European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2023:T056622.20231004 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 04 October 2023 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0566/22 | ||||||||
Anmeldenummer: | 18155211.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | B25J 5/02 B25J 19/00 H02G 11/00 F16G 13/16 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | VERFAHRSYSTEM | ||||||||
Name des Anmelders: | SW Automation GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | igus GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.2.07 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Neuheit - (nein) Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Patentinhaberin legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das europäische Patent Nr. 3 372 351 widerrufen wurde.
II. Der Einspruch richtete sich gegen das Streitpatent im gesamten Umfang und stützte sich auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und b) EPÜ (mangelnde Neuheit, erfinderische Tätigkeit und Ausführbarkeit).
III. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Einspruchsgrund mangelnder Neuheit nach Artikel 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung entgegenstehe, da der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in erteilter Fassung nicht neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D4 (WO 99/54640 A1) sei.
IV. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 vom 13. April 2023 teilte die Beschwerdekammer den Parteien ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge die Beschwerde zurückzuweisen wäre.
V. Zu dieser Mitteilung der Kammer nahm lediglich die Patentinhaberin mit Schriftsatz vom 13. Juni 2023 inhaltlich Stellung.
VI. Am 4. Oktober 2023 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen.
Die Entscheidung wurde am Schluss der Verhandlung verkündet.
VII. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) beantragte
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag),
oder hilfsweise,
die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis eines der Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen I bis VI,
wobei
die Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen I, III und IV erstmals mit der Beschwerdebegründung und die Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen II, V und VI erstmals mit Schriftsatz vom 6. März 2023 im Beschwerdeverfahren eingereicht wurden.
VIII. Die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) beantragte
die Zurückweisung der Beschwerde.
Hilfsweise beantragte die Beschwerdegegnerin, Hilfsanträge II, V und VI im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung, insbesondere falls erstmalig mit der Beschwerde gestellte Hilfsanträge im Verfahren berücksichtigt werden, an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
IX. Anspruch 1 des Patents in erteilter Fassung gemäß Hauptantrag lautet:
"Verfahrsystem (2) für ein Handlinggerät (4) mit mindestens einem Führungsmittel (6), mit mindestens einem Schlittenkörper (8), der durch das mindestens eine Führungsmittel (6) zumindest in einer Verfahrebene geführt bewegbar ist und an dem oder auf dem mindestens ein Handlinggerät (4) festlegbar oder festgelegt ist, mit mindestens einem Antriebsmittel (10) durch das der Schlittenkörper (8) für eine Bewegung zumindest entlang des Führungsmittels (6) antreibbar ist, und mit mindestens einer Kabelführung (12), die mit dem Schlittenkörper (8) verbunden ist, die ein Kabelführungsgehäuse (14) umfasst, das aus einer Mehrzahl von kettengliedartig miteinander gefügten Gehäusegliedern (16) gebildet ist, von denen jeweils zwei benachbarte Gehäuseglieder (16) relativ zueinander und um eine gemeinsame Rotationsachse (18) drehbar sind, und in dem mindestens ein Kabel (20) anordenbar oder angeordnet ist, das mit einem Ende mit dem Handlinggerät (4) verbindbar oder verbunden ist, wobei die gemeinsame Rotationsachse (18) der Gehäuseglieder (16) der Kabelführung (12) senkrecht oder schräg zur Verfahrebene des Schlittenkörpers (8) verläuft, dadurch gekennzeichnet, dass die Kabelführung (12) und/oder das mindestens eine im Kabelführungsgehäuse (14) angeordnete Kabel (20) zumindest abschnittsweise auf einer ersten Seite (22) des Schlittenkörpers (8) parallel zur Verfahrrichtung (24) des Schlittenkörpers (8) verlaufend angeordnet ist und dass die Kabelführung (12) und/oder das mindestens eine im Kabelführungsgehäuse (14) angeordnete Kabel (20) auf einer der ersten Seite (22) abgewandten und gegenüberliegenden zweiten Seite (26) des Schlittenkörpers (8) mit dem Schlittenkörper (8), bzw. mit dem Handlinggerät (4) verbunden, bzw. verbindbar ist."
X. Die Merkmalsgliederung von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist entsprechend Punkt I.6 der angefochtenen Entscheidung wie folgt:
M1) Verfahrsystem (2) für ein Handlinggerät (4)
M2) mit mindestens einem Führungsmittel (6)
M3) mit mindestens einem Schlittenkörper (8), der durch das mindestens eine Führungsmittel (6) zumindest in einer Verfahrebene geführt bewegbar ist und an dem oder auf dem mindestens ein Handlinggerät (4) festlegbar oder festgelegt ist
M4) mit mindestens einem Antriebsmittel (10) durch das der Schlittenkörper (8) für eine Bewegung zumindest entlang des Führungsmittels (6) antreibbar ist,
M5) und mit mindestens einer Kabelführung (12),
M6) die mit dem Schlittenkörper (8) verbunden ist
M7) die ein Kabelführungsgehäuse (14) umfasst, das aus einer Mehrzahl von kettengliedartig miteinander gefügten Gehäusegliedern (16) gebildet ist, von denen jeweils zwei benachbarte Gehäuseglieder (16) relativ zueinander und um eine gemeinsame Rotationsachse (18) drehbar sind, und in dem mindestens ein Kabel (20) anordenbar oder angeordnet ist, das mit einem Ende mit dem Handlinggerät (4) verbindbar oder verbunden ist
M8) wobei die gemeinsame Rotationsachse (18) der Gehäuseglieder (16) der Kabelführung (12) senkrecht oder schräg zur Verfahrebene des Schlittenkörpers (8) verläuft
M9) dass die Kabelführung (12) und/oder das mindestens eine im Kabelführungsgehäuse (14) angeordnete Kabel (20) zumindest abschnittsweise auf einer ersten Seite (22) des Schlittenkörpers (8) parallel zur Verfahrrichtung (24) des Schlittenkörpers (8) verlaufend angeordnet ist und
M10) dass die Kabelführung (12) und/oder das mindestens eine im Kabelführungsgehäuse (14) angeordnete Kabel (20) auf einer der ersten Seite (22) abgewandten und gegenüberliegenden zweiten Seite (26) des Schlittenkörpers (8) mit dem Schlittenkörper (8), bzw. mit dem Handlinggerät (4) verbunden, bzw. verbindbar ist.
XI. Im Hinblick auf die Entscheidung der Kammer, die Hilfsanträge I bis VI nicht in das Verfahren zuzulassen, ist eine Wiedergabe ihres Wortlauts nicht erforderlich.
XII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Parteien wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
Entscheidungsgründe
1. Hauptantrag - Neuheit (Artikel 100 a) und 54 EPÜ)
1.1 Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen die Feststellung unter Punkt II.3.2 der Gründe der angefochtenen Entscheidung, dass die Offenbarung von D4 den Gegenstand von Anspruch 1 neuheitsschädlich vorwegnehme und somit der Einspruchsgrund mangelnder Neuheit nach Artikel 100 a) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung entgegenstehe.
1.2 Merkmal M3
1.2.1 Dabei bemängelte die Beschwerdeführerin insbesondere die von der Einspruchsabteilung unter den Punkten II.3.2.2 und II.3.2.3 der Gründe der angefochtenen Entscheidung getroffene Vorbemerkung zum Verständnis der Verfahrebene im Merkmal M3 von Anspruch 1 und argumentierte, dass die Formulierung "in einer Verfahrebene" nach Merkmal M3 von Anspruch 1 auszulegen sei.
Diese Formulierung sei aus Sicht der Fachperson auszulegen, die auf ein gängiges Sprachverständnis und nicht auf ein praxisfernes Verständnis zurückgreife. Nur eine Auslegung der Verfahrebene als parallel zur Oberfläche des Führungsmittels verlaufend sei technisch sinnvoll und für die Fachperson sofort logisch visuell zuordenbar. Der Wortlaut von Anspruch 1 beschränke das Verfahrsystem nicht auf eine geradlinige Ausgestaltung des Führungsmittels. Vielmehr fielen auch Verfahrsysteme mit bogenförmigen Führungsmitteln unter den Gegenstand von Anspruch 1. Beim Auslegen des Begriffs der Verfahrebene könne diese aus Sicht der Fachperson nur die einzige, für alle Bewegungsrichtungen (geradlinig und bogenförmig) allgemein gültige Verfahrebene sein, nämlich die Verfahrebene, die parallel zu der dem Schlittenkörper zugewandten Oberfläche des Führungsmittels verlaufe.
Die Fachperson identifizierte daher von sich aus alle senkrecht zu der dem Schlittenkörper zugewandten Oberfläche des Führungsmittels verlaufenden Ebenen als eindeutig außerhalb des praktischen Anwendungsbereichs des beanspruchten Gegenstands liegend und legte den Anspruch 1 klar und eindeutig technisch sinnig so aus, dass die Verfahrebene parallel zu der dem Schlittenkörper zugewandten Oberfläche des Führungsmittels verlaufen müsse.
Zudem legte die Fachperson die Formulierung "in einer Verfahrebene" unter Rückgriff auf die Beschreibung und Figuren des Streitpatents aus dem Kontext der dort beweglichen Gegenstände dahingehend ohne Weiteres technisch sinnvoll derart aus, dass die Verfahrebene parallel zu der dem Schlittenkörper zugewandten Oberfläche des Führungsmittels verlaufen müsse.
1.2.2 Die Kammer ist von der Argumentation der Beschwerdeführerin nicht überzeugt. Denn die Argumentation der Beschwerdeführerin baut auf einem bestimmten engen Verständnis des streitigen Merkmals auf, das sich aus einer angeblichen Sicht der Fachperson und/oder bei Rückgriff auf die Beschreibung und Figuren zeige. Das Neuheitsargument der Beschwerdeführerin basiert somit darauf, dass der Gegenstand von Anspruch 1 eng auszulegen sei und sich in dieser engen Auslegung ein Unterschied zur Offenbarung von D4 ergebe.
Für eine derart enge Auslegung des streitigen Merkmals findet sich jedoch keine Stütze im Streitpatent. Auch ist die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Sicht der Fachperson unbewiesen und beruht auf bloßen Behauptungen. Der Wortlaut des streitigen Merkmals ist vielmehr eindeutig und erfordert insbesondere nicht, dass die Verfahrebene horizontal verläuft, wie im Übrigen von der Beschwerdeführerin selbst eingeräumt (siehe Beschwerdebegründung, Seite 4, vorletzter Absatz), oder einen bogenförmigen Bewegungsverlauf oder dass die Verfahrebene parallel zu der dem Schlittenkörper zugewandten Oberfläche des Führungsmittels verläuft.
Im Gegensatz zur Beschwerdeführerin versteht die Kammer den Wortlaut des streitigen Merkmals von Anspruch 1 daher weit. Das streitige Merkmal mag zwar breit formuliert sein, ist aber dennoch unstreitig klar. Somit ergibt sich die Bedeutung und Reichweite des streitigen Merkmals aus sich selbst heraus. Folglich besteht für die Fachperson auch keine Veranlassung, die Beschreibung und Figuren zur Auslegung des Anspruchs 1 heranzuziehen. Bei einem weiten Verständnis des Merkmals "in einer Verfahrebene", wonach gemäß dem Wortlaut von Anspruch 1 der Schlittenkörper durch ein Führungsmittel zumindest in einer Verfahrebene geführt bewegbar ist, ist jedoch keine Unterscheidungsfähigkeit dieses Merkmals bzw. des Merkmals M3 gegenüber der Offenbarung von D4 zu erkennen.
1.2.3 Ferner ist nicht ersichtlich, inwiefern die von der Beschwerdeführerin als Indiz für ihre Auslegung angeführten nationalen Erteilungsverfahren im vorliegenden Verfahren relevant sein sollten.
1.2.4 Daher folgt die Kammer der in der angefochtenen Entscheidung angegebenen Auslegung des Merkmals M3, das somit aus D4 bekannt ist.
1.3 Neuheit gegenüber D4
1.3.1 Die Beschwerdeführerin rügte, dass D4 entgegen den Feststellungen unter Punkt II.3.2.5 der Entscheidungsgründe die Merkmale M2, M3, M4, M7, M8, M9 und M10 von Anspruch 1 nicht zeige.
Laut der Beschwerdeführerin beschreibe D4 auf Seite 9, Zeile 13, kein Handlinggerät, da dort allgemein von einer nicht näher definierten Vorrichtung gesprochen werde. Aus der Formulierung Handlinggerät sei zumindest die allgemeine technische Art und die Geeignetheit dieses Handlinggeräts ableitbar, etwas zu handhaben. Das beanspruchte Verfahrsystem müsse für ein Handlinggerät geeignet sein (siehe z. B. Merkmale M1 sowie M3), so dass es dafür unausweichlich strukturelle Merkmale enthalte, um z. B. das Kippen des Verfahrsystems zu vermeiden, wenn das Handlinggerät schwere Gegenstände handhabe, wobei der Schwerpunkt der Last exzentriert werde. Solche strukturellen Merkmale seien in D4 nicht offenbart. Auch sei diese Vorrichtung nach D4 nicht am Schlittenkörper selbst festgelegt, sondern über eine Kopplungseinrichtung mit dem Schlitten und der Energieführungskette koppelbar. D4 zeige kein Führungsmittel, durch das der Schlittenkörper geführt bewegbar sein könne. Der Schlittenkörper nach D4 fahre auf der Unterkante 5, die hierdurch eine Fahrbahn biete. Eine Fahrbahn sei jedoch nicht mit einem Führungsmittel gleichzusetzen. Der Schlittenkörper sei nach D4 zwischen der Oberkante 4 und der Unterkante 5 angeordnet. Hierbei sei der Abstand zwischen Unterkante und Oberkante gerade ausreichend, dass der Schlittenkörper dazwischen angeordnet werden könne. Aufgrund des geringen vorhandenen Platzes sei weder ein Handlinggerät an dem Schlittenkörper festgelegt noch festlegbar. Nach Figur 2 verlaufe die Rotationsachse der aus D4 ersichtlichen Kabelführung parallel zur Verfahrebene und nicht quer zur Verfahrebene. Darüber hinaus zeige D4 kein Antriebsmittel.
Da D4 die Merkmale M3 und M8 nicht beschreibe, seien infolge dessen auch die Merkmale M7, M9 und M10 nicht aus D4 bekannt.
1.3.2 Die Kammer ist von dieser Argumentation nicht überzeugt und folgt vielmehr der angefochtenen Entscheidung und der Beschwerdegegnerin.
Das Führungsmittel nach Merkmal M2 ist in Anspruch 1 nicht näher definiert. Der Kanal 1 aus D4 bildet u.a. mit den Laufflächen 4, 5 (bzw. 38, 39) ein Führungsmittel für die Laufrollen 7, 8 des Schlittens 6 (Merkmal M2). Der Schlittenkörper 6 ist durch das Führungsmittel 4, 5 in einer Verfahrebene (Zeichenebene der Figuren 1, 2) geführt bewegbar. An diesem Schlitten 6 als Schlittenkörper ist ein Handlinggerät (D4, Seite 9, Zeile 13: Vorrichtung) festlegbar (D4, Seite 9, Zeilen 10 bis 16; Figur 3). Dabei definiert, wie von der Beschwerdeführerin selbst zutreffend festgestellt, das Merkmal Handlinggerät lediglich eine Eignung des Geräts, etwas zu handhaben. Dadurch erkennt die Kammer keine bestimmten strukturellen Merkmale des beanspruchten Verfahrsystems in Bezug auf dessen bloße Eignung für ein Handlinggerät, insbesondere weil das Handlinggerät oder die damit zu handhabenden Gegenständen im Anspruch 1 nicht weiter definiert sind. Durch die verwendeten Ausdrücke "für ein Handlinggerät" (Merkmal M1) oder "ein Handlinggerät festlegbar ist" (Merkmal M3) gehört ein Handlinggerät als solche nicht zum Anspruch 1, was von der Beschwerdeführerin nicht bestritten wurde. Die Vorrichtung auf Seite 9, Zeile 13, nach D4 ist somit als ein Handlinggerät gemäß Anspruch 1 anzusehen.
Anspruch 1 gemäß Streitpatent definiert weder eine konkrete Art des Handlinggeräts, noch des "Festlegens" oder ein Festlegen am Schlittenkörper selbst. Damit ist M3 kein Unterscheidungsmerkmal gegenüber D4 (siehe auch unter den obigen Punkten 1.2.2 bis 1.2.4).
Ein Antriebsmittel ist ein impliziter Teil jeder verfahrbaren Vorrichtung (D4, Seite 9, Zeilen 10 bis 16). Da das Antriebsmittel in Anspruch 1 aber nicht näher definiert ist, ist auch der Mitnehmer 9 aus D4 ein Antriebsmittel für den Schlitten 6. Damit ist M4 kein Unterscheidungsmerkmal gegenüber D4.
Der Schlitten 6 aus D4 ist in der Längsebene des Kanals 1, d.h. der Zeichenebene aus Figur 1 und Figur 2, verfahrbar. Dazu senkrecht liegen die Schwenkachsen der Kettenglieder der Energieführungskette 13. Die gemeinsame Rotationsachse steht senkrecht zur Zeichenebene. Damit sind auch M8 und M9 (siehe D4, Figuren 1 und 2) keine Unterscheidungsmerkmal gegenüber D4.
Da D4 somit die Merkmale M3 (siehe auch Punkt 1.2 oben) und M8 zeigt, sind entsprechend der Argumentation der Beschwerdeführerin auch die Merkmale M7 und M10 aus D4 bekannt.
1.4 Folglich ist die Offenbarung von D4 neuheitsschädlich für den Gegenstand von Anspruch 1 und der Einspruchsgrund mangelnder Neuheit nach Artikel 100 a) EPÜ steht der Aufrechterhaltung des Patents in erteilter Fassung entgegen.
2. Zulassung ins Verfahren der Hilfsanträge I, III und IV
2.1 Die Beschwerdeführerin reichte die Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen I, III und IV erstmals mit der Beschwerdebegründung ein.
2.2 Gemäß Artikel 12 (6), Satz 2 VOBK 2020 lässt die Kammer Anträge, die im Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären, nicht zu, es sei denn die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung.
2.3 Zur Rechtfertigung der Verspätung brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung überrascht worden sei. Die Einspruchsabteilung habe versäumt, der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Auffassung mitzuteilen. Eine solche hätte die Beschwerdeführerin veranlassen können, auf der Grundlage von Hilfsanträgen weitere Rückzugspositionen zu definieren oder eine mündliche Verhandlung zu beantragen. Hierin sei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu sehen. Die Einreichung der Hilfsanträge erstmals mit der Beschwerdebegründung sei durch die überraschende und nicht nachvollziehbare Weise der Auslegung des Merkmals M3 durch die Einspruchsabteilung und das Heranziehen dieser Auslegung zur Beurteilung der Neuheit des Streitpatents veranlasst. Dies sei als ein das gesamte Verfahren beeinträchtigender objektiver Fehler anzusehen, der das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin verletzte.
2.4 Die Kammer erkennt in der Argumentation der Beschwerdeführerin keinen Umstand der Beschwerdesache, der das verspätete Einreichen der Hilfsanträge rechtfertigte, denn es ist keine überraschende Änderung im Einspruchsverfahren oder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erkennen, die die Beschwerdeführerin daran gehindert haben könnte, diese Hilfsanträge bereits im Einspruchsverfahren einzureichen.
Wie von der Beschwerdegegnerin zutreffend vorgebracht, beruht die angefochtene Entscheidung hingegen ausschließlich auf Einwänden und Gründen, die von der Beschwerdegegnerin bereits in der Einspruchsschrift vorgebracht wurden. So hatte die Beschwerdegegnerin bereits auf Seite 5, in den letzten beiden Absätze, der Einspruchsschrift ausgeführt, wie das Merkmal "in einer Verfahrebene" bzw. "Verfahrebene" auch verstanden werden könne (siehe angefochtene Entscheidung, Punkt II.3.2.3), und dass dieses Verständnis des Merkmals der Beurteilung der Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 zugrunde gelegt wird. Die Beschwerdeführerin kannte mithin alle wesentlichen Umstände, die bei objektiver Betrachtung Anlass zu der Erwägung gaben, ob das in der Einspruchsschrift dargelegte Verständnis des streitigen Merkmals und die damit verbundenen Neuheitseinwände durch etwaige Anspruchsänderungen ausgeräumt werden könnten. Daher hätte die Beschwerdeführerin bereits im Einspruchsverfahren, spätestens jedoch mit ihrer Erwiderung vom 25. August 2021 auf die Einspruchschrift, zusätzliche Anträge stellen können und müssen. Dass die Beschwerdeführerin bei dieser Sachlage keine Hilfsanträge einreichte und auch keinen Antrag auf mündliche Verhandlung stellte, beruht allein auf der eigenverantwortlichen Entscheidung der Beschwerdeführerin über ihre Verfahrensführung.
2.5 Die Beschwerdeführerin führte weiter aus, dass sie aufgrund der Richtlinien für die Prüfung darauf hätte vertrauen können, dass ihr vor einer Entscheidung durch die Einspruchsabteilung eine Aufforderung zur Einreichung geänderter Unterlagen zuginge. Die Einspruchsabteilung habe eine nach den Richtlinien für die Prüfung, Teil D-VI.4.2 und Teil E-X.2.9, vorgesehene Mitteilung unterlassen und hierdurch keine Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Die in Teil E-X.2.9 der Richtlinien für die Prüfung genannten Haupt- und Hilfsanträge seien nicht auf materiellrechtliche Haupt- und Hilfsanträge beschränkt, sondern es seien auch verfahrensrechtliche Anträge gemeint, wie der der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Hauptantrag (Unzulässigkeit des Einspruchs) und Hilfsantrag 1 (Zurückweisung von Beweismitteln)(unter Verweis auf Rechtsprechung der Beschwerdekammern [RdB], 10. Auflage 2022, IV.C.6.5, erster Absatz).
Hierzu werde auch auf die Entscheidung T 293/88 verwiesen, nach der die abhängigen Ansprüche prima facie gültig sein müssten. Die Beschwerdegegnerin habe beim Einlegen des Einspruchs die Angriffe auf die Ansprüche 2 bis 8 nicht ausreichend substantiiert und keine Zweifel an der Gültigkeit insbesondere der erteilten Ansprüche 5 und 6 erweckt. Nach dieser Rechtsprechung hätte die Einspruchsabteilung der Beschwerdeführerin eine Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen.
2.6 Die Kammer ist von der Argumentation der Beschwerdeführerin nicht überzeugt. Denn weder den Richtlinien für die Prüfung, Teil D-VI.4.2 und Teil E-X.2.9, noch der angeführten Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass die von der Beschwerdeführerin begehrte Mitteilung der Einspruchsabteilung im vorliegenden Fall erforderlich gewesen wäre.
Hingegen sind die Richtlinien für die Prüfung, Teil D-VI.4.2, für den vorliegenden Fall klar und eindeutig formuliert, dass das Patent direkt auf der Grundlage der aktenkundigen Gründe, Beweismittel und Argumente widerrufen werden kann, wenn die Beschwerdeführerin, wie im vorliegenden Fall, weder eine mündliche Verhandlung beantragt noch Änderungen eingereicht hat.
Dass unter den in den Richtlinien für die Prüfung, Teil E-X.2.9, genannten Haupt- und Hilfsanträge auch verfahrensrechtlich formulierte Anträge zu verstehen seien, ist weder aus dem Kontext dieses Teils der Richtlinien für die Prüfung noch aus der genannten Rechtsprechung ersichtlich.
Es wird ferner angemerkt, dass die Kammer die in der angefochtenen Entscheidung auf Seite 5 angegebenen Anträge - Unzulässigkeit des Einspruchs, Zurückweisung von Beweismitteln und Zurückweisung des Einspruchs - als künstlich genannte Haupt- und Hilfsanträge betrachtet, da diese Anträge für die Sachprüfung eines Einspruchs grundsätzlich ex officio zu prüfen sind, selbst wenn sie von keiner Partei gestellt sind. Falls der Ansicht der Beschwerdeführerin gefolgt würde, wäre immer ein Antrag auf mündlichen Verhandlung als implizit gestellt anzusehen. Dies kann jedoch nicht der Fall sein, insbesondere weil es Parteien gibt, selbst wenn nicht häufig, die die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nicht wünschen und daher nicht beantragen.
In der Entscheidung T 293/88 ging es um den Umfang des Einspruchs (siehe RdB, a.a.O., IV.C.6.5, zweiter Absatz), während vorliegend das Patent als Ganzes angegriffen wurde. Somit ist diese Einzelfallentscheidung im vorliegenden Fall nicht als einschlägig zu betrachten. Ferner wurde dieser Einzelfallentscheidung in der Rechtsprechung nicht weiter gefolgt.
2.7 Die Kammer sieht daher keinen Grund, die Hilfsanträge I, III und IV nach Artikel 12 (6), Satz 2, VOBK 2020 in das Verfahren zuzulassen.
3. Zulassung ins Verfahren der Hilfsanträge II, V und VI
3.1 Die Beschwerdeführerin reichte die Anspruchssätze gemäß Hilfsanträgen II, V und VI zum ersten Mal mit Schriftsatz vom 6. März 2023 ein, d.h. nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2023.
3.2 Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass die Mitteilung vom 28. März 2023 als zweite Ladung zur mündlichen Verhandlung und somit als Ladung im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 anzusehen sei.
Die Kammer weist darauf hin, dass die Mitteilung vom 28. März 2023 allein die Verlegung der mündlichen Verhandlung betrifft, wobei in dieser Mitteilung eindeutig auf die Ladung vom 7. Februar 2023 Bezug genommen wird. Somit ist die Ladung vom 7. Februar 2023 die einzige Ladung im Beschwerdeverfahren, die nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 zu berücksichtigen ist (siehe auch T 1807/15 vom 2. Dezember 2022, Gründe 2).
3.3 Folglich liegt eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdeführerin vor, deren Berücksichtigung im Verfahren den Erfordernissen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 unterliegt.
3.4 Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
3.5 Laut Beschwerdeführerin stellten der geänderte Hilfsantrag II und die neu eingereichten Hilfsanträge V und VI keine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Es seien lediglich Präzisierungen der in den unabhängigen Anspruch 1 aufgenommenen Merkmale ohne das Vorbringen materiellrechtlich zu verändern. Die Änderungen der Hilfsanträge erfolgten in Reaktion auf die Erwiderung der Beschwerdegegnerin im Beschwerdeverfahren. Diese würfen daher keine Fragen auf, deren Behandlung der Kammer oder der anderen Beteiligten nicht zuzumuten sei.
3.6 Die Kammer erkennt nicht, inwiefern die geltend gemachten Präzisierungen keine Änderungen sind, zumal die Beschwerdeführerin selbst einräumt, dass ein geänderter Hilfsantrag II und neue Hilfsanträge V und VI eingereicht worden seien. Zudem sieht die Kammer in jedenfalls keinen stichhaltigen Grund, der nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 eine Änderung des Vorbringens in diesem späten Stadium des Verfahrens, d.h. nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung, rechtfertigte.
3.7 Daher lässt die Kammer, die Hilfsanträgen II, V und VI nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt.
4. Schlussfolgerung
Die Beschwerdeführerin hat somit die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung zur mangelnden Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Patents in erteilter Fassung gegenüber der Offenbarung von D4 nicht in überzeugender Weise dargelegt. Mithin, und in der Abwesenheit eines zulässigen oder in der Sache gewährbaren Antrags, ist die Beschwerde der Beschwerdeführerin erfolglos.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.