T 0484/90 (Seilbahn) of 21.10.1991

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1991:T048490.19911021
Datum der Entscheidung: 21 October 1991
Aktenzeichen: T 0484/90
Anmeldenummer: 84400036.4
IPC-Klasse: B61B 7/00
B61B 12/00
Verfahrenssprache: FR
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: Pomagalski
Name des Einsprechenden: Doppelmayr & Sohn
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: Bleibt ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter der mündlichen Verhandlung fern, so verletzt eine ihn beschwerende Entscheidung, die auf neue Beweismittel (z. B. eine Entgegenhaltung) gestützt ist, zu denen er sich nicht äußern konnte, zwangsläufig sein Recht auf rechtliches Gehör (Artikel 113 (1)), es sei denn, der ferngebliebene Beteiligte hat zu verstehen gegeben, daß er auf die Ausübung dieses Rechts verzichtet.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(1)
European Patent Convention 1973 R 67
European Patent Convention 1973 R 68(1)
European Patent Convention 1973 R 71(2)
Schlagwörter: Entscheidung in der mündlichen Verhandlung auf der Grundlage einer Entgegenhaltung, die dem nicht erschienenen Beteiligten nicht zur Kenntnis gebracht war
Entscheidung verletzt Recht auf rechtliches Gehör (bejaht)
Verzicht auf rechtliches Gehör bei Nichterscheinen (verneint)
Wesentlicher Verfahrensmangel (bejaht)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr auch ohne Antrag (bejaht)
Verpflichtung zur Prüfung eines geänderten Hauptanspruchs, in den der Inhalt eines nicht angefochtenen abhängigen Anspruchs aufgenommen wurde (bejaht)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0696/89
T 0035/92
T 0058/92
T 0927/05

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die am 9. Januar 1984 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 84 400 036.4, die die Priorität einer französischen Patentanmeldung vom 17. Januar 1983 in Anspruch nahm, wurde am 27. August 1986 das europäische Patent Nr. 114 129 erteilt.

II. Am 25. Mai 1987 legte die Beschwerdegegnerin Einspruch gegen das europäische Patent ein und beantragte dessen teilweisen Widerruf. Sie machte mangelnde Patentfähigkeit der in den ersten sieben Ansprüchen des europäischen Patents definierten Erfindung geltend und stützte sich dabei auf eine Vorbenutzung, und zwar den Bau der Seilbahn am Hahnenköpfle in Österreich im Jahre 1978.

Gegen die von Anspruch 1 abhängigen Patentansprüche 8 bis 10 wurden keine Einspruchsgründe vorgebracht.

III. In einer Mitteilung vom 31. Oktober 1989, die der Ladung zur mündlichen Verhandlung nach Regel 71 (1) EPÜ beilag, vertrat die Einspruchsabteilung die Ansicht, daß das Vorbringen der Beschwerdegegnerin nicht ausreiche, um die behauptete Vorbenutzung zu beweisen. Sie ordnete infolgedessen eine Zeugenvernehmung an, die zur selben Zeit wie die für Montag, den 29. Januar 1990 angesetzte mündliche Verhandlung stattfinden sollte.

Drei Tage vor der mündlichen Verhandlung, am Freitag, den 26. Januar 1990, reichte die Beschwerdegegnerin per Telekopie einen Schriftsatz ein, in dem erstmals eine als besonders relevant eingestufte Entgegenhaltung, das Dokument FR-A-2 712 615 (D1), genannt wurde. Diese Patentschrift wird weder in dem in Frage stehenden europäischen Patent noch im europäischen Recherchenbericht erwähnt.

In einer am Montag, den 29. Januar 1990 um 8.35 Uhr eingegangenen Telekopie teilte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) mit, daß sie an der für 9 Uhr desselben Tages angesetzten mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen könne, weil ihr Flug nach München wegen eines Schneesturms abgesagt worden sei.

Infolge der amtsinternen Laufzeiten ging die Telekopie der Beschwerdeführerin der Einspruchsabteilung erst am Tag nach der mündlichen Verhandlung, am Dienstag, den 30. Januar 1990 um 14 Uhr, zu. Die Telekopie der Beschwerdegegnerin, in der die neue französische Entgegenhaltung genannt wurde, traf ebenfalls erst nach der mündlichen Verhandlung bei der Einspruchsabteilung ein.

Am Tag der mündlichen Verhandlung stellte die Einspruchsabteilung fest, daß die ordnungsgemäß geladene Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) nicht erschienen war, und beschloß die Fortsetzung des Verfahrens nach Regel 71 (2) EPÜ.

Die zur selben Zeit wie die mündliche Verhandlung angesetzte Zeugenvernehmung fand nicht statt, da auch die beiden geladenen Zeugen nicht erschienen waren.

Die Beschwerdegegnerin unterbreitete der durch einen rechtskundigen Prüfer ergänzten Einspruchsabteilung (Art. 19 (2) EPÜ) die Entgegenhaltung D1. Obwohl diese erst am Tag der mündlichen Verhandlung, d. h. nach Ablauf der Einspruchsfrist, vorgelegt wurde, beschloß die Einspruchsabteilung, sie wegen ihrer Relevanz nach Maßgabe des Artikels 114 (1) EPÜ zu berücksichtigen.

Am Ende der mündlichen Verhandlung entschied die Einspruchsabteilung, daß das europäische Patent in vollem Umfang zu widerrufen sei, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber der Entgegenhaltung D1 nicht die erforderliche Neuheit aufweise.

Die begründete Entscheidung wurde mit einem am 30. April 1990 aufgegebenen Schreiben zugestellt.

IV. Die Beschwerdeführerin legte am 15. Juni 1990 gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und entrichtete fristgerecht die entsprechende Gebühr. Die Beschwerdebegründung ging am 9. Juli 1990 ein.

In der Anlage zur Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin zwei neue Ansprüche 1 und 2 ein. Der neue Anspruch 1 ist die Zusammenfassung der Ansprüche 1 und 10 des in Frage stehenden europäischen Patents. Der neue Anspruch 2 stimmt inhaltlich mit Anspruch 9 des europäischen Patents überein.

V. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung aufgrund folgender Verfahrensmängel:

Die als dringende Mitteilung gekennzeichnete Telekopie vom 29. Januar 1990, in der darauf hingewiesen worden sei, daß die Beschwerdeführerin nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen könne, sei nicht mit der gebotenen Sorgfalt weitergeleitet worden, so daß die Einspruchsabteilung erst nach der mündlichen Verhandlung davon erfahren habe.

Die Beschwerdeführerin sei ordnungsgemäß geladen worden und habe schriftlich ihre Absicht bekundet, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen (mit Schreiben vom 21. Dezember 1989, in dem sie bat, sich in der Verhandlung auf französisch äußern zu dürfen); deshalb hätte sich die Einspruchsabteilung über ihr Nichterscheinen Gedanken machen und mit einem Anruf bei ihr in Erfahrung bringen müssen, ob sie freiwillig ferngeblieben oder verhindert gewesen sei.

Der Schriftsatz der Beschwerdegegnerin vom 29. Januar 1990 mit dem Hinweis auf das Dokument sei nicht an die Beschwerdeführerin weitergeleitet worden; sie habe von dem Dokument D1 erst in der Entscheidungsbegründung erfahren, die ihr am 30. April 1990, d. h. rund drei Monate nach der mündlichen Verhandlung, zugestellt worden sei.

Ihrer Ansicht nach werde mit der am Ende der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 1990 verkündeten Entscheidung, das Patent zu widerrufen, das ihr nach Artikel 113 (1) EPÜ zustehende Recht auf rechtliches Gehör verletzt und gegen die Richtlinien für die Prüfung E-III, 8.3 verstoßen; darin heißt es:

"Wenn jedoch in der mündlichen Verhandlung wesentliche neue, in der Entscheidung zu berücksichtigende Tatsachen und Beweismittel genannt werden, die eine für den Nichterschienenen überraschende Wendung des Verfahrens mit sich bringen, muß der Nichterschienene sich dazu vor der Entscheidung äußern können."

VI. Die Beschwerdeführerin beantragt außerdem die Aufrechterhaltung des europäischen Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage folgender Unterlagen:

VII. Die Beschwerdegegnerin erwiderte am 23. November 1990 auf die Beschwerdebegründung ...

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und den Regeln 1 (1) und 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.

2. Wie aus dem oben dargelegten Sachverhalt hervorgeht, wurde die Entscheidung, das Patent zu widerrufen, am Ende der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit der Beschwerdeführerin getroffen, ohne daß diese zu der Entgegenhaltung D1, auf die sich die Entscheidung stützt, hätte Stellung nehmen können. Die Beschwerdeführerin konnte vom Dokument D1 erst Kenntnis nehmen, als ihr drei Monate später, am 30. April 1990, die schriftliche und begründete Entscheidung zugestellt worden war.

Die Beschwerdeführerin macht also zu Recht geltend, die Entscheidung der Einspruchsabteilung verstoße gegen den Grundsatz des Artikels 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des Europäischen Patentamts nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Unter "Gründe" im Sinne des Artikels 113 (1) sind nicht nur die in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe zu verstehen, sondern auch Beweismittel, z. B. Druckschriften, auf die sich diese Gründe stützen.

In der Entscheidung J 20/85, ABl. EPA 1987, 102, vertrat die Juristische Beschwerdekammer die Ansicht, der Grundsatz des Artikels 113 (1) EPÜ sei von "größter" Bedeutung, wenn die Gerechtigkeit in Verfahren zwischen dem Europäischen Patentamt und einem Verfahrensbeteiligten gewahrt bleiben solle. Laut dieser Entscheidung dürfe das Europäische Patentamt erst dann zu Ungunsten eines Verfahrensbeteiligten entscheiden, wenn alle Beweismittel, auf die sich die Entscheidung stütze, genannt und dem betreffenden Beteiligten mitgeteilt worden seien.

In der vorliegenden Sache hätte die Einspruchsabteilung am Ende der mündlichen Verhandlung nur dann zu Ungunsten der nichterschienenen Beschwerdeführerin entscheiden dürfen, wenn diese vor der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt hätte, die Entgegenhaltung D1, auf die sich die Entscheidung stützt, einzusehen und dazu Stellung zu nehmen.

3. Die Einspruchsabteilung führte dazu aus, die Entgegenhaltung D1 habe zwar erst am Tag der mündlichen Verhandlung vorgelegen, sei aber von besonderer Bedeutung gewesen; deshalb sei sie verpflichtet gewesen, dieser Tatsache durch die in Artikel 114 (1) EPÜ vorgesehene Ermittlung von Amts wegen Rechnung zu tragen.

In diesem Punkt kann sich die Kammer der Einspruchsabteilung nicht anschließen. Dies hieße nämlich die Tatsache verkennen, daß der Ermittlung von Amts wegen nach Artikel 114 (1), bei der das Amt "weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt" ist, in zweierlei Hinsicht sehr wohl Grenzen gesetzt sind: Zum einen habe sie sich natürlich in dem vom Übereinkommen vorgegebenen Rahmen zu halten, und zum anderen muß jedes dabei herangezogene neue Dokument oder sonstige Beweismittel den Beteiligten nach dem in Artikel 113 (1) EPÜ enthaltenen Grundsatz des rechtlichen Gehörs zur Stellungnahme vorgelegt werden, ein Grundsatz, dem in der obengenannten Entscheidung J 20/85 "größte Bedeutung" zugemessen worden war.

Die Einspruchsabteilung stützte sich in ihrer Begründung auf die Entscheidung T 156/84, ABl. EPA 1988, 372, worin bestätigt werde, daß die Ermittlung von Amts wegen nach Artikel 114 (1) Vorrang habe vor den Bestimmungen des Artikels 114 (2) - wonach das Europäische Patentamt verspätet vorgebrachte Beweismittel unberücksichtigt lassen könne -, weil das EPA gegenüber der Öffentlichkeit verpflichtet sei, Patente nur dann zu erteilen oder aufrechtzuerhalten, wenn es von deren rechtlichem Bestand überzeugt sei. Die Kammer macht sich diese Auslegung des Artikels 114 EPÜ zu eigen, schränkt sie aber wie folgt ein: Reicht einer der Beteiligten ein entscheidungserhebliches Dokument verspätet ein, so ist dieses nach Maßgabe des Artikels 114 (1), jedoch unter Wahrung des rechtlichen Gehörs nach Artikel 113 (1), zu berücksichtigen.

4. In Regel 71 Absatz 2 heißt es: "Ist ein zu einer mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladener Beteiligter vor dem Europäischen Patentamt nicht erschienen, so kann das Verfahren ohne ihn fortgesetzt werden". Da die Beschwerdeführerin ordnungsgemäß geladen worden war, konnte das Verfahren also in der Tat ohne sie fortgesetzt werden. Allerdings unterliegt die in Regel 71 Absatz 2 vorgesehene Möglichkeit, die mündliche Verhandlung ohne die Beschwerdeführerin fortzusetzen und eine sie beschwerende Entscheidung zu verkünden, insofern einer Einschränkung, als - wie oben erläutert - ihr Recht, gehört zu werden, nicht verletzt werden darf.

Diese Einschränkung ist im übrigen in den Richtlinien für die Prüfung E-III, 8.3 (letzter Absatz) ausdrücklich erwähnt. Demnach muß sich der nichterschienene Beteiligte vor der Entscheidung äußern können, wenn in der mündlichen Verhandlung wesentliche neue, in der Entscheidung zu berücksichtigende Tatsachen und Beweismittel genannt werden, die eine für ihn überraschende Wendung des Verfahrens mit sich bringen.

In der vorliegenden Sache bestand das einzige in dem rund drei Jahre dauernden Einspruchsverfahren zur Stützung des Einspruchsgrundes vorgebrachte Beweismittel in einer Vorbenutzung. Am Tag der mündlichen Verhandlung wird nun diese Vorbenutzung nicht mehr geltend gemacht, die geladenen Zeugen erscheinen nicht, und das europäische Patent wird auf der Grundlage eines erst am selben Tag vorgelegten, völlig neuen Dokuments widerrufen.

5. Es handelt sich dabei also wirklich um eine überraschende Wendung, da die Beschwerdeführerin keinerlei Grund zu der Annahme hatte, daß sich die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht auf die behauptete Vorbenutzung stützen würde. Die Tatsache, daß ein Beteiligter überrascht und somit daran gehindert wird, von seinem Recht auf rechtliches Gehör laut Artikel 113 (1) EPÜ Gebrauch zu machen, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar.

6. Sofern ein Verfahrensbeteiligter freiwillig fernbleibt - was in der vorliegenden Sache nicht der Fall ist (siehe Nr. III des Sachverhalts) -, muß er selbstverständlich die sich daraus ergebenden Folgen grundsätzlich hinnehmen. Natürlich sollte aus Gründen der Verfahrensökonomie am Ende der mündlichen Verhandlung möglichst eine Entscheidung ergehen; diese kann durchaus auch mit Tatsachen oder Vorbringen begründet werden, zu denen sich die Beteiligten nur in der mündlichen Verhandlung hätten äußern können, sofern jene auf Beweismitteln beruhen, zu denen der nichterschienene Beteiligte vorher Stellung nehmen konnte.

Mit anderen Worten vertritt die Kammer die Auffassung, daß mit einer Entscheidung, die einen ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladenen, dort aber nicht erschienenen Beteiligten beschwere und auf neue Beweismittel - wie z. B. eine neue Entgegenhaltung - gestützt sei, zu der sich der Beteiligte nicht habe äußern können, zwangsläufig dessen Recht auf rechtliches Gehör verletzt werde, es sei denn, der nicht erschienene Beteiligte hätte zu verstehen gegeben, er verzichte auf dieses Recht; andernfalls müsse das Verfahren schriftlich fortgesetzt oder eine neue mündliche Verhandlung anberaumt werden. So sehe denn auch Regel 68 (1) vor, daß die Entscheidungen in einer mündlichen Verhandlung verkündet werden "können" und nicht müssen.

7. Die Kammer hat außerdem Entscheidungen anderer Beschwerdekammern zu ähnlichen Verfahrensfragen herangezogen und festgestellt, daß ihre Schlußfolgerung diesen Entscheidungen nicht widerspricht.

In dem der (nicht veröffentlichten) Entscheidung T 135/85 vom 24. September 1987 zugrunde liegenden Fall wurde die mündliche Verhandlung ohne die Beschwerdegegnerin fortgesetzt und eine sie beschwerende Entscheidung verkündet. Unter Nr. 4 der Entscheidungsgründe wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Entscheidung nur auf Gründe (mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Beweismittel (Entgegenhaltungen D1 und D3) gestützt war, die bereits in der Beschwerdebegründung angeführt worden waren.

In der Sache der (nicht veröffentlichten) Entscheidung T 186/83 vom 20. August 1985 hatte einer der Beteiligten schriftlich mitgeteilt, daß er der mündlichen Verhandlung nicht beiwohnen werde. Nach Ansicht der Kammer (Nr. 5.2.4 der Entscheidungsgründe) gehe ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter, der freiwillig fernbleibt, das Risiko ein, daß ohne sein Wissen und zur Überzeugung der Kammer neue Argumente vorgebracht werden. Daher habe der freiwillig ferngebliebene Beteiligte keinen Grund, sich benachteiligt zu fühlen.

Wie in der obengenannten Sache T 135/85 wurde auch hier eine gegen den freiwillig ferngebliebenen Beteiligten gerichtete Entscheidung getroffen; diese stützte sich jedoch auf einen Einspruchsgrund (mangelnde erfinderische Tätigkeit) und auf ein Beweismittel, in diesem Fall ein Dokument, das der ferngebliebene Beteiligte bereits zuvor einsehen und zu dem er Stellung nehmen konnte.

In der Sache der (nicht veröffentlichten) Entscheidung T 561/89 vom 29. April 1991 war die Beschwerdeführerin (Einsprechende) nicht zur Verhandlung erschienen; am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung verkündet, daß das Patent auf der Grundlage neuer, in der Verhandlung vorgelegter Ansprüche in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten sei. Auch in diesem Fall war die Entscheidung aber auf einen Einspruchsgrund (mangelnde Patentfähigkeit) und auf Beweismittel (Dokumente) gestützt, zu denen sich der freiwillig ferngebliebene Beteiligte bereits geäußert hatte.

In der noch jüngeren Entscheidung T 574/89 (vom 11. Juli 1991) äußerte die Kammer 3.3.1 in einem Bescheid gemäß Artikel 110 (2) EPÜ Zweifel an der Sachdienlichkeit der von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) durchgeführten Vergleichsversuche. In der Erwiderung der Beschwerdeführerin wurden neue Versuche beschrieben und angekündigt. Die Beschwerdegegnerinnen (Einsprechenden) blieben der mündlichen Verhandlung freiwillig fern; die Ergebnisse der angekündigten Vergleichsversuche wurden dort vorgelegt, und am Ende der mündlichen Verhandlung erging - gestützt auf diese Versuchsergebnisse - die Entscheidung, daß das Patent aufrechtzuerhalten sei.

Die bei der Verhandlung anwesende Partei hatte somit den freiwillig ferngebliebenen Beteiligten rechtzeitig mitgeteilt, auf welche Beweismittel sie ihr Anliegen zu stützen beabsichtigte; die ferngebliebenen Parteien wurden infolgedessen nicht überrascht. Abgesehen davon waren die Beweismittel keineswegs verspätet vorgebracht worden, da sie - wie die Kammer 3.3.1 zu Recht erwähnt - vorgelegt wurden, um einen Einwand der Kammer zu entkräften.

Die Kammer 3.3.1 vertrat allerdings (unter Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe) darüber hinaus die Auffassung, daß eine für eine freiwillig nicht erschienene Partei ungünstige Entscheidung auch dann verkündet werden könne, wenn ihr neue, in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebrachte Beweismittel zugrundegelegt würden.

Die Kammer teilt diese Ansicht nicht: Wie in der Entscheidung G 1/88 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1989, 189 "Schweigen des Einsprechenden/HOECHST", Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe) festgestellt wird, darf Rechtsverzicht nicht ohne weiteres vermutet werden, und zwar erst recht nicht, wenn es sich, wie in der vorliegenden Sache, um etwas derart Elementares wie das rechtliche Gehör handelt, dessen Beachtung eine wesentliche Gewähr für Gerechtigkeit bietet.

Die Große Beschwerdekammer vertrat die Ansicht, wenn die Rechtsfolge einer Unterlassung ein Rechtsverlust sein soll, werde dies im Übereinkommen - entsprechend seiner allgemeinen Gesetzestechnik - ausdrücklich gesagt. In der vorliegenden Sache sieht das Übereinkommen keine derartige Bestimmung vor; in Regel 71 (2) heißt es lediglich, daß die mündliche Verhandlung ohne einen ordnungsgemäß geladenen Beteiligten fortgesetzt werden "kann".

Hierbei ist zu beachten, daß Parteien in der Praxis oft eben nicht auf rechtliches Gehör verzichten möchten, nur weil sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen wollen, etwa, weil sie die von der Gegenseite angezogenen Beweismittel für nicht relevant und die mündliche Verhandlung deshalb für unnötig halten oder weil in ihren Augen der Sachverhalt völlig eindeutig ist und sich eine mündliche Verhandlung erübrigt. Insbesondere bei Beteiligten aus Mitgliedstaaten oder fernen Ländern können auch finanzielle Erwägungen maßgeblich sein und sie auf ein Erscheinen verzichten lassen. Die Kammer vertritt daher die Ansicht, ein - auch freiwilliges - Fernbleiben eines Beteiligten von der Verhandlung dürfe nicht als Verzicht auf ein derart elementares Recht wie das rechtliche Gehör ausgelegt werden, es sei denn, die ferngebliebene Partei hätte anderweitig ausdrücklich oder implizit klar zu verstehen gegeben, daß sie auf die Ausübung dieses Rechts verzichtet, z. B. durch die Mitteilung, sie wolle sich nicht zu etwaigen, in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten neuen Beweismitteln äußern.

In der vorliegenden Sache hat die Beschwerdeführerin weder angekündigt, daß sie an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde, noch mitgeteilt, daß sie auf rechtliches Gehör verzichte. In ihrem Schreiben vom 21. Dezember 1989 hat sie vielmehr deutlich die Absicht bekundet, daran teilzunehmen.

8. Die Telekopie mit der Ankündigung, daß die Patentinhaberin außerstande sei, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, ging am Montag, den 29. Januar 1990, um 8.35 Uhr im Amt ein. Sie war als dringende Mitteilung gekennzeichnet und bezog sich unmißverständlich auf die am selben Tag um 9 Uhr stattfindende mündliche Verhandlung. Bei der Einspruchsabteilung ging sie aber erst folgenden Tag (30. Januar 1990) um 14.00 Uhr ein.

Nach Auffassung der Kammer ist es untragbar, daß mehr als ein Tag verstrich, ehe diese Telekopie bei der Einspruchsabteilung einging. Da die mündliche Verhandlung um 10.40 Uhr, also mehr als zwei Stunden nach Eingang der dringenden Mitteilung, beendet war, hätte die Einspruchsabteilung noch während der Verhandlung, z. B. telefonisch, über den Inhalt in Kenntnis gesetzt werden können. In diesem Zusammenhang wird auf die Entscheidung T 231/85, ABl. EPA 1989, 74 verwiesen, wo es (unter Nr. 10 der Entscheidungsgründe) heißt:

"Daß diese Hilfsanträge nicht rechtzeitig zu ihrer Kenntnis gelangt waren, hat zwar die Prüfungsabteilung selbst nicht zu vertreten, muß sich aber das EPA zurechnen lassen; denn dieses muß so organisiert sein, daß Eingänge zügig der entscheidenden Stelle vorgelegt werden."

9. Obwohl die Beschwerdeführerin die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nicht beantragt hat, ist die Kammer der Ansicht, daß sie sich auf Regel 67 EPÜ berufen kann, die eine Rückzahlung für den Fall vorsieht, daß der Beschwerde stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht; diese Erfordernisse sind im vorliegenden Fall eindeutig erfüllt.

10. Nach Maßgabe des Artikels 111 (1) EPÜ hat die Kammer beschlossen, im Rahmen der Zuständigkeit der Einspruchsabteilung tätig zu werden, die die angefochtene Entscheidung getroffen hat, und das Einspruchsverfahren selbst fortzusetzen.

Der geänderte neue Anspruch 1 ist die Zusammenfassung der Ansprüche 1 und 10 des erteilten europäischen Patents. Da die Beschwerdegegnerin zur Stützung ihres Einspruchs aber nur die ersten sieben Ansprüche herangezogen hat und Anspruch 10 unberücksichtigt blieb, stellt sich die Frage, ob die Kammer verpflichtet oder befugt ist, die Patentfähigkeit des geänderten Anspruchs 1 zu prüfen.

Hierbei ist zu beachten, daß es sich bei den nicht angefochtenen Ansprüchen 8 bis 10 des europäischen Streitpatents um vom angefochtenen Anspruch 1 abhängige Ansprüche handelt. In Anbetracht dessen und in Einklang mit der Entscheidung T 192/88 vom 20. Juli 1989 (Nr. 2 der Entscheidungsgründe) legt die Kammer die Einspruchsschrift dahingehend aus, daß sie die Ansprüche 8 bis 10 insofern einschließt, als diese zu einem von der Beschwerdegegnerin angefochtenen Anspruch, nämlich zu Anspruch 1 des Patents, in Bezug stehen.

Im übrigen muß die Einspruchsabteilung bzw. die Beschwerdekammer gemäß Artikel 102 (3) EPÜ prüfen, ob der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 "den Erfordernissen dieses Übereinkommens genügt", d. h. insbesondere, ob sein Gegenstand die erforderliche Neuheit und erfinderische Tätigkeit aufweist.

11. Wie weiter oben ausgeführt ...

15. Aus den obengenannten Gründen und unter Berücksichtigung des ermittelten Standes der Technik weist der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 die im Sinne des Artikels 56 EPÜ erforderliche erfinderische Tätigkeit auf.

Diese Schlußfolgerung gilt auch für den Anspruch 2, der an Anspruch 1 anschließt und eine bestimmte Ausführungsart der Vorrichtung nach Anspruch 1 zum Gegenstand hat.

Demzufolge kann das europäische Patent in geändertem Umfang aufrechterhalten werden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Auflage, das Patent auf der Grundlage der unter Nr. VI genannten Unterlagen in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten.

3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.

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