| European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2025:T050123.20250605 | ||||||||
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| Datum der Entscheidung: | 05 Juni 2025 | ||||||||
| Aktenzeichen: | T 0501/23 | ||||||||
| Anmeldenummer: | 10776565.3 | ||||||||
| IPC-Klasse: | B21B 35/04 | ||||||||
| Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
| Verteilung: | D | ||||||||
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| Bezeichnung der Anmeldung: | DRAHTWALZGERÜST MIT EINZELANTRIEB ALS BESTANDTEIL EINER Walzgerüst-Gruppe IN EINER HOCHGESCHWINDIGKEITS- DRAHTWALZSTRASSE | ||||||||
| Name des Anmelders: | SMS group GmbH | ||||||||
| Name des Einsprechenden: | Primetals Technologies USA LLC | ||||||||
| Kammer: | 3.2.03 | ||||||||
| Leitsatz: | - | ||||||||
| Relevante Rechtsnormen: |
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| Schlagwörter: | - | ||||||||
| Orientierungssatz: |
- |
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| Angeführte Entscheidungen: |
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| Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent EP 2 493 634 B1 betrifft ein Walzgerüst als Bestandteil einer Walzgerüst-Gruppe in einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße.
II. In dem Einspruch gegen das Patent hatte die Einsprechende als Einspruchsgründe
- unzulässige Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung
(Artikel 100 c) EPÜ),
- unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ) sowie - mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit
(Artikel 100 a) EPÜ)
geltend gemacht.
III. Die Einspruchsabteilung vertrat die Auffassung, dass die Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 b) und c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents zwar nicht entgegenstehen, wohl aber der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit. Dementsprechend hat sie entschieden, das Patent zu widerrufen.
IV. Gegen diese Entscheidung legte die Patentinhaberin Beschwerde ein.
V. Die Kammer kam in dem ersten Beschwerdeverfahren T 0954/18 betreffend das auch in diesem Verfahren anhängige Streitpatent zu dem Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in geändertem Umfang auf Grundlage des Hilfsantrags 1 neu gegenüber dem zitierten Stand der Technik ist und hat damals entschieden, die Angelegenheit zur weiteren Prüfung des Einspruchs an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
VI. Nachdem das Verfahren an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen worden war, vertrat diese in ihrer weiteren Entscheidung die Auffassung, dass der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang entgegenstehe. Dementsprechend hat sie erneut entschieden, das Patent zu widerrufen.
VII. Gegen diesen Widerruf des Patents richtet sich die Patentinhaberin ("die Beschwerdeführerin") mit ihrer Beschwerde.
VIII. Anträge
Am Schluss der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 5. Juni 2025 bestand folgende Antragslage:
Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in geändertem Umfang auf Grundlage eines der als Hilfsantrag 1 und Hilfsantrag 2 bezeichneten Anträge, beide eingereicht mit der Beschwerdebegründung am 26. Juni 2023, aufrechtzuerhalten. Diese Anträge lagen bereits der angefochtenen Entscheidung zugrunde. Der als Hilfsantrag 1 bezeichnete Antrag stellt den eigentlichen Hauptantrag des Beschwerdeverfahrens dar. Dieser wird im Folgenden entsprechend dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten jedoch weiterhin als Hilfsantrag 1 bezeichnet.
Die Beschwerdegegnerin (die Einsprechende) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen; hilfsweise, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur Prüfung auf Grundlage der Beweismittel E7 bis E10 zurückzuverweisen.
IX. Wortlaut der Ansprüche
Anspruch 1 von Hilfsantrag 1 beruht auf einer Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 2 und lautet (inklusive einer von den Beteiligten verwendeten Merkmalsnummerierung):
M1.1|Walzgerüst (1) als Bestandteil einer Walzgerüst-Gruppe (2) in einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße, |
M1.2|mit wenigstens einem Walzen- oderWalzringpaar (5) und |
M1.3|einer mit einem Motor (6) verbundenenAntriebswelle (7), |
M1.4|wobei jedem Walzgerüst (1) dieser Walzgerüst-Gruppe (2) genau eine eigene Antriebseinheit mit jeweils einem Motor (6) und jeweiliger Antriebswelle (7) zugeordnet ist und|
M1.5|der Motor (6), die Antriebswelle (7) und das wenigstens eine Walzen- oder Walzringpaar (5) linear zueinander angeordnet sind,dadurch gekennzeichnet, dass |
M1.6|es Teil eines Vor- oder Fertigwalzblocks ist. |
Der Wortlaut von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 ist für diese Entscheidung nicht wesentlich.
X. Beweismittel
a) Die Beteiligten verwiesen auf die folgenden, bereits in der angefochtenen Entscheidung zitierten Dokumente:
E1:|US 3,945,234 |
E2:|US 3,613,428 |
E5:|Todd Bulak, "The latest in aggressive roll pass for non-ferrous mills", Morgan Construction Company, Seiten 1 bis 11|
b) Mit ihrer Beschwerdeerwiderung reichte die Einsprechende zudem erstmalig folgende Dokumente im Beschwerdeverfahren ein:
E7: |EP 1 228 817 A2|
E8: |EP 0 208 803 A1|
E9: |EP 1 447 150 B1|
E10:|DE 1 427 974 |
XI. Das für die vorliegende Entscheidung wesentliche Vorbringen der Beschwerdeführerin in Bezug auf den Hilfsantrag 1 lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) erfinderische Tätigkeit
Die in den Dokumenten E1, E2 und E5 beschriebenen Walzgerüste seien weder als Bestandteil einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße offenbart noch dafür aufgrund des Einsatzes eines Untersetzungs-getriebes geeignet. Ferner seien bei den in diesen Dokumenten beschriebenen Walzgerüsten die Antriebswellen nicht linear zu den Walzenpaaren angeordnet. Ausgehend von E1, E2 oder E5 sei eine Vielzahl von Umbauschritten und eine fundamentale Neuauslegung des Walzgerüstes erforderlich, um dieses als Teil eines Vor- oder Fertigwalzblocks eines Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße einsetzen zu können. Ein derartig fundamentaler Umbau des Walzgerüsts liege für eine Fachperson nicht nahe. Im Übrigen fehle für E5 ein Beleg, dass dieses zum Prioritätszeitpunkt des Patents überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich gewesen sei.
b) Zulassung von E7 bis E10
Zwar sei erst im Rahmen der zweiten mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in Zweifel gezogen worden, dass es sich bei E5 überhaupt um einen Stand der Technik nach Artikel 54(2) EPÜ handle. Allerdings stelle die Einreichung von E7 bis E10 keine Reaktion auf diesen Einwand dar, da E7 bis E10 weder die öffentliche Zugänglichmachung von E5 vor dem Prioritätsdatum des Patents belegten noch eine mit E5 vergleichbare Offenbarung lieferten.
Die Vorkommnisse im Einspruchsverfahren rechtfertigten daher nicht das Einreichen der neuen Beweismittel E7 bis E10 sowie darauf beruhender neuer Angriffslinien erstmals im Beschwerdeverfahren.
Zudem sei die Offenbarung der Dokumente E7 bis E10 auch nicht prima facie relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1. Insbesondere offenbare auch die Kombination der Dokumente E9 und E10 einer Fachperson kein Walzgerüst, bei dem der Motor, die Antriebswelle und ein Walzenpaar linear zueinander angeordnet seien.
c) Ausführbarkeit
Ein Einwand zur mangelnden Ausführbarkeit der Erfindung nach Anspruch 1 sei im Rahmen des schriftsätzlichen Vorbringens der Beschwerdegegnerin nicht substantiiert worden.
Der erstmals am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhobene Einwand zur mangelnden Ausführbarkeit sei ohne außergewöhnliche rechtfertigende Umstände verspätet vorgebracht worden. Der Einwand erschöpfe sich zudem in bloßen Behauptungen.
Somit sei der Einwand nicht in das Verfahren zuzulassen.
XII. Das für die vorliegende Entscheidung wesentliche Vorbringen der Beschwerdegegnerin zu Hilfsantrag 1 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
a) erfinderische Tätigkeit
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei in Hinblick auf die Offenbarung in den Dokumenten E1, E2 und E5 naheliegend. Es liege für eine Fachperson auf der Hand, dass sich ein in E1, E2 und E5 jeweils beschriebenes Walzgerüst für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße mittels fachüblichen Umbauten ertüchtigen lasse.
b) Zulassung von E7 bis E10
Die Beschwerdeführerin habe erstmals während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in Frage gestellt, dass es sich bei E5 um einen Stand der Technik nach Artikel 54(2) EPÜ handle. Daher sei eine Nachrecherche erforderlich gewesen, um auf diesen Einwand der Beschwerdeführerin zu reagieren.
Die Offenbarung der Dokumente E7 bis E10 sei prima facie relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1. Insbesondere lege E9 in Kombination mit E10, auf das E9 selbst bereits verweise, ein Walzgerüst nach Anspruch 1 nahe.
c) Ausführbarkeit
Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ sei Gegenstand des Verfahrens. Zudem sei in der Beschwerdeerwiderung mehrmals die Ausführbarkeit adressiert und damit substantiiert worden.
Falls es für eine Fachperson nicht naheliege, das beispielsweise in E1 beschriebene Walzgerüst mittels fachüblicher und bekannter Modifikationen so umzugestalten, dass sich dieses für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zum Walzen von Draht eigne, so könne die Erfindung gemäß Anspruch 1 auch nicht ausführbar sein, denn dann sei für eine Fachperson ja nicht unmittelbar erkennbar, welche konkreten Maßnahmen durchgeführt werden müssten, um die gewünschte Eignung herbeizuführen. Zudem offenbare das Patent auch keine konkreten Merkmale, die ein Walzgerüst in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zum Walzen von Draht erfüllen müsse.
Die während der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente stellten eine bloße Ergänzung des Einwands zur mangelnden Ausführbarkeit dar und seien mithin im Verfahren zuzulassen, zumal sie sich aus rein logischer Ableitung des Einwands zur erfinderischen Tätigkeit ableiten ließen.
Im Übrigen müsse die Kammer das Erfordernis der Ausführbarkeit ohnehin von Amts wegen prüfen.
Entscheidungsgründe
1. Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit
1.1 Ausgehend von E1
1.1.1 E1 offenbart in Figur 1 in Verbindung mit Figur 3 eine Walzgruppe eines Tandem-Universalwalzwerks, die Walzgerüste mit jeweils einem Motor (57) und einem Rollenpaar (43, 44) aufweist. Die Antriebswelle des Motors und die beiden Achsen des Walzrollenpaars sind jeweils parallel zueinander angeordnet. Als Walzgut können im kontinuierlichen Betrieb mit hoher Geschwindigkeit u.a. Rundstahl und Vierkantstahl (siehe Spalte 1, Zeilen 25 bis 30) bzw. kleinere Werkstücke wie Stäbe ("rods", siehe Spalte 1, Zeilen 49 bis 55) eingesetzt werden.
E1 lässt offen, an welcher Position der Walzstraße das Walzgerüst gemäß Figur 3 konkret eingesetzt werden soll.
1.1.2 Wie in T 0954/18 festgestellt (siehe Punkt 1 der Entscheidungsgründe) ist die in E1 offenbarte Walzgruppe zwar geeignet, in einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße eingesetzt zu werden, da eine derartige Anlage wie von Absatz [0003] des Patents bestätigt, unterschiedliche Funktionsgruppen mit unterschiedlichen Anforderungen aufweisen kann, wie z.B.:
eine Vorstraße (roughing mill),
eine Zwischenstraße (intermediate mill) und
eine Fertigstraße (finishing mill), ggf. unter Einsatz eines Vorblocks (prefinisher) zwischen der Zwischenstraße und der Fertigstraße.
Das in E1 offenbarte Walzgerüst könnte folglich beispielsweise als Teil einer Vorstraße (roughing mill) am Eingang einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zum Walzen eines Barren, Stabs oder einer Stange bei relativ langsamer Geschwindigkeit eingesetzt werden.
Allerdings wird aus E1 nicht deutlich, dass das Walzgerüst gemäß Figur 3 auch unmittelbar dazu ausgelegt ist, in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zum Walzen von Draht eingesetzt zu werden, siehe Punkt 2 der Entscheidungsgründe von T 0954/18.
1.1.3 Das Walzgerüst eines Vor- oder Fertigwalzblocks muss aufgrund seiner Position am Ende der Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße insbesondere dazu eingesetzt werden können, Draht mit der dafür typischen Geschwindigkeit zu walzen (siehe Absätze [0002] und [0014] des Patents: "Austrittsgeschwindigkeiten des Drahts aus dem letzten Walzschritt von etwa 60 bis 130 m/s").
Zwar definiert Anspruch 1 nicht, mit welcher Geschwindigkeit das Walzgerüst in dem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße arbeiten soll. Jedoch versteht eine Fachperson nichtsdestotrotz, dass das Walzgerüst dazu geeignet und ausgelegt sein muss, bei relativ hohen Geschwindigkeiten betrieben werden zu können.
Diese Eignung liegt für das in E1 beschriebene Walzgerüst nicht vor, denn in E1 kommt gerade ein Untersetzungsgetriebe zum Einsatz, also ein Getriebe, das die Geschwindigkeit des Antriebs reduziert, siehe Figur 3 der E1, Bezugszeichen 56, 54B.
Die mangelnde Eignung des Walzgerüsts von E1 für einen Vor- oder Fertigwalzblock am Ende einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße ist im vorliegenden Verfahren zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht mehr streitig.
1.1.4 Startet man wie von der Beschwerdeführerin argumentiert von dem in E1 beschriebenen Walzgerüst, unterscheidet sich der Gegenstand von Anspruch 1 von dem in E1 beschriebenen Walzgerüst dadurch, dass dieses Teil eines Vor- oder Fertigwalzblocks einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße ist.
1.1.5 In Anlehnung an die Begründung in der angefochtenen Entscheidung (siehe Punkt II.3.2.1) und in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der beiden Verfahrensbeteiligten kann unter Berücksichtigung der im Patent beschriebenen Zielsetzung (siehe Absätze [0012] und [0019]) die objektive technische Aufgabe ausgehend von E1 darin gesehen werden, ein Walzgerüst zur Verfügung zu stellen, das derart ausgelegt ist, dass es in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße eingesetzt werden kann und dort eine flexibel variierbare Gesamtformänderung und eine Optimierung der Zugverhältnisse zwischen den Gerüsten bei einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße ermöglicht.
1.1.6 Die Verfahrensbeteiligten sind sich darin einig, dass ausgehend von E1 eine Vielzahl von Modifikationen nötig wäre, um das in E1 beschriebene Walzgerüst für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zu ertüchtigen.
Dabei wäre nicht nur das Untersetzungsgetriebe durch ein Übersetzungsgetriebe zu ersetzen, wie es auch gemäß Patent zum Einsatz gelangt (siehe Absatz [0048] des Patents: "Getriebezahnrad 9, welches mit einer Zwischenwelle 10 ... in kämmendem Eingriff steht"), um das Walzgerüst von E1 in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße einsetzen zu können. Vielmehr müsste, wie von beiden Verfahrensbeteiligten bestätigt, unter anderem zusätzlich auch der Motor, die Antriebswelle, die Lager und die Resonanzfrequenz neu ausgelegt werden.
Das in E1 offenbarte Walzgerüst ist also in seiner Gesamtheit anders ausgelegt als das in Anspruch 1 definierte Walzgerüst und fällt mithin in eine andere Gattung von Walzgerüsten (Walzgerüst für langsames Walzen) als das in Anspruch 1 definierte Walzgerüst (Walzgerüst für Hochgeschwindigkeitswalzen).
Auch wenn eine Fachperson für eine Weiterentwicklung ein beliebiges Walzgerüst in Betracht ziehen kann, so gibt dieses die Gattung den Rahmen vor, in dem die Weiterentwicklung stattfindet, d.h. man bleibt im Falle von E1 bei einer für langsamere Geschwindigkeiten ausgelegten Walzstraße. Eine Änderung der bewusst gewählten Gattung zu einer anderen, bereits vorher bekannten, aber nicht als Ausgangspunkt gewählten Gattung während der Weiterentwicklung (im vorliegenden Fall zu einem Walzgerüst für Hochgeschwindigkeits-walzen) kann - aufgrund der Vielzahl der nötigen Änderungen, die einer völligen Neukonstruktion gleichkommen - nur als Folge einer ex-post facto Analyse betrachtet werden, siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, Kapitel I.D.3.6.
1.1.7 Jede der Vielzahl von erforderlichen Adaptierungen zur Neuauslegung des Walzgerüsts nach E1 (wie die Wahl eines schnelleren Motors, eines anderen Getriebes, etc.) mag für sich genommen - wie von der Beschwerdegegnerin argumentiert - eine für die Fachperson ohne weiteres durchführbare und fachübliche Modifikation sein.
Ausgehend von E1 ist es für eine Fachperson jedoch nicht naheliegend, das in Figur 3 der E1 dargestellte Walzgerüst völlig neu auszulegen und fundamental mittels einer Vielzahl von erforderlichen Modifikationen umzugestalten, um dieses ausgerechnet für den speziellen Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock von Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraßen zu adaptieren.
1.1.8 E1 offenbart zwar in Spalte 7, Zeilen 3 bis 6, dass je nach Leistungs- und Geschwindigkeitsanforderungen das in Figur 3 dargestellte Ritzel 54A durch ein an der Welle eines Motors 57 befestigtes Zahnrad 56 angetrieben werden kann und dass vorzugsweise der Raum zwischen den Antriebsträgerplatten 50 und 51 genutzt werden kann, um ein Getriebegehäuse zu bilden.
Ausgehend von E1 liefert diese Offenbarung zu einem möglichen Einsatz eines Getriebes oder gar das allgemeine Fachwissen zu Getrieben jedoch keine Motivation, das darin beschriebene universelle Walzgerüst fundamental neu auszulegen und unter Durchführung einer Vielzahl von erforderlichen Modifikationen ausgerechnet für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zu adaptieren.
1.1.9 Eine derartige Neuauslegung auf einen speziellen Einsatz widerspräche auch der Zielsetzung von E1. E1 zielt schließlich gerade nicht auf ein spezialisiertes Drahtwalzgerüst ab, sondern möchte vielseitig einsetzbare Universalwalzwerke (siehe Spalte 2, Zeilen 31 bis 35) zum Walzen von metallischen Werkstücken mit Flach-, Stab-, Winkel-, Kanal-, Rund- und Vierkantprofil bereitstellen (siehe Spalte 1, Zeilen 24 bis 27 und Spalte 8, Zeilen 24 bis 26).
1.1.10 Die erforderliche Neuauslegung ist auch nicht dadurch motiviert, dass gemäß E1 unter anderem auch Stäbe ("rods") hergestellt werden können, die möglicherweise einen Querschnitt aufweisen können, den gemäß der in Absatz [0014] des Patents angegebenen breiten Definition auch Draht aufweisen kann ("wobei die Endquerschnitte des Drahts üblicherweise etwa 4 - 20 mm, vorzugsweise 5 bis 16 mm, betragen").
1.1.11 Auch die in E1 ausgelobte Vielseitigkeit und universelle Einsetzbarkeit (siehe Spalte 2, Zeilen 31 bis 35) liefert einer Fachperson keinen Anreiz, das in E1 beschriebene Walzgerüst fundamental umzugestalten, um es für den speziellen Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße einsetzen zu können. Eine Fachperson versteht unter einer Vielseitigkeit eines Walzgerüsts nicht, dass diese einen kompletten Abbau und Wiederaufbau des Walzgerüst mit völliger neuer konzeptueller Zielsetzung unter Verwendung eines neuen Motors, neuen Getriebes, neuer Lager und neuer Auslegung der Schwingungsresonanz und der zu tolerierenden Kräfte umfasst. Die in E1 ausgelobte Vielseitigkeit und universelle Einsetzbarkeit versteht eine Fachperson vielmehr derart, dass das Walzgerüst bei im Wesentlichen ähnlichen Aufbau und gleicher prinzipieller Auslegung für viele Walzprodukte direkt einsetzbar ist.
1.1.12 Die von den Verfahrensbeteiligten kontrovers diskutierte Frage, ob der Einsatz einer in E1 verwendeten "abknickenden Zwischenwelle" zudem im Widerspruch zu einem Einsatz des Walzgerüsts in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße steht, kann daher dahingestellt bleiben.
1.2 Ausgehend von E2
In Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten gilt in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit ausgehend von E2 die gleiche Argumentation wie ausgehend von E1, denn die Offenbarung in E2 entspricht im Wesentlichen der von E1.
1.3 Ausgehend von E5
E5 offenbart ein Walzgerüst für Barren und Bänder (siehe Seite 4, erster Absatz Figuren 1 und 2). Eine Offenbarung, dass das in E5 diskutierte Walzgerüst Teil eines Vor- oder Fertigwalzblocks einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße wäre, ist weder erkennbar, noch wurde Entsprechendes von der Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren vorgebracht.
E5 ist mithin für die Diskussion der erfinderischen Tätigkeit nicht relevanter als E1. In Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten gilt daher in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit die gleiche Argumentation wie ausgehend von E1.
Eine weitere Diskussion, ob E5 überhaupt einen Stand der Technik gemäß Artikel 54(2) EPÜ darstellt, erübrigt sich daher.
1.4 Zusammenfassend ist die Kammer daher der Ansicht, dass der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 ausgehend von dem zitierten Stand der Technik E1, E2 und E5 nicht naheliegend ist.
2. Zulassung von E7 bis E10
2.1 Die Dokumente E7 bis E10 wurden erstmals mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht.
Artikel 12(4) und (6) VOBK stellen es in das Ermessen der Kammer, Beweismittel nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können und sollen.
2.2 Die Beschwerdegegnerin rechtfertigt die Einreichung der neuen Dokumente E7 bis E10 damit, dass die Beschwerdeführerin erstmals während der zweiten mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in Frage gestellt habe, dass es sich bei E5 um einen Stand der Technik nach Artikel 54(2) EPÜ handle. Daher sei eine Nachrecherche erforderlich gewesen, um diesen Einwand der Beschwerdeführerin zu entkräften.
2.3 Ungeachtet der Frage, ob gegebenenfalls eine Nachrecherche zum Veröffentlichungsdatum von E5 gerechtfertigt war, ist nicht nachvollziehbar, warum deshalb das Einreichen weiterer Dokumente gerechtfertigt sein soll, die weder das Veröffentlichungsdatum von E5 belegen, noch eine zumindest vergleichbare technische Lehre wie E5 vermitteln. Die Dokumente E7 bis E10 werden zum Nachweis des Fachwissens zu Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraßen zitiert. Dieses Wissen ist jedoch nicht Gegenstand von Dokument E5, das ein Walzen von Bändern und Barren ("cast bar", siehe Seite 4, erster Absatz und Figuren 1 und 2) beschreibt.
2.4 Ferner erwächst aus dem Umstand, dass eine Patentinhaberin im Rahmen des Einspruchsverfahrens ein bereits verspätet vorgebrachtes Dokument ebenfalls verspätet als nicht relevant einstuft oder gar dessen Veröffentlichungsdatum anzweifelt, für eine Einsprechende kein Recht, beliebige weitere Dokumente oder gar völlig neue Angriffslinien im nachfolgenden Beschwerdeverfahren einzureichen.
Ein vollständiges Vorbringen aller ihrer Einwände unter Einreichung der dafür erforderlichen Beweismittel obliegt einer Einsprechenden vielmehr bereits im Rahmen der Einspruchsfrist. Das nachgeschaltete Beschwerdeverfahren dient schließlich maßgeblich nur der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung, wodurch dem Unterlegenen die Möglichkeit gegeben wird, die ihm nachteilige Entscheidung anzufechten und ein gerichtliches Urteil über die Richtigkeit einer erstinstanzlichen Entscheidung zu erwirken. Der faktische und rechtliche Rahmen des Einspruchsverfahrens ist mithin weitestgehend für das weitere Beschwerdeverfahren bestimmend (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, Kapitel V.A.4.1.2).
2.5 Selbst wenn man, wie im Rahmen der Zulassungsdiskussion während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer diskutiert, die prima facie Relevanz in Betracht zieht, kommt die Kammer in Übereinstimmung mit den Ausführungen in Punkt 8.4 der Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK zu dem Schluss, dass die neuen Argumentationslinien zur erfinderischen Tätigkeit ausgehend von E9 bzw. ausgehend von E1 (und entsprechend E2 oder E5) unter Berücksichtigung der Dokumente E7 bis E10 nicht prima facie relevant sind.
2.5.1 Die Beschwerdegegnerin reichte die Dokumente E7 (siehe Figur 3) und E9 (siehe Absatz [0024]) bzw. E10 (siehe Figur 3) als Beleg dafür ein, dass eine abgeknickte Verbindung einer Antriebswelle mit Arbeitswalzen über Kegelräder kein Ausschlusskriterium für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb darstellt. Die von den Verfahrensbeteiligten kontrovers diskutierte Frage, ob der Einsatz einer in E1 verwendeten "abknickenden Zwischenwelle" im Widerspruch zu einem Einsatz des Walzgerüsts in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße stehe, spielt allerdings für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit keine Rolle, siehe obigen Punkt 1.1.12.
2.5.2 E8 offenbart die Möglichkeit, ein schaltbares (Übersetzung-)Getriebe für einen Walzblock einzusetzen, insbesondere für Fertigwalzgerüste in Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraßen, siehe Spalte 1, Zeilen 1 bis 5 und Spalte 3, Zeilen 4 bis 25.
Da es, wie im obigen Punkt 1 dargelegt ausgehend von E1 oder E2 ohnehin nicht naheliegend ist, das darin beschriebene Walzgerüst fundamental umzugestalten, um es für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße zu ertüchtigen, ist die Offenbarung von E8 für die Angriffslinie ausgehend von E1 oder E2 nicht weiter relevant.
2.5.3 E9 in Kombination mit E10
E9 offenbart eine Klemmwalzeneinheit zum Antreiben oder Bremsen eines Produkts, das sich entlang der Walzbahn eines Walzgerüsts bewegt (siehe Anspruch 1). Diese Klemmwalzeinheit wird in einem Walzgerüst eingesetzt, bei dem Stäbe ("rod products") mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 m/sec gewalzt werden (siehe Absatz [0008]), also in einem Hochgeschwindigkeits-Walzgerüst.
Das Hochgeschwindigkeits-Walzgerüst umfasst gemäß Absatz [0024] von E9 auch einen Fertigwalzblock ("finishing mill") wie er aus U.S. Patent No. Re. 28,107 bekannt ist. E10 ist die entsprechende Parallelanmeldung zu U.S. Patent No. Re. 28,107.
E10 offenbart kein Walzgerüst gemäß Anspruch 1 von Hilfsantrag 1, bei dem der Motor, die Antriebswelle und ein Walzen- oder Walzringpaar linear zueinander angeordnet sind. In E10 ist der Motor vielmehr rechtwinklig zur Walze angeordnet (siehe Figur 3). Dies wird auch von der Beschwerdegegnerin selbst in ihrer Beschwerdeerwiderung auf Seite 7, vorletzter Satz des zweiten Absatzes im Wesentlichen so gesehen:
"wobei das dazu parallele Dokument E10 in Fig. 3 die abgeknickte Verbindung einer Antriebswelle 30 mit Arbeitswalzen 36 über Kegelräder 50, 52 zeigt"
E10 offenbart zudem weitere, zu den in den Figuren dargestellten Walzgerüsten alternative Ausführungsformen, siehe Seite 7, die letzten beiden Sätze des letzten vollständigen Absatzes.
Würde man dem Verweis in E9 auf E10 folgen und ohne erkennbare Veranlassung dann - um des Argumentes Willen - anstelle der in den Figuren dargestellten Walzgerüste ausgerechnet die auf Seite 7 von E10 beschriebenen alternative Ausführungsform berücksichtigen, so gelangt eine Fachperson nichtsdestotrotz nicht zu einem in Anspruch 1 definierten Walzgerüst.
Bei der alternativen Ausführungsform von E10, wonach die oberen und unteren Abtriebswellen parallel durch Einzelmotoren angetrieben werden können, sind der Motor und das Walzen- oder Walzringpaar nicht wie von Anspruch 1 gefordert linear zueinander angeordnet und auch nicht jedem Walzgerüst der Walzgerüst-Gruppe genau eine Antriebseinheit zugeordnet.
Für die weitere alternative Ausführungsform, wonach jedes Walzgerüst mit eigenem Antriebsmotor versehen sein kann, offenbart E10 nicht, in welcher Orientierung diese Motoren in Bezug auf die Antriebswellen und Walzenpaaren zu montieren sind.
Daher offenbart E10 ebenso wenig wie auch schon das Ausgangsdokument E9 ein Walzgerüst, bei dem wie von Anspruch 1 gefordert der Motor, die Antriebswelle und das Walzen- oder Walzringpaar linear zueinander angeordnet sind.
Die Kombination der Dokumente E9 und E10 führt daher schon aus diesen Gründen prima facie nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1.
2.5.4 E9 in Kombination mit E1 oder E2
Die Klemmwalzeinheit von E9 wird zwar in einem Walzgerüst eingesetzt, bei dem Stäbe ("rod products") mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 m/sec gewalzt werden (siehe Absatz [0008]) und das gemäß Absatz [0024] von E9 zusätzlich auch einen Fertigwalzblock ("finishing mill") aufweisen kann.
Ausgehend von E9 besteht allerdings keine Veranlassung, E1 oder E2 in Betracht zu ziehen, denn E1 und E2 weisen jeweils eine völlig andere Zielsetzung als E9 auf.
Nach E1 soll eine vielseitig einsetzbare Anlage bereitgestellt werden, die mit einem Minimum an Kapitalinvestitionen auskommt, so dass die Herstellung von Walzprodukten mit geringer Tonnage wirtschaftlich machbar ist, siehe Spalte 2, Zeilen 31 bis 35 von E1. E2 wiederum adressiert eine Konstruktion für ein Walzgerüst, bei der die beim Einstellen des Walzspalts zu überwindende Trägheit gering ist, siehe Spalte 1, Zeilen 51 bis 59.
E9 zielt dagegen darauf ab, Klemmwalzeneinheiten zu verbessern, um die Bewegung der Walzprodukte an verschiedenen Stellen entlang der Walzstraße besser anzutreiben und/oder zu verzögern, siehe Absatz [0002] von E9.
Zudem führt auch eine einfache Kombination von E9 mit E1 oder E2 nicht zum Gegenstand von Anspruch 1, denn das in E1 und E2 jeweils beschriebene Walzgerüst ist für den Einsatz in einem Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße nicht ohne weitere Adaption geeignet (siehe obige Diskussion in Punkt 1.1.7).
Die Kombination von E9 mit E1 oder E2 führt daher schon aus diesen Gründen prima facie nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1.
2.6 Die Kammer hat daher unter Ausübung ihres Ermessen nach Artikel 12(4) und (6) VOBK entschieden, die Dokumente E7 bis E10 nicht ins Verfahren zuzulassen.
3. Antrag auf Zurückverweisung
Die von der Beschwerdegegnerin hilfsweise beantragte Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung zur Prüfung der erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Dokumente E7 bis E10 und der darauf basierenden Angriffe, ist schon aus dem Grund nicht veranlasst, da die Kammer das entsprechende neue Vorbringen nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen hat.
Die Kammer hat daher dem Antrag auf Zurückverweisung nicht stattgegeben.
4. Zulassung des Einwands zur mangelnden Ausführbarkeit
4.1 In der ursprünglichen Einspruchsschrift wurde der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ erhoben. Die Einspruchsabteilung kam in ihrer Entscheidung vom 9. Februar 2018 bereits zu dem Schluss (siehe Punkt 2.1 der Entscheidungsgründe), dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegensteht.
Dieser Ansicht trat die Beschwerdegegnerin weder in dem zur Entscheidung T 0954/18 führenden Beschwerdeverfahren noch im nachfolgenden weiteren Einspruchsverfahren entgegen.
4.2 Auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren wurde im schriftlichen Vorbringen kein Einwand zur Ausführbarkeit erhoben und substantiiert.
Zwar findet sich im ersten Absatz auf Seite 7 der Beschwerdeerwiderung folgende Aussage zur Ausführbarkeit in Bezug auf das allgemeine Fachwissen:
"Wollte man daher mangelndes Fachwissen hinsichtlich der Adaption und Modifikation von Walzgerüsten zum Hochgeschwindigkeitsbetrieb unterstellen, wäre der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 gar nicht ausführbar offenbart."
Diese allgemeine Aussage stellt jedoch weder die explizite oder implizite Erhebung eines Einwands gegen die Ausführbarkeit noch eine substantiierte Argumentation dar. Zudem ist es im vorliegenden Fall zwischen den Verfahrensbeteiligten überhaupt nicht streitig, dass einer Fachperson bekannt ist, welche Erfordernisse ein Walzgerüst für ein Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße aufweisen muss und welche Modifikationen und Umbauten ausgehend von einem beliebigen Walzgerüst gegebenenfalls nötig wären, um ein derartige Walzgerüst bereitzustellen.
Das Gleiche gilt für weitere ähnliche indirekte Bezüge auf die Ausführbarkeit in der Beschwerdeerwiderung, wie beispielsweise auf Seite 10, Zeilen 1 bis 3:
"Geht man von der Ausführbarkeit der streitpatentgemäßen Lehre aus, steht auch die Anstellung der Walzenpaare aus E2 zueinander dem Hochgeschwindigkeitsbetrieb nicht im Wege."
4.3 Der im Rahmen der mündlichen Verhandlung erstmalig erhobene und spezifizierte Einwand zur Ausführbarkeit stellt daher nicht nur eine einfache Ergänzung eines bereits zuvor substantiierten Einwands dar, sondern eine Änderung des Beschwerdevorbringens zum spätest möglichen Zeitpunkt.
Die Zulassung derartiger Änderungen unterliegen gemäß Artikel 13(2) VOBK dem Ermessen der Kammer. Dabei hat die Kammer zu berücksichtigen, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, die die Zulassung des geänderten Vorbringens rechtfertigen.
Die Kammer kann im vorliegenden Fall keine außergewöhnlichen Umstände erkennen.
4.4 Insbesondere liegen keine außergewöhnlichen Umstände allein deswegen vor, dass die Beschwerdekammer der Argumentation der Beschwerdegegnerin zur erfinderischen Tätigkeit nicht folgt, oder sich der Einwand der mangelnden Ausführbarkeit vermeintlich direkt aus dem Umkehrschluss der Argumentation zur erfinderischen Tätigkeit unter Heranziehung einfacher Logik ableiten lassen soll. Vielmehr hätte es der Einsprechenden nach Artikel 12 (3) VOBK oblegen, einen entsprechenden Einwand, der sich vorliegend gegen die Kombination von zwei erteilten Ansprüchen richtet, frühzeitig geltend zu machen und zu substantiieren.
4.5 Zudem ist die neue Argumentationslinie, wie während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer diskutiert, auch prima facie nicht überzeugend. Selbst wenn es für eine Fachperson nicht naheliegend ist, ein vorhandenes für die Verwendung als Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstrasse ungeeignetes Walzgerüst völlig neu auszulegen und entsprechend für eine andere Eignung komplett umzukonstruieren, folgt daraus im Umkehrschluss nicht, dass eine Fachperson nicht in der Lage wäre, ein Walzgerüst für einen Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße herzustellen. Für die Ausführbarkeit der Erfindung ist es nicht erforderlich, dass ein Walzgerüst gemäß Anspruch 1 durch Umbau aus einem Walzgerüst einer anderen Auslegung bzw. Gattung erhalten werden kann. Vielmehr ist es ausreichend, wenn das Walzgerüst gemäß der Erfindung, im vorliegenden Fall eben ein Walzgerüst für einen Vor- oder Fertigwalzblock einer Hochgeschwindigkeits-Drahtwalzstraße, entsprechend der weiteren Merkmale von Anspruch 1 hergestellt werden kann, beispielsweise ausgehend von einem entsprechenden bekannten gattungsgemäßen Walzgerüst unter Anwendung fachüblicher Modifikationen. Dies wurde im vorliegenden Fall von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt.
4.6 Das Fehlen außergewöhnlicher Umstände lässt sich auch nicht durch den Hinweis auf die Amtsermittlungspflicht nach Artikel 114 (1) EPÜ umgehen.
Zwar gilt Artikel 114 (1) EPÜ auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings wird die in Artikel 114 (1) EPÜ verankerte Amtsermittlungspflicht insbesondere durch Artikel 114 (2) EPÜ ausdrücklich beschränkt, dem zufolge verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt bleiben können. In den Artikeln 12 und 13 VOBK wird dies weiter präzisiert. Obwohl Artikel 114 (1) EPÜ sich formal gesehen auch auf das Beschwerdeverfahren erstreckt, wird er in einem inter-partes-Beschwerdeverfahren generell restriktiver angewandt als im Einspruchsverfahren, denn das Beschwerdeverfahrens dient maßgeblich der Überprüfung der angefochtenen Entscheidung (Artikel 12(2) VOBK).
Wie von T 0182/89 bestätigt, ist Artikel 114 (1) EPÜ insbesondere nicht so auszulegen, als wäre eine Beschwerdekammer verpflichtet zu untersuchen, ob von einem Einsprechenden nicht substantiiert vorgetragene Einspruchsgründe begründet sind - schon gar nicht, wenn diese prima facie nicht relevant erscheinen; vielmehr ist er dahin gehend zu verstehen, dass die jeweilige Instanz in die Lage versetzt werden soll, die Einspruchsgründe in vollem Umfang zu überprüfen, die sowohl genannt als auch entsprechend substantiiert vorgetragen wurden, siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, Kapitel V.A.3.3.1.
4.7 Die Kammer hat daher unter Ausübung ihres Ermessen nach Artikel 13(2) VOBK entschieden, den neuen Einwand zur Ausführbarkeit nicht ins Verfahren zuzulassen.
5. Zur angepassten Beschreibung wurde keine Einwände seitens der Beschwerdegegnerin erhoben.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang aufrechtzuerhalten auf Grundlage
- der Ansprüche 1 bis 14 gemäß dem als Hilfsantrag 1
bezeichneten Antrag, erneut eingereicht mit der Beschwerdebegründung vom 26. Juni 2023 sowie
- Beschreibung Absatz [0030], eingereicht in der
mündlichen Verhandlung am 5. Juni 2025 sowie im Übrigen wie erteilt und
- Zeichnungen mit Figuren wie erteilt