T 1836/22 (AUFGESTICKTER VERPACKUNGSSTAHL/ThyssenKrupp) of 20.2.2024

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2024:T183622.20240220
Datum der Entscheidung: 20 Februar 2024
Aktenzeichen: T 1836/22
Anmeldenummer: 15747457.8
IPC-Klasse: C21D 8/02
C21D 9/46
C22C 38/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: VERFAHREN ZUR HERSTELLUNG EINES AUFGESTICKTEN VERPACKUNGSSTAHLS
Name des Anmelders: ThyssenKrupp Rasselstein GmbH
thyssenkrupp AG
Name des Einsprechenden: ArcelorMittal
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Spät eingereichte Anträge - außergewöhnliche Umstände (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1294/16
T 2295/19
T 1172/21
T 1800/21
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) und der Patentinhaberinnen (Beschwerdeführerinnen) betreffen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent EP 3 221 477 B1 auf Grundlage des Hilfsantrags 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, im geänderten Umfang aufrechtzuerhalten.

II. Am 15. Januar 2024, d.h. nach der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK, reichten die Patentinhaberinnen einen neuen Hauptantrag und Hilfsanträge 1, 2, 2A, 3, 3A, 4, 4A, 5, 5A, 6, 6A, 7, 8, 9, 9A, 10, 10A, 11, 11A, 12, 12A, 13, 13A, und 14 ein, die alle anhängigen Anträge ersetzten. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung vor der Kammer änderten die Patentinhaberinnen die Reihenfolge der Anträge, welche dann lautete:

Hauptantrag: bisheriger Hilfsantrag 2A,

Hilfsanträge 1-24: bisherige Hilfsanträge 3A, 4A, 5A, 6A, 9A, 10A, 11A, 12A, 13A, bisheriger Hauptantrag, bisherige Hilfsanträge 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14.

III. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (Streichung des im erteilten Anspruch 1 enthaltenen Merkmals 1.6 hervorgehoben):

1.1|"1. Verfahren zur Herstellung eines aufgestickten Verpackungsstahls aus einem warmgewalzten Stahlprodukt |

1.2|mit einem Kohlenstoffgehalt von 0,04 bis 0,12 Gew.%, |

1.3|sowie folgenden Obergrenzen für den Gewichtsanteil der Legierungsbestandteile: - Mn: max. 0,4 %, - Si: max. 0,04 %, - Al: max. 0,1 %, - Cr: max. 0,1 %, - P: max. 0,03 %, - Cu: max. 0,1 %, - Ni: max. 0,15 %, - Sn: max. 0,04 %, - As: max. 0,02 %, - S: max. 0,03%, - Mo: max. 0,05 %, - V: max. 0,04 %; - Ti: max. 0,05 %, - Nb: max. 0,05 %, - B: max. 0,005 %; - andere Legierungsbestandteile, einschl. Verunreinigungen: max. 0,05 % und Rest Eisen,|

1.4|gekennzeichnet durch folgende Schritte: - Kaltwalzen des Stahlprodukts zu einem Stahlflachprodukt; |

1.5|- rekristallisierendes Glühen des kaltgewalzten Stahlflachprodukts in einem Glühofen mittels Durchleiten des Stahlflachprodukts durch einen Durchlaufglühofen, in dem das Stahlflachprodukt zumindest kurzzeitig auf Temperaturen oberhalb der Ac1?Temperatur erhitzt wird, wobei in den Glühofen ein stickstoffhaltiges Gas eingeleitet und auf das Stahlflachprodukt gerichtet wird,|

1.6|um [deleted: ungebundenen Stickstoff in das Stahlflachprodukt in einer Menge entsprechend einer Konzentration von mehr als 0,021 Gew.% einzubringen oder] |

1.7|die Menge von ungebundenem Stickstoff im Stahlflachprodukt auf eine Konzentration von mehr als 0,021 Gew.% zu erhöhen; |

1.8|- Abkühlen des rekristallisierend geglühten Stahlflachprodukts auf Raumtemperatur |

1.9|mit einer Kühlrate von wenigstens 100 K/s unmittelbar nach dem rekristallisierenden Glühen." |

IV. Die Ansprüche 1 der Hilfsanträge 1-9, 11 und 18 (Bezeichnung nach Umnummerierung, vgl. Punkt II.) enthalten neben der Streichung des Merkmals 1.6 weitere Änderungen. Diese weiteren Änderungen zielen nicht auf ein Ersetzen des Merkmals 1.6 ab.

V. In den Ansprüchen 1 der Hilfsanträge 10, 12-17, 19-23 ist das Merkmal 1.6 nicht gestrichen worden. Weitere Änderungen in diesen Hilfsanträgen zielen nicht auf eine Einschränkung oder Ergänzung des Merkmals 1.6 ab.

VI. Im Hilfsantrag 24 wurden alle Verfahrensansprüche gestrichen. Anspruch 1 entspricht somit dem Anspruch 15 des Patents wie erteilt, wobei der optionale Bezug auf die Verfahrensansprüche gestrichen wurde. Anspruch 1 des Hilfsantrags 24 lautet somit:

"1. Kaltgewalztes Stahlflachprodukt zur Verwendung als Verpackungsstahl[deleted: und insbesondere hergestellt mit dem Verfahren nach einem der voranstehenden Ansprüche], mit einem Kohlenstoffgehalt von 0,04 bis 0,12 Gew.%, einem Gewichtsanteil von ungebundenem Stickstoff von mehr als 0,021 Gew.% sowie folgenden Obergrenzen für den Gewichtsanteil der Legierungsbestandteile:

- Mn: max. 0,4 %,

- Si: max. 0,04 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- Al: max. 0,1 %, bevorzugt weniger als 0,08 %;

- Cr: max. 0,1 %, bevorzugt weniger als 0,08 %;

- P: max. 0,03 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- Cu: max. 0,1 %, bevorzugt weniger als 0,08 %;

- Ni: max. 0,15 %, bevorzugt weniger als 0,08 %;

- Sn: max. 0,04 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- As: max. 0,02 %,

- S: max. 0,03%, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- Mo: max. 0,05 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- V: max. 0,04 %;

- Ti: max. 0,05 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- Nb: max. 0,05 %, bevorzugt weniger als 0,02 %;

- B: max. 0,005 %;

andere Legierungsbestandteile, einschl. Verunreinigungen: max. 0,05 % und Rest Eisen, wobei das Stahlflachprodukt ein mehrphasiges Gefüge, das Ferrit und mindestens einen der Gefügebestandteile Martensit, Bainit und/oder Troostit sowie ggf. Restaustenit umfasst, sowie eine Zugfestigkeit von mehr als 650 MPa und eine Bruchdehnung von mehr als 5% aufweist."

VII. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Patentinhaberinnen können wie folgt zusammengefasst werden:

Zulassung, Artikel 13(2) VOBK

Der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1-9, 11, 18 und 24 seien im Sinne von Artikel 13(2) VOBK zu berücksichtigen, weil außergewöhnliche Umstände vorlägen.

Änderungen, Artikel 123(2) EPÜ

Die Änderungen in den Hilfsanträgen 10, 12-17, 19-23 seien bei einer widerspruchsfreien Auslegung der Merkmale 1.6 und 1.7 des Anspruchs 1 in der ursprünglichen Beschreibung offenbart.

VIII. Die für die Entscheidung relevanten Argumente der Einsprechenden können wie folgt zusammengefasst werden:

Zulassung, Artikel 13(2) VOBK

Der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1-9, 11, 18 und 24 seien zu spät eingereicht worden. Außergewöhnliche Umstände lägen nicht vor.

Änderungen, Artikel 123(2) EPÜ

Das Merkmal 1.6 der Hilfsanträge 10, 12-17, 19-23 verstoße gegen die Erfordernisse des Artikel 123(2) EPÜ.

IX. Die Beschwerdeführerinnen (Patentinhaberinnen) beantragten somit die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage des neuen Hauptantrags (ehemaliger Hilfsantrag 2A), hilfsweise auf der Grundlage eines der bisherigen Hilfsanträge 3A, 4A, 5A, 6A, 9A, 10A, 11A, 12A, 13A (neue Hilfsanträge

1 bis 9) oder des bisherigen Hauptantrags (neuer Hilfsantrag 10) oder der bisherigen Hilfsanträge

1 bis 14 (neue Hilfsanträge 11 bis 24).

X. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents

Entscheidungsgründe

1. Zulassung Hauptantrag und Hilfsanträge 1-9, 11 und 18

Nach Auffassung der Patentinhaberinnen stelle die Streichung einer Alternative keine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Selbst wenn die Streichung als Änderung anzusehen sei, lägen außergewöhnliche Umstände vor. So seien die genannten Anträge den Patentinhaberinnen zufolge als Reaktion auf die Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK eingereicht worden. In der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK, Absatz 1.3, sei zur Beurteilung des nun gestrichenen Merkmals (Merkmal 1.6) eine Interpretation zugrunde gelegt worden, die im bisherigen Verfahren noch nicht vorgetragen worden sei.

Die Patentinhaberinnen sind der Auffassung, dass die Einsprechende nie den Einwand erhob, dass das Merkmal 1.6 besage, zusätzlich 210 ppm ungebundenen (freien) Stickstoff in den Stahl einzubringen. Das Argument der Einsprechenden sei immer gewesen, dass es nicht möglich sei, 210 ppm in einem einzigen Schritt einzubringen und sich deshalb dieser Wert auf ein zweistufiges Verfahren beziehen müsse.

Die Einsprechende argumentiert hingegen, dass die von der Kammer vorgenommene Interpretation bereits im Einspruchs­schriftsatz sowie in der Beschwerdebe­gründung, jeweils im Absatz 1.1, enthalten sei. Die Änderung sei daher schon im Verfahren, das zur angefochtenen Entscheidung führte, vorzunehmen gewesen.

Die Kammer geht davon aus , dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern sich mittlerweile dahin entwickelt hat, dass jegliche Abwandlung von Anträgen, hier also auch die Streichung der Alternative in Anspruch 1, eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstellt (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage (2022), Kapitel V.A.4.2.2 d) sowie T 2295/19, Gründe 3.4.1-3.4.5). Angesichts des späten Vorbringens im Beschwerdeverfahren liegt es daher nur dann im Ermessen der Kammer, diese Änderung zuzulassen, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, (Artikel 13 (2) VOBK).

Außergewöhnliche Umstände sind hier jedoch nicht zu erkennen.

Die Einsprechende argumentierte im Einspruchsschrift­satz, Absatz 1.1, dass das Merkmal 1.6 ein Einbringen von 0,021% ungebundenen Stickstoff fordere, wobei der Endgehalt an ungebundenen Stickstoff unbestimmt sei. Sie argumentierte weiter, dass der ursprüngliche Anspruch 16, den die Patentinhaberinnen als Grundlage für diese Änderung angaben, nur den Endgehalt des freien Stickstoffs definiere, was nicht der Ausführungsform nach Merkmal 1.6 entspreche.

In der Beschwerdebegründung wurde diese Argumentation aufrechterhalten. In Absatz 1.1 beanstandete die Einsprechende wieder, dass das Merkmal 1.6 ein Einbringen von 0,021% ungebundenen Stickstoff fordere, wobei der Endgehalt an ungebundenen Stickstoff unbestimmt sei. Der ursprüngliche Anspruch 16 und die weiteren von den Patentinhaberinnen genannten ursprünglichen Ansprüche 7 und 8 forderten nur eine bestimmte Konzentration an ungebundenen Stickstoff nach dem Rekristallisationsglühen. Nichts anderes offenbare die ebenfalls von den Patentinhaberinnen genannte Zeile 22 der Seite 3 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung.

Ungebundenen Stickstoff in das Stahlflachprodukt in einer Menge einzubringen, die dieser Konzentration entspreche, sei jedoch in keiner der genannten Stellen offenbart.

Die Einsprechende hat daher bereits im Einspruchsschriftsatz einen Einwand gegen das Merkmal 1.6 erhoben. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass dieser Einwand nicht im gesamten Verfahren, das zur angefochtenen Entscheidung führte, aufrecht­erhalten wurde. Auch in der Beschwerdebegründung erhob die Einsprechende diesen Einwand.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK eine neue Interpretation des Merkmals 1.6 vorgenommen hätte. Die Argumentation der Einsprechenden fußte bereits auf einem Verständnis des Merkmals 1.6 dahingehend, dass freier Stickstoff bereits vor dem Rekristallisationsglühen vorhanden sein kann. Die Einsprechende argumentierte durchgehend, dass dem Merkmal 1.6 zufolge eine Menge von mindestens 210 ppm ungebundenem Stickstoff einzubringen sei, wodurch keine Information zur Endkonzentration im Stahl bekannt sei. Diese wortreiche Umschreibung kann als ein zusätzliches Einbringen von 210 ppm ungebundenem Stickstoff zusammengefasst werden.

Die Einsprechende trägt in einem Punkt ihrer Argumentation unter Artikel 100 c) EPÜ/Artikel 123(2) EPÜ zum Offenbarungsgehalt der ursprünglichen Anmeldung im Hinblick auf einstufige und zweistufige Aufstickungsverfahren vor. Dies beschränkt den erhobenen Einwand jedoch nicht dahingehend, dass die Patentinhaberinnen lediglich zeigen müssten, dass dieser eine Punkt nicht korrekt sei.

Darüber hinaus haben die Patentinhaberinnen auf diesen Einwand im früheren Hilfsantrag 8, den sie mit der Erwiderung auf die Beschwerde der Einsprechenden vorgelegt haben, durch Streichen des Merkmals 1.6 reagiert. Auch die früheren Hilfsanträge 6 und 7, die mit derselben Eingabe vorgelegt wurden, enthalten Änderungen, die augenscheinlich den Zweck verfolgen, den Einwand gegen das Merkmal 1.6 zu beheben. Die Patentinhaberinnen haben somit gezeigt, dass sie sich des Einwands gewahr waren und auch Gelegenheit hatten, auf den Einwand zu reagieren.

Die vorliegende Streichung hätte somit bereits im Verfahren, das zur angefochtenen Entscheidung geführt hat, jedenfalls aber mit der Erwiderung auf die Beschwerde der Einsprechenden vorgelegt werden sollen.

Die vorgeschlagenen Änderungen sind zudem der Verfahrensökonomie nicht zuträglich und beheben nicht prima facie alle Einwände der Einsprechenden. Zwar wird in den genannten Anträgen ein einzelner Einwand, nämlich der betreffend das Merkmal 1.6, durch Streichen dieses Merkmals unbestritten ausgeräumt. Jedoch spricht schon allein die Vielzahl dieser neuen Anträge und das Beibehalten der entsprechenden vorherigen Fassungen (enthaltend Merkmal 1.6), wenn auch als nachrangige Anträge, gegen eine Verbesserung der Verfahrensökonomie. Die Patentinhaberinnen ersetzten mit ihrer Eingabe vom 15. Januar 2024 den Hauptantrag und die 25 Hilfsanträge, die in der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurden, durch einen neuen Hauptantrag und 24 Hilfsanträge, wobei lediglich 11 der Anspruchsanträge im Vergleich zur Beschwerdeerwiderung unverändert blieben.

Die Änderungen im neuen Hauptantrag und den neuen Hilfsanträgen 1-9, 11 und 18 etablierten daher erst nachdem in der vorläufigen Meinung der Kammer der Auffassung der Einsprechenden gefolgt wurde, neue Rückfallpositionen mit dem Zweck, das Patent gegen alle verbliebenen, durch die Einsprechende erhobenen Einwände zu verteidigen. Diese Anträge sind nicht konvergent, was die Patentinhaberinnen mit der Vielzahl der Einwände, auf die zu reagieren sei, begründeten.

Bereits dieser Umstand weist auch darauf hin, dass es keineswegs ersichtlich ist, dass mit den neuen Anspruchsanträgen prima facie alle, von der Einsprechenden erhobenen Einwände behoben würden.

Dies gilt auch für den neuen Hauptantrag. Zwar beruht dieser auf einer Kombination von Ansprüchen der erteilten Fassung, so dass Klarheitsmängel nicht geprüft werden können (G 3/14, Leitsatz). Jedoch ist der Einwand der Einsprechenden unter Artikel 123(2) EPÜ, demzufolge das Merkmal 1.5 nicht unweigerlich zu einem mehrphasigen Gefüge führe, weil es sich nur um eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung handle, nicht offensichtlich unbegründet. Auch der Einwand der Einsprechenden unter Artikel 83 EPÜ, demzufolge es nicht ausreichend offenbart sei, wie eine Konzentrationsverteilung des ungebundenen Stickstoffs im Stahlflachprodukt von ±10 ppm um den Mittelwert erreicht werden könne, ist nicht offensichtlich unbegründet.

Der Sonderfall, in dem außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13(2) EPÜ darin gesehen werden könnten, dass durch eine unkomplizierte Änderung wie durch das Streichen einer gesamten Anspruchskategorie eine Antragsfassung vorliegt, auf deren Basis das Patent erkennbar aufrechterhalten werden kann (vgl. T 2295/19, Gründe 3.4.11, zwischenzeitlich von der hiesigen Kammer bestätigt in T 1800/21, Gründe 3.4.6), liegt dementsprechend hier nicht vor.

Daher können außergewöhnlichen Umstände nicht durch eine verbesserte Verfahrensökonomie begründet werden (T 1294/16 Punkt 18.3).

Der Hauptantrag und die Hilfsanträge 1-9, 11 und 18 werden daher nicht zugelassen (Artikel 13(2) VOBK).

2. Änderungen, Artikel 123(2) EPÜ, Hilfsanträge 10, 12-17, 19-23

Die Patentinhaberinnen argumentieren, dass sich das Merkmal 1.6 auf ein einstufiges Verfahren beziehe, wobei der eingesetzte Stahl keinen ungebundenen Stickstoff enthalte, weil er in der Legierungszusammensetzung des eingesetzten Stahls nicht angegeben sei. Das Erreichen einer Konzentration von 210 ppm ungebundenem Stickstoff sei in diesem Fall identisch mit dem Einbringen von 210 ppm ungebundenem Stickstoff. Mit dieser Interpretation sei das Merkmal 1.6 klar und habe eine Grundlage in der Beschreibung wie ursprünglich eingereicht.

Dagegen beziehe sich das Merkmal 1.7 auf ein zweistufiges Verfahren.

Eine davon abweichende Interpretation der durch die Merkmale 1.6 und 1.7 umfassten Alternativen führe zu einer Unklarheit, denn das Merkmal 1.6 bedinge auf jeden Fall, dass das Merkmal 1.7 erreicht werde. Das Merkmal 1.7 erscheine daher redundant zum Merkmal 1.6. Anspruch 1 betreffe dann keine echten Alternativen bezüglich der Merkmale 1.6 und 1.7. Angesichts dieser Unklarheit würde die Fachperson die Beschreibung konsultieren und unmittelbar zum Ergebnis kommen, dass das Merkmal 1.6 das einstufige Aufsticken eines Stahls ohne ungebundenen Stickstoff betreffe, während das Merkmal 1.7 das zweistufige Aufstickungsverfahren betreffe.

Die von den Patentinhaberinnen vorgetragene Interpretation ist durch den Wortlaut des Anspruchs 1 nicht gestützt. Anspruch 1 definiert keinen Maximalgehalt an Stickstoff für den eingesetzten Stahl. Daher gilt der Maximalgehalt von 0,05% (d.h. 500 ppm) für nicht in den Merkmalen 1.2 und 1.3 erwähnte Legierungsbestandteile bzw. unvermeidbare Verunreinigungen. Innerhalb dieses Rahmens kann sich auch der Anteil an ungebundenem Stickstoff im eingesetzten Stahl bewegen.

Darüber hinaus unterscheidet Anspruch 1 nicht zwischen einem einstufigen und einem zweistufigen Aufstickungsverfahren. Die Zuordnung des Merkmals 1.6 zu einem einstufigen Verfahren kann sich aus Anspruch 1 schon deshalb nicht ergeben.

Die Merkmale 1.6 und 1.7 betreffen zwei alternative Ausführungsformen des Anspruchs 1. Jede dieser Alternativen definiert den beanspruchten Gegenstand in klarer, unzweideutiger Weise.

Nur wenn diese beiden Alternativen gegenübergestellt werden, erkennt die Fachperson, dass die Alternative, die das Einbringen von 210 ppm ungebundenen Stickstoff fordert (Merkmal 1.6) auf jeden Fall zu einer Konzentration von 210 ppm ungebundenem Stickstoff führt und somit die andere beanspruchte Alternative bedingt. Die Fachperson hat daher den Eindruck, dass allenfalls gegen das Erfordernis der Knappheit bzw. gegen die Regel 43(4) EPÜ verstoßen wurde, weil das Merkmal 1.6 nicht in einem abhängigen Anspruch formuliert wurde.

Der Verstoß gegen diese Formvorschrift führt allerdings nicht dazu, dass die jeweilige Alternative, auf die sich die technischen Merkmale 1.6 und 1.7 beziehen, unklar wird. Die Fachperson kann daher den Anspruch 1 ohne Schwierigkeiten verstehen und hat keinen Anlass, das sich für sie ergebende klare Verständnis durch einen Rückgriff auf die Beschreibung in Frage zu stellen und durch ein komplett anderes Verständnis zu ersetzen.

Die Patentinhaberinnen verweisen ferner auf die Ansprüche 16 und 7 der ursprünglich eingereichten Fassung sowie auf Seite 3, Zeilen 19 ff.

Die Ansprüche 16 und 7 gäben die Konzentration des ungebundenen Stickstoffs an. Seite 3, Zeilen 19 ff. offenbarten, dass der aufgestickte Verpackungsstahl ungebundenen Stickstoff von mehr als 100 ppm, 150 ppm oder 210 ppm enthalte, wobei stickstoffhaltiges Gas in den Glühofen eingeleitet werde, um den ungebundenen Stickstoff im Stahlflachprodukt entsprechend einer Konzentration von mehr als 100 ppm einzubringen oder auf eine Konzentration von mehr als 100 ppm zu erhöhen.

Die zwei Nennungen von 100 ppm am Ende des Satzes seien nur durch 210 ppm ersetzt worden.

Es ist anhand der Legierungszusammensetzung des Endprodukts gemäß dem ursprünglichen Anspruch 16 nicht ersichtlich, wie viel ungebundener Stickstoff in das Ausgangsprodukt durch das in Anspruch 1 beanspruchte Verfahren eingebracht wurde. Das gilt auch für alle weiteren Textstellen, die den Stickstoffgehalt im Endprodukt angeben, wie zum Beispiel Ansprüche 7 und 8 sowie die ursprüngliche Beschreibung auf den Seiten 10 und 11. In letzteren wird zwar die Legierungszusammensetzung des Ausgangsprodukts im Kontext eines ersten Ausführungsbeispiels angegeben, die Konzentration des ungebundenen Stickstoffs wird jedoch wieder als Konzentration im Endprodukt angegeben. Welches Konzentrationsäquivalent ungebundener Stickstoff in das Stahlflachprodukt eingebracht wurde, ist daraus nicht ersichtlich.

Dies gilt auch für die Offenbarung wie ursprünglich eingereicht auf der Seite 3 (siehe insbesondere die Zeilen 19-22), die sich ebenso auf die Menge an ungebundenem Stickstoff im aufgestickten Verpackungsstahl bezieht.

Es ist insbesondere nicht unmittelbar und eindeutig offenbart, dass in den beiden Verfahrensschritten auf der Seite 3, Zeilen 27 und 29 ein Wert von 210 ppm aus der Zeile 22 dieser Seite, in der alternative Konzentrationen von ungebundenen Stickstoff im Endprodukt beschrieben sind, eingesetzt werden kann. Eine Zuordnung der beschriebenen Verfahrensschritte zu einem bestimmten Ausgangsprodukt, das nach Seite 3, Zeile 23 warmgewalzt und ggf. aufgestickt sein kann, findet nämlich auch dort nicht statt.

Auch wenn die Kombinationen in mancher Hinsicht als naheliegend angesehen werden können, sind sie nicht unmittelbar und eindeutig offenbart (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage (2022), Kapitel II.E.1.3.4 a)).

Seite 6 der Beschreibung, wie ursprünglich eingereicht, offenbart Möglichkeiten zum zusätzlichen Einbringen von ungebundenem Stickstoff. Dort sind jedoch alternative Verfahren und Wertebereiche zum Erreichen der Aufstickung angegeben.

Seite 6 offenbart in Zeilen 15-17 ein zweistufiges Aufsticken, um ungebundenen Stickstoff in einer Gesamtmenge zwischen 100 und 500 ppm bzw. im besonders bevorzugten Bereich zwischen 210 und 350 ppm einzubringen. Der letzte vollständige Satz dieser Seite offenbart, dass bei Anwendung beider Aufstickstufen die Gesamtmenge des eingebrachten ungebundenen Stickstoff bevorzugt mehr als 210 ppm bis 500 ppm betragen kann.

Zeile 24 ff. offenbart, dass das Aufsticken alternativ auch einstufig in einem Durchlaufofen während des Rekristallisierungsglühens erfolgen kann. Dabei ist die zusätzlich einbringbare Menge von ungebundenem Stickstoff jedoch auf 100-350 ppm beschränkt (Zeilen 29-31).

Es geht daraus nicht unmittelbar und eindeutig hervor, dass die Untergrenze des bevorzugten Wertebereichs für das zweistufige Verfahren auch beim einstufigen Verfahren Anwendung findet. Zwar ist der Wert von 210 ppm im Wertebereich des einstufigen Verfahrens umfasst, jedoch nicht konkret offenbart.

Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Änderung auch Varianten, die der Fachperson im Lichte der ursprünglichen Offenbarung naheliegend erscheinen, nicht als unmittelbar und eindeutig offenbart angesehen werden können (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage, (2022), Kapitel II.E.1.3.4 a)).

Da Anspruch 1 in jedem der Hilfsanträge 10, 12-17, 19-23 das Merkmal 1.6 enthält, verletzen diese die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ.

3. Zulassung Hilfsantrag 24

Hilfsantrag 24 ist den Patentinhaberinnen zufolge eine Reaktion auf die Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK. Er ist auf den Produktanspruch, im Wesentlichen wie erteilt, gerichtet.

Diese Kammer ist wie oben ausgeführt der Auffassung, dass die Streichung aller Verfahrensansprüche eine Änderung des Beschwerdevorbringens darstellt (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage (2022), Kapitel V.A.4.2.2 d) sowie T 2295/19, Gründe 3.4.1-3.4.5). Nur falls außergewöhnliche Umstände vorliegen, liegt es daher im Ermessen der Kammer, diese Änderung zuzulassen (Artikel 13(2) VOBK).

Hilfsantrag 24 wurde eingereicht, weil die Kammer in der vorläufigen Meinung in einigen Punkten der Auffassung der Einsprechenden gefolgt ist und somit mit einem Scheitern der Verteidigung der übergeordneten Anträge gerechnet werden musste.

Eine derartige Situation stellt keine außergewöhnlichen Umstände dar, wie bereits im Hinblick auf die anderen neuen Anträge ausgeführt wurde (siehe oben Punkt 1.). Im Beschwerdeverfahren hat jede Beteiligte ihren Fall am Anfang des Verfahrens darzulegen und dabei gegebenenfalls umgehend auf das Vorbringen der Gegenseite zu reagieren und nicht erst dann, wenn sie sich mit einer negativen Meinung der Kammer konfrontiert sieht.

In Hilfsantrag 24 wurden sämtliche Verfahrensansprüche gestrichen, so dass dadurch die diese betreffenden Einwände zweifelsohne ausgeräumt wurden. Bei einer derartigen Änderung können außergewöhnliche Umstände vorliegen (T 2295/19, Gründe 3.4.11). Diese erlauben dann eine positive Ermessensausübung, wenn die Änderung den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens nicht verschiebt, keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes bedingt und weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie, noch den berechtigten Interessen einer Verfahrenspartei zuwiderläuft (vgl. T 1800/21, Gründe 3.4.2 bis 3.4.6). Dies ist hier jedoch, wie im Folgenden dargelegt, nicht der Fall.

Hilfsantrag 24 trägt nichts zur Verfahrensökonomie bei, denn er führt in diesem fortgeschrittenen Verfahrensstadium lediglich eine bisher noch nicht verfolgte, letztrangige Rückfallposition zusätzlich ein. Sie kommt daher erst zum Tragen, nachdem die Verteidigung der übergeordneten Anträge gescheitert ist.

Daher können außergewöhnlichen Umstände nicht durch eine verbesserte Verfahrensökonomie begründet werden (T 1294/16, Gründe 18.3).

Die Streichung der Verfahrensansprüche führt auch nicht dazu, dass der verbleibende Produktanspruch prima facie gewährbar wäre. Von den Einwänden der Einsprechenden unter Artikel 123(3) EPÜ, Artikel 83 EPÜ, Artikel 54(1) und (2) EPÜ, sowie Artikel 56 EPÜ sind zumindest die Einwände unter Artikel 56 EPÜ nicht auf prima facie Basis als unbegründet zu bewerten.

Das unterscheidet diesen von dem von den Patentinhaberinnen genannten Fall T 1172/21 (Gründe 2). Die Einsprechende hatte darin keine Einwände gegen die Streichung von abhängigen Ansprüchen, so dass keine Diskussion nötig war.

Auch das spricht gegen außergewöhnliche Umstände durch eine verbesserte Verfahrensökonomie.

Hilfsantrag 24 bewegt vielmehr das Gewicht des Beschwerdeverfahrens von den Verfahrensansprüchen zu einem Produktanspruch.

Zu keinem Zeitpunkt war es absehbar, dass die Patentinhaberinnen den Produktanspruch alleine verfolgen würden. Der Fokus im bisherigen Verfahren lag eindeutig auf den Verfahrensansprüchen. Entsprechend fußten die Einwände der Einsprechenden gegen den Produktanspruch darauf, diesen als Ergebnis des Verfahrens zu behandeln.

Die Streichung der Verfahrensansprüche dürfte daher dazu führen, dass der Einsprechenden ebenso eine Neugewichtung der Einwände zugestanden werden müsste.

Das unterscheidet diesen ebenso von dem von den Patentinhaberinnen genannten Fall T 2295/19 (Gründe 3.4.14).

Außergewöhnliche Gründe, die eine positive Ermessensausübung rechtfertigen könnten, liegen im Ergebnis also nicht vor. Daher ist der Hilfsantrag 24 nicht zu berücksichtigen (Artikel 13(2) VOBK).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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