European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2024:T073122.20240313 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 13 März 2024 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0731/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 13700031.1 | ||||||||
IPC-Klasse: | B29C 73/16 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | RÜCKFLUSSSICHERUNG | ||||||||
Name des Anmelders: | Continental Reifen Deutschland GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | ITW GLOBAL TIRE REPAIR EUROPE GMBH | ||||||||
Kammer: | 3.2.05 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Neuheit - Hauptantrag (ja) Zulassung - Hilfsantrag (ja) Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung (ja) |
||||||||
Orientierungssatz: |
- |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 807 018 (das Patent) zurückzuweisen.
II. Der Einspruch war gegen das Streitpatent in vollem Umfang eingelegt und auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ (fehlende Neuheit) und Artikel 56 EPÜ (mangelnde erfinderische Tätigkeit) gestützt worden.
III. Am 13. März 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.
IV. Anträge
Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents, sowie die Nichtzulassung der Hilfsanträge 2 und 3, hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung.
V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis der Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen 2 oder 3, eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung.
VI. In dieser Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:
D1: DE 10 2008 015 022 B3;
D3: JP 2009 056681 A;
D3": von der Beschwerdegegnerin veranlasste und
eingereichte englische Übersetzung des
Dokuments D3 durch ein Übersetzungsbüro.
VII. Der Wortlaut des erteilten unabhängigen Anspruchs 1 lautet wie folgt (die von der Einspruchsabteilung verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern eingefügt):
"[M1] Pannenhilfesystem zum Abdichten und Aufpumpen von Kraftfahrzeugreifen, wobei das Pannenhilfesystem folgende Einrichtungen umfasst:
[M2] - eine Druckgasquelle, vorzugsweise einen Kompressor,
[M3]- einen Behälter (1) für ein in den Kraftfahrzeugreifen einfüllbares selbsttätiges Dichtmittel (8), wobei der Behälter (1) eine an seinem oberen Ende befindlichen [sic] Behälteröffnung (5) aufweist,
[M4]- eine mit dem Behälter (1) verbundene Verteilereinheit (2) für Dichtmittel und Druckgas, [M5] wobei die Verteilereinheit (2) als Deckel für die Behälteröffnung (5) ausgebildet und mit einer an die Druckgasquelle anschließbaren Einlassleitung (3) und einer an den Kraftfahrzeugreifen anschließbaren Auslassleitung (4) versehen ist,
[M6] - und wobei die Einlassleitung (3) ein Einlassventil mit einem Einlassventilkörper (10) aufweist, wobei die Auslassleitung (4) an ihrem reifenseitigen Ende ein durch Anschluss an ein Reifenventil (12) öffnendes Auslassventil (13) aufweist, [M7] - wobei das Einlassventil den Einlaßkanal [sic] öffnet, sobald der Druck durch die Druckquelle größer wird als der Druck innerhalb des Behälters bzw. der Dichtmittelflasche,
dadurch gekennzeichnet, dass [M8] [M8.1] das Einlassventil bei einer über das Auslassventil (13) erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter kompressorseitig den Behälter dadurch schließt, dass [M8.2] der Einlassventilkörper (10) schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird."
VIII. Hilfsanträge
Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 enthält im Vergleich zu dem erteilten Anspruch 1 das folgende geänderte Merkmal M8.2: "dass der Einlassventilkörper (10) schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird, wobei die Einlassleitung (3) in einen mit der Behälteröffnung kommunizierenden Einlassstutzen führt, welcher als Ringraum-Leitung (9) ausgebildet ist und der Einlassventilkörper (10) aus einer in die Ringraum-Leitung eingesetzte [sic] O-Ring-Dichtung besteht."
Der Hilfsantrag 3 ist nicht Gegenstand der vorliegenden Entscheidung, weshalb dessen Wortwahl hier nicht wiedergegeben wird.
IX. Die Beteiligten haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
a) Auslegung des Merkmals M8 des erteilten Anspruchs 1 und Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D3
i) Beschwerdeführerin (Einsprechende)
Bei dem erteilten Anspruch 1 handle es sich um einen Vorrichtungsanspruch. Das Merkmal M8.1, das das Einlassventil näher spezifiziere, sei funktionell formuliert, indem die Arbeitsweise des Ventils im Falle einer Druckerhöhung über das Auslassventil beschrieben werde. Da es sich um einen Vorrichtungsanspruch und nicht um einen Verfahrensanspruch handle, dürfe dieser Teil des Merkmals M8.1 nicht einschränkend ausgelegt werden. Es sei gängige Rechtsprechung, dass die Verwendung kein Vorrichtungsmerkmal darstelle (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage, Juli 2022, "Rechtsprechung", I.C.5.2.5). Im vorliegenden Fall seien beide Vorrichtungen, das Einlassventil 10 des erteilten Anspruchs 1 und das Ventil 38a des Dokuments D3, strukturell gleich. Gemäß der Rechtsprechung sei die beanspruchte Erfindung nicht neu, wenn sich die bekannte Vorrichtung für die beanspruchte Verwendung eigne. Dies treffe vorliegend zu, da im Falle einer aus irgendwelchen Gründen stattfindenden Druckerhöhung im Behälter das Ventil 38a kompressorseitig den Behälter dadurch schließe, dass der Einlassventilkörper schließend auf seinen Dichtsitz gepresst werde (siehe Dokument D3/D3", Figur 5 und Absatz [0040])
Des Weiteren enthalte der erteilte Anspruch 1 keinen Disclaimer, so dass ein zusätzliches Ventil nicht ausgeschlossen sei.
Da seitens der Beschwerdegegnerin nicht bestritten werde, dass das Ventil 38a des Dokuments D3 bei einer Druckerhöhung im Behälter gemäß dem Merkmal M8.2 schließend in seinen Dichtsitz gedrückt werde, sei der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 nicht neu gegenüber dem Dokument D3.
ii) Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)
Das Dokument D3 offenbare ein Ventil 38a, das gemäß Absatz [0040] des Dokuments D3/D3" in Schließrichtung wirke, wenn der externe Druck abnehme oder der interne Druck ansteige. Diese Offenbarung müsse im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Das Ziel des Dokuments D3 sei es, ein Auslaufen des Reifendichtmittels während des Transports in einem Flugzeug zu verhindern (siehe Dokument D3/D3", Absätze [0038], [0039]). Im Gegensatz dazu gehe es bei der vorliegenden Erfindung darum, zu vermeiden, dass wegen des in den Behälter einströmenden Restdrucks im Reifen das Dichtmittel aus dem Behälter in die Umgebung austrete oder in den noch nicht eingeschalteten Kompressor befördert werde. Die Eignung des Ventils 38a des Dokuments D3 "bei einer über das Auslassventil 13 erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter" gemäß Merkmal M8.1 ergebe sich daher nicht aus der Beschreibung des Dokuments D3, sondern erst aus einer Interpretation der Figuren des Dokuments D3 mit dem Wissen der Erfindung.
Auch wenn das Merkmal M8.1 "bei einer über das Auslassventil 13 erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter" funktionell formuliert sei, so stelle es eine wichtige Einschränkung dar. Es handle sich nicht um eine Verwendung des Ventils, sondern um eine funktionelle Beschreibung. Im gesamten Stand der Technik werde nicht erwähnt, dass die Erhöhung des Innendrucks über das Auslassventil erfolge. Dies habe zur Folge, dass die Erfindung keine weiteren Ventile benötige, während im Stand der Technik, insbesondere im Dokument D3 mit dem Ventil 38b, zusätzliche Ventile vorgesehen seien. Die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Situation sei hypothetisch. In der Praxis werde das Pannenhilfesystem entweder richtig oder falsch angeschlossen. Im letzteren Fall sei es erforderlich, dass das Einlassventil schließe. Im Dokument D3 habe das Ventil 38a, falls eine Druckerhöhung über das Auslassventil erfolge, keine Funktion, da das Ventil 38b die Druckerhöhung im Behälter verhindere. Ob die einmal geöffneten Ventile 38a und 38b wieder in die geschlossene Position überführt werden könnten, sei vorliegend nicht relevant, da sobald der Kompressor eingeschaltet sei, keine Erhöhung des Innendrucks über das Auslassventil erfolge.
Da die funktionelle Beschreibung des Einlassventils im Merkmal M8.1 den Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 limitiere, sei der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D3 neu.
b) Zulassung des Hilfsantrags 2 und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung
i) Beschwerdeführerin (Einsprechende)
Es sei korrekt, dass der Anspruchssatz des Hilfsantrags 2 mit identischem Inhalt wie der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichte Anspruchssatz des Hilfsantrags 2 während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden sei.
Der Hilfsantrag 2 sei nicht zuzulassen, da er nicht hinreichend substantiiert sei. Es sei nicht dargelegt worden, welche erhoben Einwände ausgeräumt würden. Neben der fehlenden Substantiierung sprächen auch die Kriterien nach Artikel 12 (4) VOBK gegen eine Zulassung des Hilfsantrags 2.
Ferner sollten Änderungen des Beschwerdevorbringens, also neue Argumente der Beschwerdegegnerin in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2, die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer vorgebracht werden würden, gemäß Artikel 13 (2) VOBK nicht berücksichtigt werden.
Für den Fall, dass der Hilfsantrag 2 zugelassen werde, werde die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung beantragt.
ii) Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin)
Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 stelle eine Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 5 dar. Dieser Hilfsantrag sei bereits im Einspruchsverfahren eingereicht worden und daher zuzulassen. Die hinzugefügten Merkmale stellten eine strukturelle Änderung gegenüber dem Ventil 38a des Dokuments D3 dar. Zudem bestehe zwischen diesem strukturellen Merkmal und dem funktionellen Merkmal der Druckerhöhung über das Auslassventil eine synergistische Wirkung.
Entscheidungsgründe
1. Patent wie erteilt - Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ - Neuheit des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1
1.1 Anspruchsauslegung
Es ist zwischen den Beteiligten streitig, wie das Merkmal M8 zu interpretieren ist. Im Merkmal M8 wird beansprucht, dass das Einlassventil bei einer über das Auslassventil erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter kompressorseitig den Behälter dadurch schließt (Merkmal M8.1), dass der Einlassventilkörper schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird (Merkmal M8.2). Hierin wird das Einlassventil über das funktionelle Merkmal "bei einer über das Auslassventil (13) erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter" spezifiziert, indem die Arbeitsweise des Ventils im Falle einer Druckerhöhung über das Auslassventil genannt wird.
Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass im Merkmal M8 des Vorrichtungsanspruchs 1 nur die Struktur des Ventils eine Einschränkung beinhaltet. Das funktionelle Merkmal M8.1 ist vorliegend so zu interpretieren, dass für den Fall, dass sich der Innendruck des Behälters über das Auslassventil erhöht, das Ventil geeignet sein muss, entsprechend zu reagieren, so dass gemäß dem Merkmal M8.2 der Einlassventilkörper schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird. Ob diese Situation tatsächlich eintritt, ist für die strukturelle Definition des Anspruchsgegenstandes unerheblich. Zusätzliche Ventile/Sicherungen etc. sind im Anspruch nicht ausgeschlossen.
1.2 Offenbarung des Dokuments D3
Das Dokument D3 offenbart unstreitig die Merkmale M1 bis M7. Ebenfalls sind sich die Beteiligten einig, dass das im Dokument D3 offenbarte Ventil 38a dazu geeignet ist, bei einer Erhöhung des Innendrucks im Behälter den Behälter kompressorseitig dadurch zu schließen, dass der Einlassventilkörper 38a schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird.
Die Kammer stimmt der Auffassung der Beschwerdegegnerin zu, dass die Frage eines mehrmaligen Schließens der Ventile 38a und 38b des Dokuments D3 vorliegend nicht relevant ist, da es nicht Gegenstand des Anspruchs 1 ist.
Aus den Zeichnungen, insbesondere der Figur 5 des Dokuments D3/D3", und auch aus Absatz [0040] des Dokuments D3/D3" erhält der Fachmann die Information, dass das Ventil 38a bei einer Erhöhung des Innendrucks im Behälter (oder einer Absenkung des Umgebungsdruckes) in Schließrichtung wirkt. Folglich kann das Ventil 38a im Dokument D3 bei einer über das Auslassventil erfolgenden Erhöhung des Innendrucks im Behälter kompressorseitig den Behälter schließen.
Damit ist das Ventil 38a dazu geeignet, dass sein Einlassventilkörper in dem Fall, dass sich der Innendruck des Behälters über das Auslassventil erhöht, schließend auf seinen Dichtsitz gepresst wird. Aufgrund der obigen Auslegung des einzigen potentiellen Unterscheidungsmerkmals M8 ergibt sich somit zwangsläufig, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D3 nicht neu ist. Dass die aus dem Dokument D3 bekannte Vorrichtung dazu dient, ein Auslaufen des Reifendichtmittels während des Transports in einem Flugzeug zu verhindern, während mit der vorliegenden Erfindung ausweislich des Absatzes [0006] der Beschreibung des Streitpatents das Austreten von Dichtmittel aufgrund des Restdrucks im Reifen in die Umgebung oder den noch nicht eingeschalteten Kompressor verhindert werden soll, schlägt sich nicht in der strukturellen Definition des Pannenhilfesystems gemäß Anspruch 1 nieder. Auch auf die Frage, ob eine Erhöhung des Innendrucks im Behälter des Dokuments D3 nur hypothetisch ist, kommt es, wie oben im Punkt 1.1 dargelegt, für die Neuheit des Gegenstands des Vorrichtungsanspruchs 1 nicht an.
1.3 Schlussfolgerung der Kammer
Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist gegenüber dem Dokument D3 nicht neu im Sinne von Artikel 54 (1) EPÜ. Der Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit nach Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54 EPÜ steht daher der Aufrechterhaltung des Patents entgegen. Die angefochtene Entscheidung ist somit aufzuheben.
2. Zulassung des Hilfsantrags 2
2.1 Die Beteiligten stimmen darin überein, dass der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichte Anspruchssatz des Hilfsantrags 2 wortgleich während der in Form einer Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung per E-Mail eingereicht worden ist, auch wenn sich dies weder aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ergibt noch der Hilfsantrag, wie bei einer Einreichung von allfälligen Unterlagen während der mündlichen Verhandlung geboten, als Anlage zur Niederschrift gegeben und damit zur Akte gelangt ist.
2.2 Da die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen hat, liegt der Hilfsantrag 2 nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde. Gemäß Artikel 12 (4) VOBK ist Hilfsantrag 2 dann nicht als Änderung des Vorbringens der Beschwerdegegnerin zu betrachten, wenn er im Verfahren vor der Einspruchsabteilung in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde. Für die Beurteilung dieser Frage zieht die Kammer die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung anwendbare Fassung der Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt heran. In Anbetracht der im Dezember 2011 gültigen Richtlinien (siehe Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, März 2021, H-II.3.5. und E-VI.2.2.), wonach - wenn die Abteilung in der mündlichen Verhandlung entgegen ihrer vorläufigen, unverbindlichen Auffassung in der Anlage zur Ladung zu dem Schluss kommt, dass das Patent widerrufen werden muss - ein Antrag des Patentinhabers auf (weitere) Änderungen in der Regel zum Verfahren zugelassen wird, und sich Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 zudem auf die erteilten Ansprüche 1 und 5 stützt, ist der Hilfsantrag 2, der nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung ist, im Einspruchsverfahren in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten worden.
Damit ist dieser Hilfsantrag nicht als Änderung des Vorbringens der Beschwerdegegnerin im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK zu betrachten.
2.3 Nach Artikel 12 (3) VOBK müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten. Von der Beschwerdeführerin wurde bestritten, dass der Hilfsantrag 2 im Sinne von Artikel 12 (3) VOBK ausreichend substantiiert sei. Ein Patentinhaber, der einen Antrag mit Änderungen einreicht, hat in der Regel ausdrücklich und im Einzelnen mitzuteilen, wo in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung für jede der in den Ansprüchen vorgenommenen Änderung die Grundlage zu finden ist, welche Einwände ausgeräumt werden sollen und warum die jeweilige Änderung geeignet sein soll, die erhobenen Einwände auszuräumen. Diese Anforderungen werden von den Beschwerdekammern in ständiger Rechtsprechung sowohl für Artikel 12 (3) VOBK 2020 als auch für Artikel 12 (2) VOBK 2007 zugrunde gelegt. Der konkrete Umfang und die Detailliertheit der Erläuterungen, die zur Substantiierung eines Antrags mit geänderten Patentansprüchen notwendig sind, lassen sich allerdings nicht absolut bestimmen, sondern hängen von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Auch liegt keine fehlende Substantiierung vor, wenn die Einreichung keiner Erklärung bedarf, weil die Änderungen selbsterklärend sind (siehe Rechtsprechung, V.A.5.12.6).
Vorliegend ist in der Beschwerdebegründung insbesondere in Bezug auf das Dokument D3 nur fehlende Neuheit als Einspruchsgrund geltend gemacht worden. Fehlende erfinderische Tätigkeit wurde nur am Rande erwähnt. Vor diesem Hintergrund ist es selbsterklärend, dass die vorgenommenen Änderungen, nämlich die Aufnahme des erteilten Anspruchs 5 in den Anspruch 1 des Hilfsantrags 2, einen Versuch darstellen, die beanspruchte Vorrichtung strukturell einzuschränken, um die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 gegenüber dem Dokument D3 herzustellen. Die Voraussetzungen des Artikels 12 (3) VOBK sind vorliegend somit erfüllt, so dass die Kammer kein Ermessen nach Artikel 12 (5) VOBK hat, das Vorbringen der Beschwerdegegnerin nicht zu berücksichtigen.
2.4 Aus obigen Gründen berücksichtigt die Kammer den Hilfsantrag 2 im Verfahren.
3. Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung
Im Einspruchsverfahren ist der Einspruch zurückgewiesen worden. Der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 ist nach Ansicht der Kammer allerdings entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung gegenüber dem Dokument D3 nicht neu. Da die angefochtene Entscheidung aufzuheben ist und Hilfsantrag 2 als nachrangiger Antrag im Beschwerdeverfahren berücksichtigt wird, hat die Kammer ein Ermessen, ob sie im Rahmen der Zuständigkeit der Einspruchsabteilung tätig wird oder die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückverweist.
Der Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 weist weitere Merkmale auf, die einen Versuch darstellen, den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 vom Dokument D3 abzugrenzen. Daher wirft der Hilfsantrag 2 bislang nicht diskutierte Fragen, insbesondere im Zusammenhang mit erfinderischer Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2, auf. Weder die Beschwerdeführerin noch die Beschwerdegegnerin haben im schriftlichen Verfahren zum Hilfsantrag 2 umfassend vorgetragen. Im Übrigen hat die Beschwerdeführerin die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung ausdrücklich beantragt, und auch die Beschwerdegegnerin hatte diesbezüglich keine Einwände. Da also besondere Gründe im Sinne des Artikels 11 VOBK vorliegen, hält es die Kammer für geboten, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.