche stützten sich dabei unter anderem auf die Druckschriften (5) Wire Journal International, April 1982, Seiten 70 bis 80,
(6) Nippon Steel Technical Report, Nr. 21, Juni 1983, Seiten 203 bis 215,
(7) Wire Industry 49, 1982, Seiten 510 bis 515,
(9) DE-A-1 608 387 und
(11) DIN 17140 (Dezember 1962), Seiten 171 bis 173.
III. Die Einspruchsabteilung hat am Ende der mündlichen Verhandlung vom 23. März 1990 die Zurückweisung der Einsprüche verkündet. Die schriftliche Begründung dieser Entscheidung wurde am 28. Mai 1990 zur Post gegeben.
Die Entscheidung wird unter anderem damit begründet, daß die Figur 5 der Druckschrift (6) zwar Legetemperaturen von über 900 °C zeige, jedoch keine konkrete Stahlzusammensetzung angegeben sei, auf die sich dieses Beispiel beziehe. Die übrigen Varianten, die in der Druckschrift (6) beschrieben seien, wiesen Stahlzusammensetzungen auf, wie sie gemäß Streitpatent ausgeschlossen seien, oder beschrieben Legetemperaturen, die unter der des Streitpatents lägen. Darüber hinaus habe die Druckschrift (6) ein Vorurteil gegen hohe Legetemperaturen begründet, da dort geraten werde, diesen Temperaturbereich wegen zu hoher Verzunderung schnell zu durchlaufen.
IV. Gegen diese Entscheidung sind am 4. Juli 1990 bzw. am 24. Juli 1990, unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr, zwei Beschwerden von der Einsprechenden III (Beschwerdeführerin I) und von der Einsprechenden II (Beschwerdeführerin II) erhoben worden. Die Beschwerdebegründungen gingen am 14. September 1990 und am 26. September 1990 ein.
Die Beschwerdeführerin II zitierte in einer "Anlage B" zu ihrer Beschwerdebegründung unter anderen die folgenden Druckschriften neu:
(B4) Revue de Métallurgie, Oktober 1979, Seiten 675 bis 694,
(B5) Wire Journal, September 1980, Seiten 156 bis 161,
(B6) Iron and Steel Engineer, Mai 1982, Seiten 46 bis 48, und
(B7) Stahl und Eisen, Band 98 (1978), Seiten 11 bis 17.
V. Beide Beschwerdeführerinnen betonten in ihrem schriftlichen Vortrag als auch während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 20. April 1993, das Stelmor- Verfahren sei dem Fachmann vor dem Prioritätstag des Streitpatents als ein einheitliches technisches Konzept für die Behandlung von Walzdraht in den verschiedensten Varianten bekannt gewesen und sei sowohl für niedrig - wie für hochkohlenstoffhaltige Stahlsorten anwendbar. Dieses bekannte Konzept biete durch Wahl der Legetemperatur und Steuerung der Abkühlungsgeschwindigkeit die Möglichkeit, den Walzdraht bezüglich des Gefüges und der mechanischen Eigenschaften den jeweiligen Erfordernissen der Weiterverarbeitung anzupassen. Die zahlreichen im Verfahren genannten Druckschriften seien deshalb nicht unabhängig voneinander zu sehen, sondern hätten vielmehr den Charakter einer dokumentarischen Zusammenfassung des vor dem Prioritätstag des Streitpatents in der Fachwelt allgemein präsenten Wissens über das Stelmor-Verfahren dar.
Innerhalb dieses Rahmens sah die Beschwerdeführerin I den Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 1, ausgehend von der Druckschrift (B6), durch die Druckschriften (B4) und (B7) als nahegelegt an. Die Beschwerdeführerin II kam, ausgehend von der Druckschrift (6), aufgrund der Druckschriften (7), (B4), (5) und (11) zu dem gleichen Ergebnis.
Nach Ansicht beider Beschwerdeführerinnen beruhte der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 2 aufgrund des durch die Druckschriften (6), (5) und (B6) dokumentierten Fachwissens nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
VI. Die schriftlich sowie in der mündlichen Verhandlung vom 20. April 1993 vorgetragenen Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Es werde nicht bestritten, daß sich das komplexe Verfahren gemäß Streitpatent nach seiner Kenntnis durch ex post Analyse wissenschaftlich erklären lasse. Es bestehe jedoch kein Zweifel, daß aus keiner der von den Beschwerdeführerinnen genannten Druckschriften für sich gesehen der Gegenstand des Streitpatents als bekannt habe nachgewiesen werden können. Auch reichten einfache Kombinationen aus den genannten Literaturstellen nicht aus, um zur patentierten Lehre zu gelangen. Es sei aber nicht zulässig, aus einer mosaikartigen Zusammenschau von mehr als zwei Druckschriften Beweisanzeichen für fehlende erfinderische Tätigkeit abzuleiten.
Im übrigen verkörperten die Druckschriften (6) und (B6) eine Ansammlung im Labormaßstab gewonnenen Lehrbuchwissens. So seien z. B. die in der Druckschrift (6) angeführten ZTU-Schaubilder durch Erwärmung auf Haltetemperatur gewonnen worden und könnten somit nicht auf die Lehre des Streitpatents angewandt werden, das sich mit der kontrollierten Abkühlung aus der Walzhitze befasse. Wie sich aus der Zusammenfassung der Druckschrift (B6) ergebe, befasse sich ihre Lehre mit der Erzeugung einer feineren Kornstruktur, wogegen die Lehre des Streitpatents ein gröberes Korn anstrebe.
Darüber hinaus werde in der Druckschrift (7) von zu hohen Legetemperaturen abgeraten.
Die Erfindung sei in der Anwendung eines gezielt angepaßten Verfahrens auf einen ausgewählten Kreis von Legierungen zu sehen, die unbestritten für sich gesehen, zur Herstellung von Walzdraht, z. B. aus Normen (Druckschrift (11)), bekannt gewesen seien.
VII. Die Beschwerdeführerinnen beantragen übereinstimmend, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise unter Zurückweisung der Beschwerde im übrigen das Patent auf der Grundlage der erteilten Ansprüche 2 und 3, die in 1 und 2 umnumeriert werden, aufrechtzuerhalten, wobei das Wort "oder" sowie die Ziffer "2" in dem neuen Anspruch 1, erste Zeile, zu streichen sind.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Stand der Technik und Hintergrundwissen
2.1. Die kontrollierte Abkühlung von Walzdraht aus der Walzhitze setzte sich, ab ihrer ersten kommerziellen Anwendung in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, als wirtschaftliches Verfahren mit zunehmender Intensität zur Konditionierung für eine Weiterverarbeitung, insbesondere auch für eine nachfolgende Kaltverformung wie Ziehen oder Stauchen, durch. Eines der nach diesem Prinzip arbeitenden Verfahren ist das sogenannte Stelmor-Verfahren, das zum ersten Mal 1964 betrieblich eingesetzt wurde (vgl. B6, S. 46, 1. Absatz). Die Zahl der Installationen von nach diesem Prinzip arbeitenden Anlagen nahm insbesondere ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu (vgl. (B6), Seite 47, Tabelle I), nachdem die Weiterentwicklung (Retarded Stelmor) der ursprünglichen Standardausführung eine verzögerte Abkühlung der ausgefächerten Drahtschlingen ermöglichte. Damit war es möglich, die Abkühlgeschwindigkeit zwischen 1 °C und 10 °C frei zu wählen und somit eine breite Palette von Stahlsorten zu behandeln und in ihnen jeweils die Gefügestruktur einzustellen, die die für die jeweils vorgesehene Weiterverarbeitung günstigste Eigenschaftskombination aufweist (vgl. Druckschrift (B6), Seite 48, Summary).
2.2. Die erhöhte Frequenz von Installationen in Werken der ganzen Welt in dem oben angegebenen Zeitraum führte zu einer gleichzeitigen Häufung von Tagungsberichten und Veröffentlichungen in den einschlägigen Fachzeitschriften, in denen Produktions- und Forschungsabteilungen der jeweiligen Werke ihre neu gewonnenen Erkenntnisse aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchten und oder zusammenfassen. Die oben angeführten Druckschriften (5), (6), (7), (9), (11) und (B4), (B5), (B6) und (B7) sind Beispiele für solche Veröffentlichungen. Die Kammer geht daher davon aus, daß diese Druckschriften einen Auszug aus dem vor dem Anmeldetag in der einschlägigen Fachwelt vorhandenen, von den verschiedenen Firmen gewonnenen, allgemeinen Fachwissen darstellen. Der Umstand, daß viele dieser Erkenntnisse im Labormaßstab und nicht auf Produktionsanlagen gewonnen wurden, entspricht einer aus Kostengründen üblichen Vorgehensweise in der Produktionsforschung und ist kein Anzeichen für deren Praxisferne. Vielmehr ist die Tatsache, daß die Autoren dieser Druckschriften aus der Industrieforschung stammen, ein Zeichen dafür, daß alle Untersuchungen von Beginn an im Hinblick auf eine Umsetzung in die industrielle Praxis erfolgten.
Somit geht auch der eine unzulässige mosaikartige Rückschau betreffende Einwand der Beschwerdegegnerin fehl.
Vor dem Prioritätstag des Streitpatents stand der Fachwelt somit unter anderem folgendes Hintergrundwissen zur Verfügung:
Eine der Hauptanwendungen aller Verfahren, die ein gesteuertes Abkühlen von Walzdraht aus der Schmelze erlauben, und damit auch des Stelmor-Verfahrens, ist es, in dem warmgewalzten Draht einen weichen Gefügezustand einzustellen, der es erlaubt, den Draht ohne weitere Wärmebehandlung, durch Kaltverformung, z. B. durch Ziehen oder Stauchen, in die gewünschte Zielform zu bringen.
Bei Walzdraht aus den dafür gebräuchlichen Kohlenstoffstählen, wie sie z. B. in Deutschland in DIN 17 140 (Druckschrift 11) definiert sind, gilt es, dabei ein Gefüge einzustellen, daß ausschließlich aus Ferrit und Perlit besteht und keine Anteile an Martensit und Zwischenstufengefüge, wie Bainit, enthält. Es gilt also, die Abkühlung so zu führen, daß sie im ZTU-Schaubild der jeweiligen Stahllegierung, unter Vermeidung der sogenannten Bainitnase, unmittelbar in den Ferrit & Perlit-Bereich führt. Dabei ist die Abkühlungsrate so gering zu wählen, daß vor Erreichen der Ms-Tmperatur kein Restaustenit mehr vorhanden ist, um eine Martensitbildung auszuschließen (vgl. z. B. Druckschrift (9), Figur 1).
Zum präsenten Hintergrundwissen des Fachmannes gehört auch, daß ein Gefüge eine umso geringere Festigkeit hat, also umso weicher ist, je gröber sein Korn ist. Ferner ist es allgemein bekannt, daß das Ferritkorn umso gröber ist, je gröber das Austenitkorn war, aus dem es entstanden ist (vgl. z. B. Druckschrift (B5), Seite 160, linke Spalte, oder Druckschrift (7), Seite 511, 3. Absatz). Die Größe des Austenitkorns ist jedoch unter anderem abhängig von der Rekristallisationsdauer, während der das austenitische warmverformte Gefüge nach dem Warmverformen im Austenitbereich verweilt, bevor es sich umwandelt.
Eine hohe Ausfächertemperatur, und das dadurch erzielte grobe Austenitkorn wird jedoch mit dem Nachteil erkauft, daß der Austenit stabilisiert wird, d. h. daß die Umwandlung in Ferrit/Perlit träger verläuft (vgl. (7), Seite 511, dritter Absatz, letzter Satz). Ferner kann sich dadurch die kritische Abkühlungsgeschwindigkeit für die Martensitbildung verändern ((6), der die Seiten 207 und 208 verbindende Absatz).
3. Neuheit
Keine der im Verfahren genannten Druckschriften offenbart eindeutig und unmittelbar die Gesamtkombination der Merkmale der unabhängigen Ansprüche 1 und 2 nach dem Hauptantrag, bzw. des Anspruchs 1 nach dem Hilfsantrag. Der Gegenstand dieser Ansprüche ist somit, von allen Parteien unbestritten, neu.
3. Nächstkommender Stand der Technik
Die Kammer geht von der Druckschrift (B6) als dem Stand der Technik aus, der den Gegenständen der Ansprüche 1 und 2 nach dem Hauptantrag bzw. des Anspruchs 1 nach dem Hilfsantrag am nächsten kommt.
Diese Druckschrift offenbart ein Verfahren zur Herstellung von Walzdraht mit guter Kaltverformbarkeit (vgl. Seite 47, Paragraph "Low carbon steel", und Seite 48, Figur 5), bei dem ein Walzdraht aus einem Stahl mit einer Zusammensetzung nach den US-Normen 1006 oder 1010 sowohl der Abkühlung nach dem Standard Stelmor Verfahren als auch der verzögerten Abkühlung nach dem Retarded Stelmor Verfahren unterworfen wird.
Darüber hinaus ist es aus (B6) bekannt, daß Walzdraht aus Stählen mit mittlerem Kohlenstoffgehalt zur Herstellung von (kaltgestauchten) Befestigungselementen eingesetzt wird (Seiten 47/48, Paragraph "Medium carbon steel"). Dabei ist die Zugfestigkeit 10 bis 15 % niedriger bei einem Walzdraht, der der verzögerten Abkühlung nach dem Retarded Stelmor Verfahren unterworfen wurde, als bei einem der auf einer Standard Stelmor Linie behandelt wurde.
Während die Abkühlungsgeschwindigkeiten bei dem Standard Stelmor Verfahren, angewandt auf einen 5,5 mm starken Walzdraht, zwischen 4,4 bis 10 °C/s wählbar sind (Seite 46, linke Spalte, 4. Absatz), ist bei der verzögerten Version dieses Verfahrens für diese Drahtstärke die Geschwindigkeit auch zwischen 1,1 und 4,4 °C/s einstellbar (Seite 46, linke Spalte, 5. Absatz). Aus Figur 5 ist ersichtlich, daß die niedrigeren Abkühlungsgeschwindigkeiten des Retarded Stelmor Verfahrens bei diesen niedrig gekohlten Stählen zu einer niedrigeren Festigkeit, also einem weicheren Material, führen. Die Ausfächertemperaturen reichen von 760 bis 955 °C, wobei die niedrig gekohlten Stähle üblicherweise bei den höheren Temperaturen ausgefächert werden.
Die Kammer sieht sich veranlaßt darauf hinzuweisen, daß die im Absatz "Summary" aufgelisteten Vorteile eine nebengeordnete Aufzählung von durch das Retarded Stelmor Verfahren produzierbaren Eigenschaftskombinationen darstellen. Die Einstellung eines feinkörnigen, festen Gefüges ist somit nur eine dieser Möglichkeiten, die Schaffung eines grobkörnigen, weichen Gefüges eine andere.
4. Aufgabe und Unterschied zum nächsten Stand der Technik
4.1. Es ist von der Beschwerdegegnerin unbestritten, daß die Stahlzusammensetzungen nach den allgemein bekannten US- Normen 1006 und 1010 unter die in Anspruch 1 nach dem Hauptantrag angegebenen Stahlzusammensetzungen fallen. Somit wird der Fachmann, der aus niedrig gekohlten Stählen einen Walzdraht mit möglichst hoher Kaltverformbarkeit herstellen will, den warmgewalzten Draht im oberen Teil des Temperaturbereichs von 760 bis 955 °C, also z. B. bei 900 bis 955 °C, ausfächern und anschließend mit einer in dem Bereich von 4,4 bis 1,1 °C/s gewählten Abkühlungsgeschwindigkeit abkühlen. Die Ausfächertemperaturen von Stahllegierungen mit hoher Härtbarkeit sind demgegenüber tendenziell niedriger anzuordnen.
4.2. Die Druckschrift (B6) ist ein zusammenfassender Fachbericht, in dem naturgemäß viele dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnende Detailangaben fehlen.
Ausgehend von (B6) stellt sich somit die Aufgabe, diese Ergänzungen zu einem vollständigen Verfahren vorzunehmen.
4.3. Der Gegenstand des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag unterscheidet sich somit von diesem Stand der Technik durch die Angaben, daß
- die Endwalztemperatur im Bereich von 950 bis 1100 °C gewählt werden soll und daß
- die verzögerte Abkühlung bis in den Temperaturbereich von 200 bis 350 °C geführt werden soll.
4.4. Der Anspruch 2 nach dem Hauptantrag, und der damit identische Anspruch 1 nach dem Hilfsantrag, enthält unter anderem die Angabe, daß die unteren Grenzen für die Gehalte von Chrom, Nickel, Molybdän und Vanadium jeweils 0,001 Gew.-% sein sollen. Diese Untergrenze ist damit in einer Größenordnung angesiedelt, in der diese Elemente zu den in Stählen dieser Art üblichen Verunreinigungen zählen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Stahl unter Schrottzugabe erschmolzen wurde. Somit ist der Anspruch dahingehend auszulegen, daß die Elemente Chrom, Nickel, Molybdän und Vanadium als Wahlkomponenten anzusehen sind. Diese Interpretation ist auch durch das diesen Anspruch betreffende Beispiel 2 der Beschreibung gestützt, da die dort behandelte Legierung diese Elemente nicht enthält.
Der Gegenstand dieses Anspruchs unterscheidet sich somit von dem nächstkommenden Stand der Technik durch die Angaben, daß
- der niedrig bis mittel kohlenstoffhaltige Stahl 0,0001 bis 0,045 Gew.-% Bor enthält;
- die Endwalztemperatur im Temperaturbereich von 950 bis 1100 °C und
- die verzögerte Abkühlung mit etwa 4 °C/s bis auf Temperaturen von <300 °C erfolgen soll.
4.5. Die in den Punkten 4.3. und 4.4. aufgeführten unterscheidenden Angaben lösen die in Punkt 4.2 dargestellte Aufgabe.
5. Erfinderische Tätigkeit
5.1. Unter Punkt 4.1. ist näher ausgeführt, daß die Druckschrift (B6) die Lehre vermittelt, daß weiche, also besser kaltverformbare Güten bei Walzdraht aus niedrig kohlenstoffhaltigem Stahl dann erzielt werden, wenn der Walzdraht bei etwa 900 bis 955 °C ausgefächert wird. Bei den üblichen Stelmor-Anlagen wird der Walzdraht zwischen dem letzten Walzgerüst und dem Legekopf einer mehr oder weniger intensiven Wasserkühlung unterworfen ((B6), Seite 46, linke Spalte, dritter Absatz; (B4), Seite 676, Figur 1; (6), Seite 208, Figur 5). Je nach Intensität dieser Wasserkühlung ergibt sich zwangsläufig zwischen dem letzten Walzgerüst und dem Legekopf ein Temperaturabfall von mindestens 50 °C (vgl. (B4), Seite 678, Tafel II, Differenz zwischen den Pyrometern A und B; (6), Seite 208. Figur 5). Somit implizieren Ausfächertemperaturen von 900 bis 955 °C Endwalztemperaturen, die mindestens 50 °C höher, also im Rahmen der in den Patentansprüchen des Streitpatents angegebenen Temperaturbereiche liegen.
Aufgrund des unter Punkt 2.2. dargestellten allgemeinen Hintergrundwissens weiß der Fachmann, daß die hohe Legetemperatur zu einem gröberen Austenitkorn führt, das sich wiederum in ein grobes und damit weiches Ferritkorn umwandelt. Er weiß aber auch, daß er deshalb mit einem verzögerten Umwandlungsverhalten rechnen muß und damit die Gefahr der Bainit- und oder Martensitbildung droht. Er wird deshalb die Abkühlungsgeschwindigkeit und die Endtemperatur der verzögerten Abkühlung in dem vom Stelmor Verfahren bereitgestellten Rahmen so wählen, daß die Bildung dieser beiden Phasen ausgeschlossen ist und die Einhaltung dieser Bedingung jeweils am Produkt überprüfen. Dieses routinemäßige und zielgerichtete Vorgehen führt den Fachmann zwangsläufig zu den im den unabhängigen Ansprüchen des Streitpatents angegebenen Raten und Endtemperaturen für die verzögerte Abkühlung.
5.2. Die Kammer kann in dem Hinweis in der Druckschrift (6), Seite 208, rechte Spalte, letzter Absatz, daß eine niedrige Abkühlungsrate zwar wünschenswert sei, um ein weiches Gefüge zu erzielen, jedoch nicht wünschenswert vom Standpunkte dessen, der bestrebt sei, die Zunderbildung zu reduzieren, kein generelles Vorurteil gegen die in Punkt 5.1. dargestellte zielgerichtete Vorgehensweise erblicken. Der Fachmann wird vielmehr dann die durch Zunderbildung bedingten Materialverluste in Kauf nehmen, wenn die gleichzeitig erzielten Vorteile diesen Nachteil überwiegen.
Aus der Druckschrift (B7), Seite 14, eingerückter Punkt 2., ist es jedoch bekannt, daß relative hohe Zunderanteile nach ihrer Entfernung eine rauhe Oberflächenstruktur hinterlassen, die die Schmiermittelaufnahme und damit die Ziehbarkeit verbessern. Genau das ist aber ein Vorteil, der erkennbar die angestrebte Verbesserung der Ziehfähigkeit fördert.
5.3. Da somit der Fachmann, ausgehend von der Druckschrift (B6), durch zielgerichtetes fachmännisches Handeln zum Gegenstand des Anspruchs 1 nach dem Hauptantrag gelangt, beruht dieser nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
5.4. Der mit dem Verfahren nach Anspruch 2 gemäß Hauptantrag bzw. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag hergestellte Warmdraht soll insbesondere gute Kaltstaucheigenschaften besitzen, dient also offensichtlich zur Herstellung von Befestigungsselementen, wie Bolzen u. ä, die nach Erreichen der Endform ausgehärtet werden.
Aus der Druckschrift (B6) ist es bekannt, daß Stähle mit mittleren Kohlenstoffgehalten zur Herstellung von solchen Befestigungselementen eingesetzt werden. Insbesondere die borierten Versionen solcher Stähle, z. B. nach der US- Norm 10B21 oder der britischen Norm BS 3111 (vgl. Druckschrift (5), Seite 70 bis Seite 72, zweiter Absatz) werden aufgrund ihrer verbesserten Härtbarkeit bevorzugt. Die Zusammensetzungen dieser Stähle fallen, von der Beschwerdegegnerin unbestritten, unter die gemäß Anspruch 2 nach Hauptantrag zu behandelnden Zusammensetzungen. Berücksichtigt man den allgemein bekannten Zusammenhang, daß die Härtbarkeit einer groben Gefügeausbildung geringer ist als die einer feineren, so wird der Fachmann, der eine gute Härtbarkeit des Endprodukts anstrebt, tendenziell bei niedrigeren Temperaturen ausfächern und mit höheren Raten abkühlen als dann, wenn er ausschließlich ein möglichst weiches Gefüge mit hoher Ziehfähigkeit anstrebt.
Auch hier ist die Wahl der speziellen Verfahrensparameter das Ergebnis von routinemäßigen Erwägungen, die der Fachmann aufgrund der angestrebten optimalen Eigenschaftskombination des Endprodukts trifft.
5.5. Der Gegenstand des Anspruchs 2 nach dem Hauptantrag, bzw. des Anspruchs 1 nach dem Hilfsantrag, beruht deshalb gleichfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.
6. Sowohl die Patentansprüche nach dem Hauptantrag als auch nach dem Hilfsantrag erfüllen somit eine der Grundvoraussetzungen für eine patentfähige Erfindung gemäß Artikel 52 (1) EPÜ nicht.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.