T 1909/21 (Blutbehandlungseinrichtung/BRAUN) of 8.12.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T190921.20231208
Datum der Entscheidung: 08 Dezember 2023
Aktenzeichen: T 1909/21
Anmeldenummer: 06126930.4
IPC-Klasse: G06F 19/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Blutbehandlungseinrichtung
Name des Anmelders: B. Braun Avitum AG
Name des Einsprechenden: Gambro Lundia AB
Kammer: 3.5.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 54(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 011
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - Hilfsantrag 1a
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung gibt Anlass zu neuen Einwänden (ja)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung
Zurückverweisung - Hilfsantrag 1
Zurückverweisung - (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende (im Folgenden "die Beschwerdeführerin") legte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, wonach das Streitpatent in der Fassung des damaligen Hilfsantrags 1 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

II. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Zwischenentscheidung und den Widerruf des Streitpatents.

III. Die Patentinhaberin (im Folgenden "die Beschwerdegegnerin") beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und somit die Aufrechterhaltung des Streitpatents in geändertem Umfang gemäß der Zwischenentscheidung (Hauptantrag), oder hilfsweise gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 3, die mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht wurden.

IV. Die Beteiligten wurden zu einer mündlichen Verhandlung geladen. Die Kammer erläuterte in ihrer vorläufigen Meinung gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu erschiene. In Antwort darauf reichte die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 7. November 2023 einen Hilfsantrag 1a ein.

V. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt, an deren Ende folgende Anträge gestellt wurden:

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents, hilfsweise die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung, die von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtet wurde), hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1a, 1, 2 oder 3 (Hilfsantrag 1a eingereicht mit Schreiben vom 7. November 2023, Hilfsanträge 1, 2 und 3 eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung vom 18. Mai 2022) oder die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung.

VI. Anspruch 1 des Hauptantrags (Hilfsantrag 1 wie von der Einspruchsabteilung als gewährbar angesehen) lautet wie folgt:

"Blutbehandlungseinrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung, mit mindestens einem Blutbehandlungsgerät (35), welches aufweist:

ein Schlauchsystem und Gerätekomponenten,

einen Filter (10), der an einen Blutkreislauf (13) und einen Dialysatkreislauf (15) angeschlossen ist,

eine Steuereinrichtung zur Steuerung von Funktionsabläufen,

ein Anwender-Interface (37), das einen Bildschirm (36) und Eingabemittel aufweist,

dadurch gekennzeichnet,

dass eine Programmbibliothek vorgesehen ist, die unterschiedliche Funktionsabläufe für den Betrieb des Blutbehandlungsgerätes (35) in Form von Datensätzen (Kn) enthält, wobei ein Funktionsablauf ein gesamter Funktionsablauf vom Einschalten des Blutbehandlungsgerätes (35) bis zum Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät (35) ist und jeweils ein für einen Behandlungsablauf zu aktivierender Datensatz selektierbar ist, und dass zum Generieren eines in die Programmbibliothek aufzunehmenden Funktionsablaufs eine Einrichtung vorgesehen ist, die eine Bildschirmfläche generiert, welche einen vom Anwender interaktiv zu beantwortenden Fragenkatalog (50) enthält, wobei, wenn die Funktionen, die in den Funktionsablauf zu übernehmen sind, ausgewählt sind, die Folgeinformationen für den Funktionsablauf erzeugt und angezeigt werden, wobei die Folgeinformationen eine Vorbereitungszeit, einen Verbrauch von Flüssigkeit oder notwendige Anwenderreaktionen beinhalten."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 1a lautet wie folgt:

"Blutbehandlungseinrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung, mit mindestens einem Blutbehandlungsgerät (35), welches aufweist:

ein Schlauchsystem und Gerätekomponenten,

einen Filter (10), der an einen Blutkreislauf (13) und einen Dialysatkreislauf (15) angeschlossen ist,

eine Steuereinrichtung zur Steuerung von Funktionsabläufen,

ein Anwender-Interface (37), das einen Bildschirm (36) und Eingabemittel aufweist,

dadurch gekennzeichnet,

dass in der Blutbehandlungseinrichtung eine Programmbibliothek vorgesehen ist, die unterschiedliche Funktionsabläufe für den Betrieb des Blutbehandlungsgerätes (35) in Form von Datensätzen (Kn) enthält, wobei die unterschiedlichen Funktionsabläufe jeweils ein gesamter Funktionsablauf vom Einschalten des Blutbehandlungsgerätes (35) bis zum Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät (35) sind und wobei jeweils ein für einen Behandlungsablauf zu aktivierender Datensatz selektierbar ist, und dass in der Blutbehandlungseinrichtung eine Einrichtung zum Generieren eines in die Programmbibliothek aufzunehmenden Funktionsablaufs vorgesehen ist, die eine Bildschirmfläche generiert, welche einen vom Anwender interaktiv zu beantwortenden Fragenkatalog (50) enthält, wobei, wenn die Funktionen, die in den Funktionsablauf zu übernehmen sind, ausgewählt sind, die Folgeinformationen für den Funktionsablauf erzeugt und angezeigt werden, wobei die Folgeinformationen eine Vorbereitungszeit, einen Verbrauch von Flüssigkeit oder notwendige Anwenderreaktionen beinhalten."

In Anbetracht der hier getroffenen Entscheidung ist der Wortlaut der Ansprüche der Hilfsanträge 1 bis 3 unerheblich.

VII. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Dokumente Bezug genommen:

D2: US 5 326 476

D6: WO 02/07796 A1

Entscheidungsgründe

1. Zulassung von D6 bis D10

1.1 Die Beschwerdegegnerin beantragte, die von der Beschwerdeführerin am 26. April 2019 eingereichten Dokumente D6 bis D10 nicht zuzulassen. Die Beschwerdegegnerin führte mit Verweis auf ein Schreiben der Beschwerdeführerin aus, dass diese Dokumente von der Beschwerdeführerin nach dem Ablauf der Einspruchsfrist eingereicht wurden, obwohl sie ihr seit geraumer Zeit bereits bekannt waren. Insbesondere D6 sei aus einem Parallelverfahren bekannt gewesen und es sei auch keine Erklärung für die verspätete Einreichung von D6 vorgetragen worden. Schließlich könnten die Dokumente D6 bis D10 nicht relevanter als die fristgerecht mit dem Einspruch eingereichten Dokumente sein.

1.2 Allerdings wurde D6 bereits im Einspruchsverfahren zugelassen, da die Einspruchsabteilung es für prima facie relevant hielt.

Wie in G 7/93 (Punkt 2.6 der Entscheidungsgründe) ausgeführt, muss ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen hat, bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. Eine Beschwerdekammer soll sich der Art und Weise, in der eine erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, nur dann hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz entweder ihr Ermessen nicht nach den richtigen Kriterien ausgeübt hat oder dass sie ihr Ermessen in unangemessener Weise ausgeübt und damit den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat.

Im vorliegenden Fall kam die Einspruchsabteilung nach ihrer Einschätzung der vorgebrachten Dokumente zur Schlussfolgerung, dass D6 prima facie relevant war. Prima-facie-Relevanz ist ein richtiges Kriterium für die Zulassung oder die Nichtzulassung eines Dokuments. Demnach übte die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach einem richtigen Kriterium und auch in angemessener Weise aus. Daher wäre es unangemessen, wenn die Kammer sich über die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung, D6 zuzulassen, hinwegsetzen würde. Es ist nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte (siehe G 7/93, ebenda).

Aus diesen Gründen wird der Antrag der Beschwerdegegnerin, D6 nicht zuzulassen, abgelehnt.

1.3 Das Beschwerdevorbringen war nicht auf D7 bis D10 gestürzt. Daher erübrigt es sich, über die Zulassung dieser Dokumente zu entscheiden.

2. Hauptantrag

2.1 Gegenstand des Anspruchs 1

Merkmalgliederung des Anspruchs 1 ist wie folgt:

1 Blutbehandlungseinrichtung zur extrakorporalen Blutbehandlung, mit mindestens einem Blutbehandlungsgerät, welches aufweist:

2 ein Schlauchsystem und Gerätekomponenten, einen Filter, der an einen Blutkreislauf und einen Dialysatkreislauf angeschlossen ist,

3 eine Steuereinrichtung zur Steuerung von Funktionsabläufen

4 ein Anwender-Interface, das einen Bildschirm und Eingabemittel aufweist, dadurch gekennzeichnet, dass

5 eine Programmbibliothek vorgesehen ist, die unterschiedliche Funktionsabläufe für den Betrieb des Blutbehandlungsgerätes in Form von Datensätzen enthält,

5A wobei ein Funktionsablauf ein gesamter Funktionsablauf vom Einschalten des Blutbehandlungsgerätes bis zum Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät ist,

6 und jeweils ein für einen Behandlungsablauf zu aktivierender Datensatz selektierbar ist,

7 und dass zum Generieren eines in die Programmbibliothek aufzunehmenden Funktionsablaufs eine Einrichtung vorgesehen ist,

8 die eine Bildschirmfläche generiert, welche einen vom Anwender interaktiv zu beantwortenden Fragenkatalog enthält,

9 wobei, wenn die Funktionen, die in den Funktionsablauf zu übernehmen sind, ausgewählt sind, die Folgeinformationen für den Funktionsablauf erzeugt und angezeigt werden,

10 wobei die Folgeinformationen eine Vorbereitungszeit, einen Verbrauch von Flüssigkeit oder notwendige Anwenderreaktionen beinhalten.

2.2 Anspruchsauslegung

2.2.1 Der Begriff "Programmbibliothek" ist ein feststehender Begriff in der Programmierung und bezeichnet eine Sammlung von Routinen oder Modulen, die von Programmen angefordert werden, jedoch im Unterschied zu Programmen in der Regel keine eigenständig ausführbaren Einheiten sind. Die Kammer stellte in den Ausführungen der Beschwerdegegnerin bezüglich der Neuheit fest, dass sie unter einer Programmbibliothek eine Mehrzahl an verschiedenen Programmen versteht, die "bibliothekartig" zusammengefasst sind; die Beschwerdegegnerin sah den strittigen Begriff nämlich vielmehr als eine Metapher (vgl. "bibliothekartig"). Jedoch versteht die Fachperson unter diesem feststehenden Begriff nicht eine solche Mehrzahl an verschiedenen Programmen, aus denen man selektieren kann.

2.2.2 Unter "Funktionsabläufe für den Betrieb des Blutbehandlungsgeräts" versteht die Kammer die Menge aller Verfahrenschritte und ihrer Kombinationen, die ein Blutbehandlungsgerät während seines Betriebs ausführen kann.

2.2.3 Ein "Datensatz" ist lediglich eine Gruppe in bestimmter Hinsicht zusammengehöriger Daten. Der Begriff "Datensatz" ist eine Abstraktion und beinhaltet keine Einschränkungen in Bezug auf die Struktur der im Datensatz enthaltenen Daten. Daher sind alle Daten zur Steuerung eines Blutbehandlungsgeräts bzw. seiner Funktionsabläufe im Grunde genommen in Form von Datensätzen.

2.2.4 Die Beschwerdegegnerin führte aus, dass in Merkmalen 5, 5A und 6 eine aus "Funktionsabläufen" bestehende "Programmbibliothek" eingeführt und dann der Begriff "Funktionsablauf" als ein "gesamter Funktionsablauf" vom Einschalten bis zum Desinfizieren, d.h. bestehend aus therapeutischen und nicht-therapeutischen Schritten, definiert wird.

Dieser Auslegung kann die Kammer nicht zustimmen. Merkmal 5A ist keine Definition eines Funktionsablaufs gemäß Anspruch 1. Es beschreibt vielmehr ein Element (vgl. "wobei ein Funktionsablauf [...] ist") der Menge der Funktionsabläufe, nämlich ein Funktionsablauf vom Einschalten des Blutbehandlungsgerätes bis zum Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät. Wenn die "Funktionsabläufe für den Betrieb des Blutbehandlungsgeräts" die Menge aller Verfahrenschritte und ihrer Kombinationen beinhaltet, die ein Blutbehandlungsgerät während seines Betriebs ausführen kann, ist es selbstverständlich, dass ein solcher "gesamter Funktionsablauf" auch darunter zu verstehen ist.

2.2.5 Wie bereits ausgeführt, zur Steuerung der Funktionsabläufe eines Blutbehandlungsgeräts müssen die einschlägigen Datensätze der Steuereinrichtung des Blutbehandlungsgeräts zugänglich sein. Dafür muss die Steuereinrichtung die einschlägigen Datensätze "selektieren" bzw. "aktivieren". Dies gilt auch für Funktionsabläufe, die eine Behandlung betreffen, d.h. ein "Behandlungsablauf" sind (vgl. Merkmal 6).

2.2.6 Die Kammer hält Merkmale 7 bis 10 nicht für einschränkende Merkmale der Blutbehandlungseinrichtung gemäß Anspruch 1 sondern für Merkmale einer anderen Einrichtung (vgl. "eine Einrichtung vorgesehen ist" im Merkmal 7), die zum Generieren der in die Programmbibliothek aufzunehmenden Funktionsabläufe vorgesehen ist. Insofern stimmt die Kammer der von der Einspruchsabteilung und von der Beschwerdegegnerin vertretene Meinung nicht zu, dass Merkmale 5, 5A, 6, 7 und 8 in Kombination und nicht isoliert voneinander interpretiert werden müssen. Die in Merkmalen 7 bis 10 angegebenen Eigenschaften einer anderen Einrichtung können nicht die Blutbehandlungseinrichtung gemäß Anspruch 1 bzw. deren Merkmale 5, 5A und 6 einschränken.

2.3 Artikel 123(2) EPÜ

2.3.1 Die Beschwerdeführerin vertrat die Meinung, dass es eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung war, beim Zufügen des Merkmals 5A zum Anspruch 1 die auf der Seite 4, erster Absatz der ursprünglich eingereichten Beschreibung erwähnte Gestaltung des gesamten Funktionsablaufs und deren Ort wegzulassen.

2.3.2 Die Beschwerdegegnerin wies jedoch zutreffend darauf hin, dass die seitens der Beschwerdeführerin vermissten Informationen bezüglich der Gestaltung der Funktionsabläufe im Merkmal 7 definiert sind. Ferner ist die Kammer der Meinung, dass Merkmale, die die Generierung oder Gestaltung der Funktionsabläufe auf einer anderen Einrichtung betreffen, für die Blutbehandlungseinrichtung gemäß Anspruch 1 nicht einschränkend sind. Das Weglassen der Merkmale, de nicht einschränkend sind, kann ohnehin nicht als eine Zwischenverallgemeinerung betrachtet werden.

2.4 Artikel 84 EPÜ

2.4.1 Die Beschwerdeführerin betrachtete Merkmal 5A als unklar, weil einerseits das Wort "gesamter" generisch war und andererseits das Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät nicht unbedingt bei jeder Behandlung nötig war. Daher könne ein gesamter Funktionsablauf nicht ein Funktionsablauf sein, dessen Endpunkt das Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät ist.

2.4.2 Dem kann die Kammer nicht zustimmen. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass jedes Blutbehandlungsgerät eingeschaltet werden muss. Sie bestreitet auch nicht, dass das Schlauchsystem und die Gerätekomponenten jedes Blutbehandlungsgeräts immer wieder desinfiziert werden können. Sie bestreitet lediglich, ob das Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten ein geeigneter Endpunkt zur Definition eines "gesamten Funktionsablaufs" ist. Jedoch gibt Merkmal 5A nicht die Definition eines sogenannten "gesamten Funktionsablaufs" sondern lediglich ein Beispiel für die Menge der möglichen Funktionsabläufe eines Blutbehandlungsgerätes. Das Beispiel ist ein Funktionsablauf, der mit dem Einschalten des Blutbehandlungsgerätes beginnt und mit dem Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten endet. Wenn jedes Blutbehandlungsgerät einen solchen Funktionslauf ermöglicht, kann der Wortlaut des Merkmals 5A nicht als unklar betrachtet werden.

2.5 Neuheit gegenüber D2 oder D6

2.5.1 Die Einspruchsabteilung und die Beschwerdegegnerin vertraten die Meinung, dass Merkmale 5, 5A, 6, 7 und 8 nicht von D2 oder D6 offenbart sind. Jedoch stimmt die Kammer, wie oben ausgeführt, nicht zu, dass Merkmale 7 und 8 einschränkende Merkmale der Blutbehandlungseinrichtung gemäß Anspruch 1 sind.

2.5.2 Zudem ist die Kammer im Folge ihrer Anspruchsauslegung der Ansicht, dass Merkmale 5, 5A und 6 die herkömmliche Funktionsweise einer Blutbehandlungseinrichtung widerspiegeln, die sowohl von D2 auch von D6 offenbart ist. Wie von der Beschwerdeführerin ausgeführt, können die Steuerungseinheiten der Blutbehandlungseinrichtungen in D2 oder D6 alle vorhandenen Funktionsabläufe steuern und die dafür notwendigen standardisierten Routinen abrufen.

2.5.3 Damit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber D2 oder D6 (Artikel 54(1) und (2) EPÜ).

3. Hilfsantrag 1a

3.1 Hilfsantrag 1a wurde nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht.

3.2 Gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Auch wenn die Kammer das Argument eines Beteiligten gelten lässt, dass außergewöhnliche Umstände vorlagen, liegt es dennoch in ihrem Ermessen, ob sie die Änderungen ins Beschwerdeverfahren zulässt. In Ausübung ihres Ermessens kann die Kammer auch die im Artikel 13(1) VOBK 2020 festgelegten Kriterien heranziehen, z.B. ob die Änderung prima facie die aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.

3.3 Im vorliegenden Fall geht es nicht unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung hervor, dass "die unterschiedlichen Funktionsabläufe jeweils" ein gesamter Funktionsablauf vom Einschalten des Blutbehandlungsgerätes bis zum Desinfizieren des Schlauchsystems und der Gerätekomponenten am Blutbehandlungsgerät sind.

Die Beschwerdegegnerin gab "Absatz [0010] des Streitpatents" [sic] und Fig. 3 als Basis für diese Änderung. Sie führte aus, dass diese Passagen eine wörtliche Definition davon geben, was unter den durch die Blutbehandlungseinrichtung gesteuerten Funktionsabläufen zu verstehen ist.

Der Text des Streitpatents ist bei der Beurteilung der Frage, ob eine Änderung über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (cf. Artikel 123(2) EPÜ), unerheblich. Seite 4, erster Absatz der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung, die dem Ansatz [0010] des Streitpatents entspricht, gibt keine Definition des Begriffs "Funktionsablauf". Daher geht die Änderung, dass die Funktionsabläufe "jeweils" ein gesamter Funktionsablauf vom Einschalten bis zum Desinfizieren sind, aus diesem Absatz nicht unmittelbar und eindeutig hervor, geschweige denn aus Fig. 3, die bloß die Kästchen eines Fragenkatalogs darstellt.

Folglich geben die Änderungen, die im Hilfsantrag 1a vorgenommen wurden, Anlass zu neuen Einwänden gemäß Artikel 123(2) EPÜ. Daher übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, Hilfsantrag 1a nicht ins Beschwerdeverfahren zuzulassen (Art. 13(2) VOBK 2020).

4. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung

Die Kammer wies in ihrer vorläufigen Meinung darauf hin, dass die Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren keine Einwände gegenüber den Hilfsanträgen 1 bis 3 vorgebracht hat. Mit ihrem Schreiben vom 1. Dezember 2023 antwortete die Beschwerdeführerin auf die vorläufige Meinung der Kammer. Sie brachte in ihrem Schreiben Argumente bezüglich der Zulässigkeit des von der Beschwerdegegnerin neu eingereichten Hilfsantrags 1a vor, jedoch weiter keine Argumente bezüglich der Hilfsanträge 1 bis 3. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer trug sie zum ersten Mal im Beschwerdeverfahren vor, dass der Hilfsantrag 1 aus denselben Gründen wie der Hauptantrag nicht gewährbar sei. Darauf erwiderte die Beschwerdegegnerin, dass sie von diesem verspäteten Vorbringen überrascht wurde. Denn Hilfsanträge 1 bis 3 wurden bereits am 18. Mai 2022 eingereicht. Da bis dahin keine Einwände gegenüber ihnen vorgebracht wurden, ging die Beschwerdegegnerin bis zur mündlichen Verhandlung davon aus, dass die Gewährbarkeit der Hilfsanträge 1 bis 3 nicht streitig war. Sollte dies nicht der Fall sein, beantragte sie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung. Auch die Beschwerdeführerin beantragte eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Prüfung, falls die Kammer das Streitpatent nicht widerrufen sollte. Unter diesen besonderen Umständen wird die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen (Art. 11 VOBK 2020).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen.

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