T 0250/89 (Sorgfalt) of 6.11.1990

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1990:T025089.19901106
Datum der Entscheidung: 06 November 1990
Aktenzeichen: T 0250/89
Anmeldenummer: 83400831.0
IPC-Klasse: B64D 47/00
B60Q 1/00
Verfahrenssprache: FR
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Fassungen: OJ
Bezeichnung der Anmeldung: -
Name des Anmelders: SNIA
Name des Einsprechenden: AEG
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: 1. Zwar können gemäß der Praxis der Beschwerdekammern die Beschwerdegründe der fristgemäß vorgelegten Beschwerdeschrift entnommen werden, doch müssen diese die rechtlichen oder tatsächlichen Gründe angeben, aus denen der Beschwerde stattgegeben und die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll (T 220/83, ABl. EPA 1986, 249 und J 22/86, ABl. EPA 1987, 280).
2. Wenn ein Beschwerdeführer zu beweisen versucht, daß er die in Artikel 108 Satz 3 EPÜ festgelegte Frist nicht einhalten konnte, kann er sich dann nicht auf die zu späte Vorlage eines Dokuments berufen, das für seine Argumentation erforderlich war, sich aber im Besitz eines Dritten befand, wenn aus seinen Schriftsätzen hervorgeht, daß er trotz des Fehlens dieses Dokuments fristgerecht über ausreichendes Material verfügte, um eine Beschwerdebegründung gemäß den Erfordernissen des EPÜ einzureichen.
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 108
European Patent Convention 1973 Art 122(1)
Schlagwörter: Zulässigkeit der Beschwerde (verneint)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (abgelehnt)
Nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt (verneint)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0646/92
T 0836/92
T 0601/93
T 0903/94
T 0493/95
T 0167/97
T 0181/06
T 1256/06
T 2346/10
T 0578/14

Sachverhalt und Anträge

I. Mit Entscheidung vom 1. Februar 1989 wies die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts den Einspruch gegen das europäische Patent EP-B-0 093 654 zurück, das auf die am 27. April 1983 eingereichte Anmeldung Nr. 83 400 831.0 erteilt worden war.

II. Die Entscheidung wurde der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) am selben Tag durch eingeschriebenen Brief mit Rückschein zugestellt. Gemäß Regel 78 (3) EPÜ gilt ein solcher Brief mit dem zehnten Tag nach der Abgabe zur Post als zugestellt. Somit begann die Beschwerdefrist am 11. Februar 1989.

III. Am 29. März 1989 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde ein und entrichtete die entsprechende Gebühr.

IV. In der Beschwerdeschrift werden die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und der Widerruf des Patents beantragt. Außerdem wird erklärt, daß "die Beschwerdebegründung später - innerhalb der vorgeschriebenen Frist - vorgelegt wird".

V. Die vom 30. Juni 1989 datierte Beschwerdebegründung ging beim EPA erst am 14. Juli 1989 ein, also nach Ablauf der in Artikel 108 Satz 3 EPÜ festgelegten Frist. Diese endete am 12. Juni 1989, weil der 11. Juni 1989 ein Sonntag war (R. 85 (1) EPÜ).

VI. Am 24. Juli 1989 wurde den Beteiligten ein Bescheid zugesandt, in dem sie um etwaige Stellungnahmen dazu gebeten wurden, daß die Beschwerdebegründung nicht fristgerecht vorgelegt worden war und die Beschwerde nach Regel 65 EPÜ als unzulässig verworfen werden könnte.

VII. In einem vom 11. September 1989 datierten Schriftsatz, der am 14. desselben Monats beim EPA einging, erklärte die Beschwerdeführerin, daß ihrer Meinung nach die beim EPA am 29. März 1989 eingegangene Beschwerdeschrift der Entscheidung J 2/87 vom 20. Juli 1987 (ABl. EPA 1988, 330) zufolge die Mindestanforderungen des Artikels 108 EPÜ erfülle. Hilfsweise beantragte sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und entrichtete die entsprechende Gebühr.

VIII. Zur Stützung des letztgenannten Antrags macht die Beschwerdeführerin folgendes geltend:

- Sie habe sich im März 1989 entschlossen, Beschwerde einzulegen.

- Die Beschwerdebegründung habe notwendigerweise auf Informationen gestützt werden müssen, die in Dokumenten enthalten gewesen seien, die sich im Besitz der an diesem Verfahren nicht beteiligten Firma ECE befunden hätten.

- Weil sie nicht über diese Dokumente verfügt habe, habe sie sie bereits Ende März 1989 bei der Firma ECE angefordert und die Firma mit der Erklärung, daß die Dokumente vor dem 2. Juni 1989 beim EPA vorgelegt werden müßten, auf die Dringlichkeit der Sache hingewiesen.

- Sie habe die Firma ECE innerhalb der Frist für die Vorlage der Begründung mehrere Male zum raschen Handeln aufgefordert.

- Dennoch habe sie die Dokumente erst am 14. Juni 1989 erhalten. Die Beschwerdeführerin ist daher der Auffassung, sie habe alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt aufgewendet.

IX. Mit Bescheid vom 2. April 1990 teilte die Beschwerdekammer den Beteiligten mit, daß sie nach einer ersten Prüfung der Sache beabsichtige, sowohl den Haupt- als auch den Hilfsantrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückzuweisen, weil die Beschwerdeschrift keinerlei Gründe enthalte und die Beschwerdeführerin nicht alle gebotene Sorgfalt beachtet habe. Die Beteiligten wurden zur Stellungnahme aufgefordert.

X. In dem am 23. Mai 1990 eingegangenen Schriftsatz stimmte die Beschwerdegegnerin dem Inhalt des Bescheids zu. Die Beschwerdeführerin legte am 30. Mai 1990 erneut ihren Standpunkt in bezug auf die Mindestanforderungen des Artikels 108 EPÜ dar. Hinsichtlich der nach den gegebenen Umständen gebotenen Sorgfalt wiederholte sie ihre Argumente und führte als Beweis an, daß sie mit der Firma ECE mehrfach Verbindung aufgenommen habe, um die für die Erstellung der Beschwerdebegründung für unabdingbar erachteten Dokumente innerhalb der Frist zu erhalten.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag

1. Die Zulässigkeit dieser Beschwerde hängt im wesentlichen von der Frage ab, ob die in Artikel 108 EPÜ festgelegte Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung eingehalten worden ist. Die Beschwerdekammer stellt nämlich fest, daß die übrigen Bedingungen für die Zulässigkeit erfüllt sind.

2. Da die Beschwerdebegründung erst am 14. Juli 1989, d. h. mehr als einen Monat nach Ablauf der Frist nach Artikel 108 letzter Satz EPÜ, beim Europäischen Patentamt eingegangen ist, lautet die Frage, genauer gesagt, ob die in der Beschwerdeschrift vom 29. März 1989 enthaltenen Ausführungen als Beschwerdebegründung ausreichen, wie die Beschwerdeführerin behauptet, und damit die Mindestanforderungen des Artikels 108 letzter Satz EPÜ erfüllen.

3. Der Inhalt einer Beschwerdeschrift ist in Regel 64 EPÜ festgelegt: Sie muß insbesondere einen Antrag enthalten, der die angefochtene Entscheidung und den Umfang anzugeben hat, in dem ihre Änderung oder Aufhebung begehrt wird. Im vorliegenden Fall kann die angefochtene Entscheidung anhand der Beschwerdeschrift zweifelsfrei ermittelt werden. Die Beschwerdeschrift enthält einen Antrag auf Aufhebung dieser Entscheidung und einen auf Widerruf des Patents: Die Bedingungen der Regel 64 (2) EPÜ sind also erfüllt. Im übrigen beschränkt sie sich darauf zu erläutern, daß die erforderliche Gebühr entrichtet worden sei und die Beschwerdebegründung später - innerhalb der vorgeschriebenen Frist - vorgelegt werde.

4. Durch die Praxis und die Rechtsprechung sind seit mehreren Jahren bestimmte Erfordernisse in bezug auf die Beschwerdebegründung festgelegt und anschließend bestätigt worden.

4.1 In der Entscheidung T 13/82 (ABl. EPA 1983, 411) wurde beispielsweise folgendes festgestellt: Enthält eine Beschwerdeschrift keine Ausführungen, die sich als Beschwerdebegründung werten lassen, so ist die Beschwerde unzulässig, wenn nicht innerhalb der in Artikel 108 Satz 3 EPÜ genannten Frist eine schriftliche Begründung beim EPA eingeht. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies, daß die Beschwerdegründe zwar der Beschwerdeschrift entnommen werden dürfen, doch daß darin zumindest "Ausführungen" enthalten sein müssen, "die sich als Beschwerdebegründung werten lassen". Dazu stellt die Kammer fest, daß im vorliegenden Fall offensichtlich keine Ausführung in der Beschwerdeschrift als Beschwerdebegründung gewertet werden kann.

4.2 In der Entscheidung T 220/83 (ABl. EPA 1986, 249) wird weiter ausgeführt, daß "sich die Beschwerdebegründung inhaltlich nicht darin erschöpfen darf, die Unrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung zu behaupten". In ihr sei vielmehr darzulegen, "aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen die Entscheidung aufgehoben werden soll". Die neuere Entscheidung J 22/86 (ABl. EPA 1987, 280) geht noch weiter: "Die schriftliche Beschwerdebegründung entspricht Artikel 108 EPÜ nur, wenn sie ausführlich angibt, aus welchen Gründen der Beschwerde stattgegeben und die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll."

5. In der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidung J 2/87 (ABl. EPA 1988, 330) hatte die Kammer festgestellt (vgl. Nr. 2 der Entscheidungsgründe), daß sich die Anmelderin in der Beschwerdeschrift mit der Erteilung des Patents in der von der Prüfungsabteilung vorgeschlagenen Fassung einverstanden erklärt hatte und die angefochtene Entscheidung daher nicht mehr gerechtfertigt war, daß die Beschwerdeschrift also als Antrag auf Aufhebung der betreffenden Entscheidung ausgelegt werden konnte und mithin die Mindesterfordernisse des Artikels 108 EPÜ erfüllte. Offensichtlich hat die Kammer in diesem Fall aus der Beschwerdebegründung (Einverständnis der Anmelderin mit der von der Prüfungsabteilung vorgeschlagenen Fassung) geschlossen, daß die Anmelderin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung erreichen wollte. Der vorliegende Fall ist ganz anders gelagert: Wie bereits dargelegt (s. Nr. 3), enthält die Beschwerdeschrift zwar einen Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, jedoch keinerlei Ausführungen, die als Beschwerdebegründung gewertet werden könnten.

6. Für die Kammer steht daher fest, daß die Beschwerdegründe, die der Beschwerdeschrift entnommen werden können, dieselben Bedingungen erfüllen müssen wie jene, die gesondert eingereicht werden. Die Rechtsprechung geht nämlich dahin, daß Beschwerdegründe, die der Beschwerdeschrift zweifelsfrei zu entnehmen sind, mit der Begründung gleichzusetzen sind. Somit ist die Einreichung einer gesonderten Begründung innerhalb der Frist nach Artikel 108 Satz 3 EPÜ keine Bedingung für die Zulässigkeit der Beschwerde mehr, und zwar deshalb, weil diese Bedingung bereits durch die Angabe der Gründe in der Beschwerdeschrift erfüllt worden ist.

7. Da innerhalb der in Artikel 108 Satz 3 EPÜ festgelegten Frist keinerlei Beschwerdebegründung vorgelegt worden ist, stellt die Kammer in Anwendung der Regel 65 (1) EPÜ fest, daß die Beschwerde vorbehaltlich des Erfolgs des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig ist. Antrag nach Artikel 122 EPÜ

8. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfüllt die Bedingungen des Artikels 122 (2) und (3) EPÜ und ist somit zulässig.

9. Um seine Berechtigung beurteilen zu können, muß aber geprüft werden, ob

a) die Beschwerdeführerin gemäß den Bestimmungen des Artikels 122 (1) EPÜ alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat, wobei in der Entscheidung T 287/84 (ABl. EPA 1985, 333) (vgl. Nr. 2) die Bedeutung des Worts "alle" hervorgehoben worden ist;

b) die Versäumung der Frist nicht auf einem Verschulden, sondern auf einem einfachen Versehen beruht, falls die Beteiligte alle gebotene Sorgfalt beachtet hat (vgl. die Entscheidung G 1/86 der Großen Beschwerdekammer, Nr. 1 der Entscheidungsgründe, ABl. EPA 1987, 447).

10. Die Kammer bezweifelt nicht, daß die Beschwerdeführerin die Firma ECE mehrere Male um Herausgabe der sich in ihrem Besitz befindlichen Dokumente gebeten hat. Sie vertritt aber die Auffassung, daß die Beschwerdeführerin und ihr Vertreter schon Mitte März 1989 über ausreichendes Material für die Erstellung einer Beschwerdebegründung verfügten. Die Entscheidung T 220/83 (ABl. EPA 1986, 249) (vgl. Nr. 4) stellt nämlich eindeutig fest, daß eine zulässige Beschwerdebegründung enthalten muß, "aus welchen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll". Im vorliegenden Fall konnte sich die Beschwerdeführerin schon bei ihrem Entschluß, Beschwerde einzulegen, d. h. bereits Mitte März 1989, in der Beschwerdeschrift oder in einer vor dem 12. Juni 1989 eingereichten Beschwerdebegründung zunächst einmal auf die in ihrem Besitz befindlichen Dokumente stützen (wie sie es in den Absätzen 2 und 3 ihrer Beschwerdebegründung vom 30. Juni 1989 getan hat) und darlegen, daß sie den Widerruf des Patents mit der Begründung beantrage, daß ihrer Meinung nach die Erfindung weder neu noch erfinderisch sei, und sie beabsichtige, weitere für ihre Argumentation nützliche Dokumente vorzulegen, sobald sich diese in ihrem Besitz befänden. Eine unter solchen Bedingungen vorgelegte Beschwerdebegründung wäre selbstverständlich zulässig gewesen.

Da die Beschwerdeführerin mit der Einreichung der Beschwerdebegründung aber bis zur Aushändigung eines Dokuments gewartet hat, die allein vom guten Willen eines Dritten (der Firma ECE) abhing, hat sie nicht alle gebotene Sorgfalt beachtet, was mit den Erfordernissen des Artikels 122 (1) EPÜ nicht vereinbar ist.

11. Im übrigen kann die nicht fristgerechte Vorlage der Beschwerdebegründung im vorliegenden Fall nicht mit einem Versehen erklärt werden. Die Beschwerdeführerin, die ordnungsgemäß vertreten wird und daher mit den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt vertraut ist, mußte wissen, daß die Erfordernisse des Artikels 108 Satz 3 EPÜ unbedingt erfüllt sein müssen. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß sie sich in der Beschwerdeschrift verpflichtet hat, die Begründung "später, innerhalb der vorgeschriebenen Frist" vorzulegen. Indem sie eine Frist nicht eingehalten hat, die sie hätte einhalten können, hat die Beschwerdeführerin gegen die Bestimmungen des Artikels 122 (1) EPÜ verstoßen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Vorlage der Beschwerdebegründung wird als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.

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