T 0598/88 () of 7.8.1989

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1989:T059888.19890807
Datum der Entscheidung: 07 August 1989
Aktenzeichen: T 0598/88
Anmeldenummer: 82730129.2
IPC-Klasse: A61K 49/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung:
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 458 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Flüssige Mischung zur Aufnahme und Stabilisierung von Gasbläschen zur Verwendung als Kontrastmittel für die Ultraschalldiagnostik und deren Herstellung
Name des Anmelders: Schering AG
Name des Einsprechenden: Byk Gulden Lomberg ..
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 116
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Anspruch auf mündl.Verh.geht Int.an züg.Verf.führ.vor
Verschulden des EPA, wenn entscheidungserhebliches
Vorbringen nicht binnen weniger Tage an entscheidende
Instanz gelangt
Right to oral proceedings prevails the interest in
efficient procedural conduct
procedural violation of the EPO, if internal
circulation of documents
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0258/84
T 0231/85
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0252/91
T 0304/92
T 0686/92
T 0556/95
T 0417/00
T 0777/06
T 1544/06
T 0114/09
T 1929/13
T 2024/21

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung 82 730 129.2, die am 13. Oktober 1982 mit deutscher Priorität vom 16. Oktober 1981 eingereicht worden war, wurde am 5. März 1986 das europäische Patent 77 752 erteilt.

II. Gegen die Patenterteilung legte die jetzige Beschwerdegegnerin am 5. Dezember 1986 wegen fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit Einspruch ein.

III. Im Verlaufe des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung hat die Patentinhaberin (jetzige Beschwerdeführerin) mehrfach Fristgesuche gestellt, zu den Argumenten des Einspruchsschriftsatzes jedoch nicht sachlich Stellung genommen, sondern lediglich mit einem am 21. September 1988 eingegangenen Formalschriftsatz die Zurückweisung des Einspruches sowie Anberaumung eines Termins für eine mündliche Verhandlung beantragt.

Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) bekundete wiederholt (Schriftsätze vom 7. März, 16. Mai, 27. Juni und 30. September 1988) ihr Interesse an einer raschen Beschlußfassung.

IV. Mit Entscheidung vom 11. Oktober 1988 widerrief die Einspruchsabteilung das Streitpatent, ohne daß vorher eine mündliche Verhandlung anberaumt oder der Antrag hierauf seitens der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) zurückgezogen worden wäre.

V. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin mit ordnungsgemäß schriftlich bestätiger Telekopie vom 5. Dezember 1988 Beschwerde erhoben, darin Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, Aufrechterhaltung des Streitpatents in vollem Umfang sowie mündliche Verhandlung beantragt, gleichzeitig die vorgeschriebene Gebühr entrichtet und am 11. Februar 1989 eine Begründung eingereicht, worin sie sich mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt, ohne allerdings das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu rügen. Die Kammer hat diesen Sachverhalt jedoch bei der ersten Aktendurchsicht bemerkt und den Beteiligten durch die Geschäftsstelle telefonisch mitteilen lassen, daß die Sache möglicherweise wegen der unterbliebenen mündlichen Verhandlung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden müsse.

VI. Die Beschwerdeführerin hat sich hierzu nicht geäußert. Andererseits hat sich die Beschwerdegegnerin in einer von zwei am 6. Juli 1989 eingegangenen Eingaben (im folgenden kurz: Eingabe vom 6. Juli 1989) gegen eine Zurückverweisung ausgesprochen und beantragt, das Verfahren vor der zuständigen Beschwerdekammer fortzusetzen; dies im wesentlichen mit den folgenden Argumenten:

(i) Vermutlich sei die angefochtene Entscheidung amtsintern bereits abgefaßt gewesen, bevor Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wurde, in welchem Fall eine Zurückverweisung ohnedies nicht in Frage komme.

(ii) Angesichts der Verpflichtung aller Verfahrensbeteiligten zu zügiger Verfahrensführung sei der Antrag auf mündliche Verhandlung verspätet vorgebracht worden und brauche daher nicht berücksichtigt zu werden (Art. 114 (2) EPÜ).

(iii) Andererseits habe die Beschwerdegegnerin ein hohes Interesse an einer zügigen Verfahrensführung. Eine Abwägung der Interessen der Beteiligten spreche ebenso gegen eine Rückverweisung wie der Grundsatz der Verfahrensökonomie.

(iv) Zur Stützung ihres Vorbringens verweist die Beschwerdegegnerin auch auf zwei Beschwerdeentscheidungen, nämlich T 258/84 (ABl. EPA 1987, 119) und T 231/85 (ABl. EPA 1989, 74).

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.

2. Artikel 116 (1) Satz 1 EPÜ lautet (auszugsweise):

"Eine mündliche Verhandlung findet ... auf Antrag eines Beteiligten ... statt."

Hierbei handelt es sich - abgesehen von der hier nicht zutreffenden Ausnahmebestimmung des Artikels 116 (1), Satz 2 - um eine zwingende Vorschrift des EPÜ, dergegenüber Erwägungen hinsichtlich zügiger Verfahrensführung, Billigkeit oder Verfahrensökonomie nicht durchgreifen können. Zu fragen ist allein, ob vor dem Datum der angefochtenen Entscheidung seitens der jetzigen Beschwerdeführerin ein gültiger Antrag auf mündliche Verhandlung vorlag. War diese Voraussetzung erfüllt, so durfte die angefochtene Entscheidung nicht ergehen und ist sie daher unter Rückverweisung der Sache an die Vorinstanz aufzuheben.

3. Das Datum einer Entscheidung ist das Datum ihrer Verkündung (in der Regel am Ende einer mündlichen Verhandlung) oder, falls eine solche nicht stattgefunden hat, das Datum, an dem die zuzustellende schriftliche Entscheidung zur Postabfertigungsstelle des Amts gegeben und damit dem Wirkungsbereich des entscheidenden Organs entzogen wird, mit der Folge, daß danach beim Amt eingehende Vorbringen, wie z. B. neue Anträge, nicht mehr berücksichtigt werden können. Nach herrschender Praxis des EPA ist das letztgenannte Datum identisch mit demjenigen, das auf das Deckblatt der schriftlichen Entscheidung aufgestempelt wird. Im vorliegenden Fall ist dies der 11. Oktober 1988.

4. Der am 21. September 1988 eingegangene Antrag der jetzigen Beschwerdeführerin auf mündliche Verhandlung war eindeutig und vorbehaltlos gestellt; er wurde nie zurückgezogen. Er lag somit zum Zeitpunkt des Datums der angefochtenen Entscheidung dem EPA in gültiger Form vor, so daß ihm hätte entsprochen werden müssen, ehe das Patent widerrufen werden durfte.

5. Im Gegensatz zu den in der deutschen Fassung von Artikel 114 (2) EPÜ aufgeführten Tatsachen und Beweismitteln (französisch: "des faits ... ou des preuves"; englisch: "facts or evidence"), wozu die Rechtsprechung der Beschwerdekammer auch sonstiges materielles Vorbringen der Beteiligten, wie z. B. neue Ansprüche oder Argumente, zählt, handelt es sich bei einem Antrag auf mündliche Verhandlung um ein rein prozedurales, durch Artikel 116 (1) verbürgtes Vorbringen, das vor dem Datum einer das Verfahren vor dem betreffenden Organ abschließenden Entscheidung jederzeit erhoben werden kann und nicht dem Verspätungseinwand des Artikel 114 (2) EPÜ unterliegt. Selbst unterstellt, eine mißbräuchliche Verzögerung des Verfahrens liege vor, könnte deswegen dem Antragsteller das Recht auf mündliche Verhandlung nicht abgesprochen werden. Im übrigen kann darin kein Mißbrauch erblickt werden, daß ein Patentinhaber sein Schutzrecht gegen den Angriff eines Einsprechenden nicht im schriftlichen Verfahren, sondern lediglich im Rahmen einer von ihm beantragten mündlichen Verhandlung verteidigen will. Damit, daß er im vorliegenden Falle mit seinem diesbezüglichen Antrag beinahe 21 Monate nach Mitteilung des Einspruchs zuwartete, riskierte er, daß die Einspruchsabteilung seinem Antrag mit einer Widerrufsentscheidung zuvorkäme; ein Mißbrauch oder gar eine Verwirkung seines Anrechts auf mündliche Verhandlung ergibt sich hieraus aber nicht.

6. Auch der Hinweis auf die beiden unter VI (iv) angezogenen Entscheidungen führt zu keinem für die Beschwerdegegnerin günstigeren Ergebnis:

6.1. Der Fall T 258/84 betrifft einen völlig anderen Sachverhalt: Es ging dort darum, ob der zu behandelnde Fall zur Prüfung verspätet eingereichter, aber hochrelevanter und daher zu berücksichtigender neuer Entgegenhaltungen an die Vorinstanz zurückverwiesen und so eine Beurteilung durch zwei Instanzen ermöglicht werden oder ob die Beschwerdekammer abschließend entscheiden sollte. In der dortigen Situation machte die Kammer von dem ihr durch Artikel 111 (1) eingeräumten Ermessensspielraum Gebrauch und entschied sich für die letztgenannte Möglichkeit, weil seitens des Patentinhabers weder eine sachliche Stellungnahme, noch ein ausdrücklicher Antrag auf Rückverweisung vorlag. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um eine Ermessensausübung, sondern darum, daß die Entscheidung der Vorinstanz unter Verletzung einer zwingenden Rechtsvorschrift zustandegekommen und daher von der Kammer ohne Eingehen auf den materiellen Sachverhalt aufzuheben ist.

6.2. Beim Fall T 231/85 handelte es sich wie beim vorliegenden um die Nichtberücksichtigung eines Antrages des Beschwerdeführers, dort eines Antrages auf Erteilung mit hilfsweise eingereichten Ansprüchen, hier eines solchen auf mündliche Verhandlung. Hier wie dort wurde eine entscheidungserhebliche Eingabe übergangen, wobei die Entscheidungserheblichkeit im vorliegenden Falle, der Natur des übergangenen Antrags entsprechend, darin bestand, daß auf Grund der Eingabe eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht mehr rechtlich möglich war. Daß dort zwischen dem Eingang des übergangenen Antrages und der Entscheidung etwa sechs, vorliegend aber nur etwa drei Wochen lagen, ist für die Rechtswidrigkeit der Entscheidung und daher für die Frage der Aufhebung und Rückverweisung unerheblich und könnte nur im Zusammenhang mit der Frage der Rückzahlung der Beschwerdegebühr eine Rolle spielen, worauf noch einzugehen sein wird.

7. Auch das Interesse der Beschwerdegegnerin (sowie der Öffentlichkeit als ganzer) an einer zügigen Verfahrensführung kann angesichts der erfolgten Verletzung einer zwingenden Rechtsvorschrift nicht ausschlaggebend sein. Ihm konnte die Kammer nur insoweit Rechnung tragen, als sie unverzüglich nach Aufdeckung des Sachverhalts die Beteiligten telefonisch informiert und sodann innerhalb kurzer Zeit die vorliegende Entscheidung erlassen hat. Zwar haben beide Beteiligte mündliche Verhandlung vor der Kammer beantragt. In diesem Falle konnte von einer solchen jedoch abgesehen werden. Denn der diesbezügliche Antrag der Beschwerdeführerin ist sinngemäß so auszulegen, daß er nur für den Fall gelten sollte, daß die Kammer die angefochtene Entscheidung nicht - wie geschehen - aufheben wollte; der Antrag der Beschwerdegegnerin wiederum bezieht sich in der zuletzt vorliegenden Fassung (Eingabe vom 6. Juli 1989, Seite 8) ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung "zum Erhalt einer abschließenden Entscheidung" und nicht zur Entscheidung darüber, ob zurückverwiesen oder direkt zur Sache entschieden werden solle. Nach allem ist somit die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur baldigstmöglichen mündlichen Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

8. Zu untersuchen bleibt noch die Frage einer - zwar nicht beantragten -Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Eine solche sieht Regel 67 EPÜ für den Fall vor, daß einer Beschwerde stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht.

Angesichts der zu erfolgenden Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ist die erste dieser Voraussetzungen erfüllt. Auch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Nichtberücksichtigung eines Antrags auf mündliche Verhandlung einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt. Was die Billigkeit anbelangt, so hat die Kammer folgende Überlegungen angestellt:

Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Antrag sehr lange - etwa 21 Monate -zugewartet. Wäre dieser daher erst so kurz vor dem wirksamen Datum der Entscheidung eingegangen, daß man vernünftigerweise nicht damit rechnen könnte, er habe der Einspruchsabteilung an diesem Datum bereits vorgelegen oder doch vorliegen sollen, so änderte dies zwar nichts an der objektiven Rechtswidrigkeit der Entscheidung, es erschiene dann aber unbillig, auch noch die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen. Nun ist jedoch der Antrag immerhin zwanzig Tage vor dem Entscheidungsdatum beim EPA eingegangen. Er muß also entweder tatsächlich rechtzeitig zur Kenntnis der Einspruchsabteilung gelangt sein, um noch Berücksichtigung zu finden, oder das EPA müßte sich jedenfalls die Tatsache, daß dies etwa nicht der Fall gewesen sein sollte, als Verschulden zurechnen lassen, denn es muß - wie schon in der Entscheidung T 231/85, a. a. O., Punkt 10, festgestellt - "so organisiert sein, daß Eingänge zügig der entscheidenden Stelle vorgelegt werden". Nicht nur mit einer inneramtlichen Laufzeit von sechs Wochen, wie im Falle T 231/85, sondern auch mit einer solchen von zwanzig Tagen muß kein Beteiligter rechnen; vielmehr muß er sich in einer zur baldigen Entscheidung anstehenden Sache darauf verlassen können, daß entscheidungserhebliche Vorbringen der entscheidenden Instanz innerhalb weniger Tage nach Eingang zugeleitet sind. Angesichts dieser Umstände erscheint eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr trotz der späten Antragsstellung billig.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird zur Fortsetzung des Einspruchsverfahrens an die Vorinstanz zurückverwiesen.

3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.

Quick Navigation