T 0857/20 (Nicht mitbeanspruchte Gegenstruktur/BRITAX RÖMER) of 23.2.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T085720.20220223
Datum der Entscheidung: 23 Februar 2022
Aktenzeichen: T 0857/20
Anmeldenummer: 12008259.9
IPC-Klasse: B60N 2/28
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Kindersitz mit Seitenaufprallschutz
Name des Anmelders: BRITAX RÖMER Kindersicherheit GmbH
Name des Einsprechenden: CYBEX GmbH
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(a)
European Patent Convention Art 54(2)
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 100(b)
European Patent Convention Art 100(c)
Schlagwörter: Neuheit - (ja)
Neuheit - frühere Offenbarung
Neuheit - Merkmale nicht beschränkend (nein)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Orientierungssatz:

Neuheitsschädlich sind nur solche Vorrichtungen, deren offenbarte Merkmale all jene der Erfindung vorwegnehmen, einschließlich etwaiger Strukturen und Funktionalitäten, die durch ein Verfahrensmerkmal bedingt sind.

Wenn eine Vorrichtung ihre beanspruchte Funktionalität im Zusammenwirken mit einer nicht mitbeanspruchten Gegenstruktur entfalten kann, so ist auch diese Erfindung nur neuheitsschädlich vorweggenommen, wenn ihre strukturellen und funktionalen Merkmale bereits vor dem Anmeldetag unmittelbar und eindeutig offenbart worden sind.

Auch wenn die Gegenstruktur nicht mitbeansprucht ist, erscheint es im Rahmen der Prüfung von Artikel 54 EPÜ unzulässig, sich eine beliebige Struktur auszudenken, die für die Erreichung der Funktionalität eingesetzt werden könnte, wenn eine solche im Stand der Technik nirgends auch nur ansatzweise gezeigt ist.

(Siehe Gründe 3.5 bis 4.2)

Angeführte Entscheidungen:
T 2450/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 24.1.2020, den Einspruch gegen das Patent Nr. 2 578 445 mit der Bezeichnung "Kindersitz mit Seitenaufprallschutz" zurückzuweisen. Die Anmeldung war als Teilanmeldung der europäischen Anmeldung Nr. 09 009 160.4 nach Artikel 76 EPÜ eingereicht worden, auf die das Patent Nr.

EP 2 275 303 B1 erteilt wurde, über das die Kammer unter gleichem Datum im Beschwerdeverfahren T 613/19 entschieden hat.

II. Folgende Dokumente sind für die vorliegende Entscheidung von Bedeutung:

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III. Anspruch 1 des erteilten Patents lautet (nach der Merkmalsgliederung MB51 gemäß Beschwerdebegründung):

1.1 Kindersitz (1)

1.2 mit Seitenaufprallschutz

1.3 mit mindestens einem energieabsorbierenden und/oder übertragenden Element (2),

1.4 das so angeordnet und ausgebildet ist, um von einer Ruhestellung (3) in eine Funktionsstellung (4) geführt zu werden,

1.5 um in der Funktionsstellung (4) seitlich einwirkende Energie aufzunehmen,

1.6 wobei das energieabsorbierende und/oder übertragende Element (2) beim Anbringen des Kindersitzes (1) an seinem Bestimmungsort automatisch aus der Ruhestellung (3) in die Funktionsstellung (4) überführt wird.

IV. Die Beschwerdeführerin rügt den in Absatz [0009] in die Beschreibung aufgenommenen Hinweis auf Stand der Technik, da dort bemerkt werde, dass dieser keinen "zureichenden Schutz bei einem Seitenaufprall" biete. Die Information, es komme auf "zureichenden Schutz" an, stelle eine neue Information dar, so dass Artikel 100 c) EPÜ verletzt sei.

Sie hält ferner den Gegenstand des erteilten Patents für nicht ausführbar im Sinne von Artikel 100 b) EPÜ; denn es sei ein Widerspruch, dass ein "rein energieübertragenden Element" zugleich "in Funktionsstellung Energie aufnimmt". Außerdem fehlten Anweisungen, wie das Element nach Merkmal 1.3 konstruktiv auszugestalten sei und wie Merkmal 1.6 umgesetzt werden solle.

Im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ macht die Beschwerdeführerin geltend, dass Merkmal 1.6 ein reines Verfahrensmerkmal darstelle, das die Struktur des als Vorrichtung beanspruchten Sitzes nicht einschränke. Die bloße Überführbarkeit von Elementen genüge, welche bei manuell überführbaren Elementen immer gegeben sei, da sie z. B. durch eine Roboterhand bewegt werden könnten. Aktive Mittel (Antriebe etc.) müsse der Sitz nicht aufweisen, die passive Ausnutzung von beim Anbringen auftretenden Kräften sei nach der Beschreibung sogar bevorzugt. Dem Wortlaut des Merkmals sei auch keine Kausalität zu entnehmen, eine zeitliche Koinzidenz genüge. Da der Bestimmungsort zum einen nicht näher definiert, zum anderen nicht Teil eines mitbeanspruchten Systems ist, sondern außerhalb der allein beanspruchten Vorrichtung liegt, könnten sämtliche zur Überführung erforderliche Strukturen dort vorliegen. Solche müssten zum Prioritätszeitpunkt auch nicht bereits existiert haben; es genüge, wenn man sich solche vorstellen könne. Roboterarme, sowie Sensoren zur Detektion eines Kindersitzes hätten im Übrigen bereits existiert, unter anderem in Fahrzeugen. Bestimmungsort könne aber auch eine Teststation am Ende der Fertigung sein, an der ein Roboter die Funktionalität des Sitzes prüft, bevor dieser zum Vertrieb frei gegeben werde. Da Merkmal 1.6 insgesamt ebenso breit wie unklar sei, dürfe es nicht als einziges die Abgrenzung zum Stand der Technik bilden. Auch die Kontrollüberlegung, wonach im Hinblick auf einen Vorrichtungsanspruch, der eine bestimmte Gegenstruktur impliziere, aber nicht mitbeanspruche, eine früher nicht verletzende Vorrichtung nicht dadurch zur Patentverletzung werden könne, dass später eine bestimmte Gegenstruktur entwickelt werde, lege nahe, dass auch bei der Beurteilung der Neuheit bereits die Vorstellbarkeit einer passenden Gegenstruktur genügen müsse, damit die Vorrichtung nicht mehr neu sei, unabhängig davon, ob genau diese Gegenstruktur tatsächlich schon offenbart war. Dies habe im Verfahren T 1538/12 eine andere Kammer im Ladungsbescheid vom 13. Juli 2016 richtig gesehen, als sie die im dortigen Patent beanspruchten Signalblockierabschnitte an einer Druckerpatrone als nicht näher unterscheidend angesehen hatte, da sie nur über ihre Eignung definiert waren, Lichtsignale einer nicht mitbeanspruchten Aufzeichnungsvorrichtung, in die die Patronen einzuschieben waren, zu blockieren.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen seien die Vorbenutzungen MB43 (Maxi Cosi Cabrio) und MB44 (Recaro) ebenso wie die Dokumente MB39, MB4, MB5, MB6, MB7, MB8, MB9, MB 10, MB11, MB12, MB 13, MB14, MB15, MB 18, MB19, MB20, MB22, MB23, MB 38, MB 39a, MB42, MB45 und MB50 neuheitsschädlich für den Gegenstand des erteilten Patents.

Jedenfalls sei dieser für die Fachperson ausgehend von MB5 (oder einem der anderen oben genannten Dokumente) in Kombination mit MB9, MB27, MB46, MB47, MB48 oder MB49 nahegelegt. Die bloße Idee, Verfahrensschritte zu automatisieren und dabei ggfs. im Rahmen des handwerklichen Könnens auch Überwachung und Regelung von Verfahrensschritten einzubeziehen, könne nach der Rechtsprechung keinen erfinderischen Schritt begründen. Nicht jede Automatisierung führe ferner zu einer (vom Patent angestrebten) Vermeidung von Fehlbedienungen. Soweit dann die Aufgabe verbleibe, den Benutzerkomfort zu erhöhen, sei dies zwar mit der Ersetzung manueller durch automatische Schritte verbunden, entspreche aber einem allgemeinen, nicht erfinderischen Trend.

Die Einspruchsabteilung habe auch den Begriff "beim Anbringen" im Sinne einer Synchronisation der beiden Vorgänge zu eng ausgelegt. Ein Nacheinander sei ebenfalls umfasst. MB5 enthalte zudem in Absatz [0032] mit der Formulierung "When the child car seat is installed..." bereits eine Passage, die dem "beim Anbringen" in Merkmal 1.6 entspreche. Anregungen zur Automatisierung der Überführung des Seitenaufprallschutzes würde die Fachperson aus einer der oben genannten Kombinationsschriften entnehmen.

V. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vertritt die Auffassung, die Beschwerdegegnerin gelange durch technisch widersinnige Auslegungen der Merkmale des Patentanspruchs, wie sie die Fachperson nicht vornehmen würde, zu Klarheitseinwänden, mit denen eine angeblich fehlende Ausführbarkeit begründet werden solle.

Das Patent sei auch nicht unzulässig erweitert. Aus den genannten Nachteilen des nachträglich noch eingefügten Stands der Technik würden insbesondere keine zusätzlichen Vorteile der Erfindung hergeleitet.

Schließlich argumentiere die Beschwerdeführerin auch in Bezug auf Artikel 100 a) EPÜ nicht wie es eine verständige Fachperson machen würde. So werde die angeblich mangelnde Neuheit damit begründet, dass der Bedeutungsgehalt von Merkmal 1.6 in technisch nicht vertretbarer Weise auf eine bloße Bewegbarkeit reduziert werde. Der Konnex zum Anbringen des Kindersitzes werde damit negiert. Bei verständiger Auslegung müsse der Kindersitz implizit Mittel umfassen, die speziell dazu ausgebildet sind, das Element beim Anbringen des Kindersitzes automatisch aus der Ruhe- in die Funktionsstellung zu überführen. Diese Mittel müssten am Sitz selbst vorgesehen sein. Daher treffe es auch nicht zu, dass ein zunächst nicht patentverletzender Sitz allein durch die spätere Entwicklung einer Gegenstruktur zur Patentverletzung werde. Anders als im Fall T 1538/12 verlange Merkmal 1.6 nicht nur mechanisch funktionell unveränderliche Mittel im Sinne einer starren Struktur mit einer bestimmten Eignung (wie dort die Fähigkeit des Vorsprungs, Licht zu blockieren), sondern impliziere, dass das Mittel dazu ausgebildet sein muss, den beanspruchten Gegenstand selbst zu beeinflussen. Solche Mittel am Sitz seien, wie die angegriffene Entscheidung richtig ausführe, nirgends im Stand der Technik gezeigt. Die automatische Überführung müsse ferner gerade durch das Anbringen getriggert sein. Hieran fehle es ebenfalls.

Die Erfindung sei auch nicht nahegelegt. Die objektive technische Aufgabe liege darin, den Benutzungskomfort des Sitzes zu erhöhen und dessen Fehlbedienung zu vermeiden. Kein von der Beschwerdeführerin vorgetragener Stand der Technik biete hierzu eine Anregung; bei keinem der Sitze werde eine beim Erreichen des Bestimmungsortes automatisch erfolgende Überführung des Elements von der Ruhe- in die Funktionsstellung auch nur angedacht.

VI. Die Kammer hatte den Parteien in einer auf den 19. Januar 2021 datierten Mitteilung eine ausführliche vorläufige Einschätzung der Sach- und Rechtslage übermittelt, wonach die Beschwerde wohl abzuweisen sein würde. Nachdem das Verfahren zwischenzeitlich im Hinblick auf die noch ausstehende Entscheidung G 1/21 ausgesetzt war, fand die mündliche Verhandlung am 23. Februar 2022 - von den Parteien unbeanstandet - als Videokonferenz statt; an ihrem Ende wurde die vorliegende Entscheidung verkündet.

VII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 9.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Beschwerde erweist sich als unbegründet.

1. Artikel 100 b) EPÜ - Ausführbarkeit

Merkmale 1.2 und 1.5 beschreiben, wie von der Beschwerdeführerin richtig gesehen, drei Alternativen: das Element (2) kann so angeordnet/ausgebildet sein, dass die dem Seitenaufprallschutz dienende Energieaufnahme entweder an andere Bauteile weitergeleitet oder innerhalb des Elements verbraucht, d.h. in andere Energieformen umgewandelt wird, oder dass eine Mischung aus beidem erfolgt. In der Praxis wird jedes starre Bauteil auch zu einem geringen Anteil Energie absorbieren und jedes verformbare auch zu einem gewissen Anteil Energie weiterleiten. Dies ist der Fachperson natürlich bekannt und sie wird daher die Alternativen des Anspruchs nicht in einer akademisch-theoretischen Weise lesen. Sie wird auch verstehen, dass ein (im Wesentlichen) Energie übertragendes Element Energie zwar aufnehmen, dann aber zum größten Teil an andere Bauteile weitergeben wird. Dies steht weder im Widerspruch zum Anspruch noch zur Beschreibung des Patents, die z. B. in Absatz [0030] explizit die Einleitung seitlich auf den Kindersitz einwirkender Kräfte über das Element (2) in eine tragende Struktur erwähnt und näher erläutert. Der Einwand überzeugt daher nicht, wie bereits die Einspruchsabteilung ausgeführt hat, auf deren Entscheidung insoweit auch im übrigen verwiesen werden kann.

2. Artikel 100 c) EPÜ - Unzulässige Erweiterung

Die Einfügung eines Hinweises auf relevanten Stand der Technik ist unbedenklich, sofern der Verweis inhaltlich zutreffend ist, vgl. T 2450/17, Gründe Nr. 3.3.3 mit Verweis auf weitere Rechtsprechung. Dies ist vorliegend ersichtlich der Fall. Da sich die Anmeldung mit der Verbesserung der Schutzwirkung von Kindersitzen bei einem Seitenaufprall befasst (vgl. Seite 2, Zeilen 20 bis 22), ist durch den Hinweis auf unzureichenden Seitenaufprallschutz im Stand der Technik auch keine neue technische Information hinzugekommen. Der Beschwerdegegnerin ist zuzustimmen, dass es insoweit auf den objektiven Offenbarungsgehalt der Anmeldung und des aufgenommenen Hinweises ankommt und nicht auf (subjektive) Argumente, die die Beschwerdegegnerin im Verlauf des Verfahrens vorgebracht haben mag. Zuletzt werden, wie die Einspruchsabteilung richtig in Punkt 12 ihrer Entscheidung ausgeführt hat, aus den genannten Nachteilen auch keine zusätzlichen Vorteile der Erfindung abgeleitet, die nicht bereits in der Anmeldung erwähnt gewesen wären.

3. Artikel 100 a) EPÜ - Auslegung des Anspruchs

Entscheidend für die Beurteilung des Falles hinsichtlich Neuheit und erfinderischer Tätigkeit ist die Auslegung des als Verfahrensmerkmal formulierten kennzeichnenden Merkmals 1.6; daneben ist auch die Auslegung von Merkmal 1.4 zwischen den Parteien umstritten.

3.1 Nach Letzterem ist das energieabsorbierende und/oder übertragende Element (2) "so angeordnet und ausgebildet, um von einer Ruhestellung (3) in eine Funktionsstellung (4) überführt zu werden".

Wie von der Beschwerdegegnerin vertreten ist aus der Verwendung der Begriffe "Ruhe-" und "Funktionsstellung" im Anspruch ein inhärentes Merkmal zu einer relativen Qualität des Seitenaufprallschutzes zu entnehmen. Die Zusammenschau der Merkmale 1.4 und 1.5 gebietet dies, da ansonsten die Bestimmung einer "Ruhe-" und einer "Funktionsstellung" in Merkmal 1.4 und insbesondere die Definition der Funktionsstellung, deren Aufgabe es ist, "seitlich einwirkende Energie aufzunehmen" in Merkmal 1.5 überflüssig wäre. Die Fachperson wird Begriffe im Anspruch aber in der Regel technisch sinnvoll auslegen und versuchen, ihnen eine technische Lehre zu entnehmen, anstatt sie als technisch irrelevant abzutun.

Vor diesem Hintergrund wird die Fachperson es als nicht ausreichend ansehen, dass das Element (2) zwei beliebige Stellungen einnehmen kann. Die technische Lehre ist in diesem Fall vielmehr die Anweisung, das Element (2) so anzuordnen, dass es zwei Stellungen einnehmen kann, von denen eine eine Aufnahme seitlich einwirkender Energie ermöglicht, die die andere nicht oder jedenfalls nicht in vergleichbarem Maße erlaubt.

Im Ergebnis genügt also nicht jede Verstellbarkeit am Kindersitz, sondern nur eine solche, die ein Element von einem Zustand mit geringem oder keinem Seitenaufprallschutz in einen solchen mit erhöhtem Seitenaufprallschutz überführt.

3.2 Die Einspruchsabteilung hat das Merkmal 1.6 so verstanden, dass der beanspruchte Kindersitz:

Mittel aufweisen muss, die dazu ausgebildet sind, das [energieabsorbierende und/ober übertragende] Element beim Anbringen des Kindersitzes an seinem Bestimmungsort - ggf. in Zusammenwirkung mit externen, am Bestimmungsort vorgesehenen Bauteilen - automatisch aus der Ruhestellung in die Funktionsstellung zu überführen.

3.3 Die Beschwerdegegnerin stimmt dem zu. Die von der Beschwerdeführerin vertretene Auslegung sei technisch nicht vertretbar und führe zu abwegigen Folgen.

3.4 Die Beschwerdeführerin argumentiert wie folgt:

3.4.1 Merkmal 1.6 stelle ein reines Verfahrensmerkmal dar und könne daher die Struktur des Kindersitzes in keiner Weise einschränken.

3.4.2 Jede manuelle Verstellmöglichkeit im Stand der Technik erfülle das Merkmal zwangsläufig, da anstelle einer menschlichen Hand ebenso gut eine Roboterhand die Überführung bewirken könne und diese dann "automatisch" erfolge.

3.4.3 Da Absatz [0020] auch mechanische Mittel wie Hebelgetriebe nennt, und Absatz [0022] auf die mögliche Ausnutzung der (passiven) Einwirkung z. B. des Drucks des Gurtes auf den Sitz verweist, seien auch weder "aktive" Mittel noch gar ein eigener "Antrieb" erforderlich.

3.5 In dem letztgenannten Punkt ist der Beschwerdeführerin recht zu geben, in den ersten beiden aber nicht.

3.5.1 Das Verfahrensmerkmal ist im vorliegenden Fall durchaus beschränkend, da es Auswirkung auf die zur Verwirklichung des Verfahrens erforderliche Struktur hat. Da als Vorrichtung nur der Kindersitz, nicht aber ein System aus Sitz und Arretiervorrichtung o.ä. beansprucht ist, müssen entsprechende Mittel auch am Sitz selbst vorgesehen sein. Dieser muss daher zur Verwirklichung des Merkmals ausgestaltet sein.

In Übereinstimmung mit der Einspruchsabteilung muss der beanspruchte Sitz selbst daher Mittel aufweisen, um das energieabsorbierende und/oder übertragende Element im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Anbringen des Kindersitzes an seinem Bestimmungsort automatisch aus der Ruhestellung in die Funktionsstellung zu überführen.

Insoweit unterscheidet sich der Fall auch von dem im Verfahren T 1538/12 diskutierten. Dort genügte jede Art von Vorsprung an der beanspruchten Druckerpatrone, um einen Lichtpfad in der (nicht mit beanspruchten) Aufnahmeeinrichtung für die Patrone ggfs. zu unterbrechen. Das beanspruchte Subjekt war daher nur in seiner Auswirkung auf ein nicht beanspruchtes Objekt definiert. Hier dagegen wird ein Objekt beansprucht, das selbst veränderbar ist, um in unterschiedlichen Stellungen unterschiedlich stark wirkenden Seitenaufprallschutz zu bieten.

Diese Veränderung muss gemäß Merkmal 1.6 beim Anbringen am Bestimmungsort automatisch bewirkt werden können. Der hierzu erforderliche Mechanismus muss also im beanspruchten Objekt selbst ausgebildet sein, auch wenn er gegebenenfalls erst durch extern am Bestimmungsort vorhandene Strukturen (Fahrzeugsitz, Iso-Fix Verankerung, Gurt, etc.) auszulösen ist.

3.5.2 Vor diesem Hintergrund genügt die bloße manuelle Verstellbarkeit des Sitzes und deren abstrakt denkbare Auslösung durch einen Roboterarm nicht zur Erfüllung des Merkmals 1.6.

Eine Erfindung gilt dann als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Zu diesem zählt nach Artikel 54(2) EPÜ alles, was vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit durch Beschreibung, Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.

Neuheitsschädlich sind damit nur solche Vorrichtungen, deren offenbarte Merkmale all jene der Erfindung vorwegnehmen, einschließlich etwaiger Strukturen und Funktionalitäten, die durch ein Verfahrensmerkmal bedingt sind.

Wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Vorrichtung ihre beanspruchte Funktionalität im Zusammenwirken mit einer nicht mitbeanspruchten Gegenstruktur entfalten kann, so ist auch diese Erfindung nur neuheitsschädlich vorweggenommen, wenn ihre strukturellen und funktionalen Merkmale bereits vor dem Anmeldetag unmittelbar und eindeutig offenbart worden sind.

Im vorliegenden Fall müsste also gezeigt sein, dass Kindersitze mit Strukturen existierten, die beim Anbringen an ihrem Bestimmungsort mit dort existierenden Strukturen in einer Weise zusammenwirken konnten, dass Elemente automatisch von einer Ruhestellung (ohne bzw. mit geringem Seitenaufprallschutz) in eine Funktionsstellung (mit erhöhtem Seitenaufprallschutz) überführt werden konnten.

Bestimmungsort für einen Kindersitz ist der Ort, an dem dieser bestimmungsgemäß zum Einsatz kommt, nicht aber der Ort seiner Herstellung. Auch eine abschließende Funktionsüberprüfung ist eindeutig noch der Herstellung des Sitzes und nicht seinem späteren bestimmungsgemäßen Gebrauch zuzuordnen.

3.5.3 Zuzustimmen ist der Beschwerdeführerin darin, dass Merkmal 1.6 keinen aktiven Antrieb im Kindersitz verlangt; auch die Ausnutzung von beim Anbringen ohnehin auftretenden Kräften zur Umstellung des beanspruchten Elements ist anspruchsgemäß.

4. Artikel 100 a) EPÜ - Neuheit

Vor dem Hintergrund dieser Auslegung ist die Einschätzung der Einspruchsabteilung zu bestätigen, dass keine der Entgegenhaltungen ein Element (2) zeigt, das beim Anbringen an einem Bestimmungsort automatisch von einer Ruhe- in eine Funktionsstellung überführt wird.

4.1 Insbesondere ist dies bei Dokument MB5 nicht der Fall, das einen Kindersitz zeigt, der zwar Strukturen zum selbsttätigen Entfalten eines als Seitenaufprallschutz wirkenden energieabsorbierenden Elements neben dem Kopfbereich eines Kindersitzes zeigt. Das Entfalten erfolgt durch die natürliche Expansion des im Element (14) verwendeten offen-zelligen Schaums, siehe Absatz [0032], sobald ein hinter dem Element verborgenes Belüftungsventil geöffnet wird.

Allerdings sind nach dem Anbringen des Sitzes, wie aus Figuren 3b bis 3d und Absatz [0038] ersichtlich, drei manuelle Schritte erforderlich, nämlich das Herausklappen des Elements (14) (Figur 3b), das Öffnen der Kappe (20) über der Belüftungsöffnung (19) (Figur 3c) und das Zurückklappen des Elements (14) (Figur 3d).

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

Die Beschwerdeführerin hat nicht gezeigt, dass zum Prioritätstag Bestimmungsorte von Kindersitzen existierten, die so ausgestaltet waren, dass sich die manuelle Ausführung dieser Schritte erübrigte, etwa da durch den bloßen Anbringvorgang selbst das Element 14 zweimal verschwenkt und dazwischen die Kappe 20 erfasst und geöffnet würde.

Eine automatische Überführung des Elements "beim Anbringen des Kindersitzes an seinem Bestimmungsort automatisch aus der Ruhestellung in die Funktionsstellung" im Sinne von Merkmal 1.6 ist daher nicht offenbart, selbst wenn man wie oben 3.6.2 ausgeführt bei einer durch ein Verfahrensmerkmal definierten Vorrichtung deren Ausgestaltung zur Verwirklichung der im Verfahren beschriebenen Funktionalität genügen lässt.

Hierin liegt der weitere Unterschied zu dem von der Beschwerdeführerin herangezogenen Beispiel aus T 1538/12. Die im dortigen Stand der Technik gezeigten Tintenpatronen wiesen (wie bereits ausgeführt) Vorsprünge auf, die alleine für sich bereits geeignet waren, Lichtsignale etwaiger Aufnahmevorrichtungen zu unterbinden, sobald sie in diese eingeführt waren. Zudem waren aber auch Aufnahmevorrichtungen, die Lichtsignale sendeten und deren Eintreffen auf der anderen Seite des Aufnahmeschachts detektierten, dort wohlbekannt. Hingegen sind Bestimmungsorte, also insbesondere Fahrzeugsitze, auf denen Kindersitze gemäß MB5 angebracht werden konnten und die so ausgestaltet waren, dass beim Anbringvorgang automatisch die oben beschriebenen manuellen Schritte ausführbar waren, im vorliegenden Verfahren nicht gezeigt worden.

Insoweit genügt auch nicht die nur theoretisch beschriebene Möglichkeit, einen Roboterarm zu Ausführung dieser Schritte einzusetzen. Es wurde nicht dargelegt, dass an Bestimmungsorten von Kindersitzen tatsächlich solche zur Verfügung standen, die zudem mit Sensoren zur Detektion der Lage eines angebrachten bzw. anzubringenden Kindersitzes gemäß MB5 und seiner Elemente 14, 19 und 20 sowie einem Steuergerät samt entsprechend programmierter Software hätten ausgestattet sein müssen, um zur Überführung des Elements 14 von seiner Stellung gemäß Figur 3a in die gemäß Figur 3e in der Lage gewesen zu sein.

Auch wenn die Gegenstruktur nicht mitbeansprucht ist, erscheint es im Rahmen der Prüfung von Artikel 54 EPÜ unzulässig, sich eine beliebige Struktur auszudenken, die für die Überführung eingesetzt werden könnte, wenn eine solche - wie im vorliegenden Fall - im Stand der Technik nirgends auch nur ansatzweise gezeigt ist.

4.2 Welcher Grad der Verallgemeinerung zulässig wäre, wenn im Stand der Technik prinzipiell geeignete, aber nicht vollständig angepasste Gegenstrukturen gezeigt wurden, wie dies im Sachverhalt zum Ladungsbescheid T 1538/12 der Fall war, musste von der Kammer nicht entschieden werden, da es hieran vorliegend vollständig fehlte.

Obwohl die Beschwerdeführerin der Feststellung der Einspruchsabteilung, sie habe "nicht bestritten, dass das Element in keiner Entgegenhaltung beim Anbringen ... überführt wird, bzw. dass in keiner Entgegenhaltung entsprechende Mittel am Kindersitz vorhanden sind", widersprochen hat, benannte sie doch keine Sitze aus dem Stand der Technik, die im Zusammenwirken mit einer dort oder an anderer Stelle an einem Bestimmungsort eines Kindersitzes offenbarten Gegenstruktur (und nicht nur zusammen mit einem imaginären Roboterarm) beim Anbringen des Sitzes eine automatische Überführung des energieaufnehmenden Elements von der Ruhe- in die Funktionsstellung ermöglichen würden.

4.3 Der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents wie erteilt (Hauptantrag) ist daher neu.

5. Artikel 100 a) EPÜ: Erfinderischer Schritt

Dieser Gegenstand war zum Prioritätszeitpunkt auch nicht nahegelegt.

5.1 Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, ausgehend vom Dokument MB5 stelle sich nur die Aufgabe, die dort gelehrte manuelle Überführung des energieabsorbierenden Elements (14) von seiner Ruhestellung in die Funktionsstellung, wie sie oben unter Punkt 4.1 dargestellt ist, zu automatisieren. Auslöser sei in beiden Fällen der - in Absatz [0032] von MB5 explizit genannte - Umstand, dass der Kindersitz soeben am Bestimmungsort montiert wurde. Da die Automatisierung von Verfahrensschritten nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern immer im Bestreben der Fachperson liege und einem allgemeinen Trend in der Technik entgegenkomme, könne hierin und mit der laut Patent durch die Automatisierung bezweckten Erhöhung des Bedienungskomforts, (die mit einer solchen stets einhergehe), kein erfinderischer Schritt gesehen werden. Merkmal 1.6 nenne auch keine technische Lösung, sondern beschränke sich allein auf das abstrakte Konzept der Automatisierung.

5.2 Die Beschwerdegegnerin vertrat dagegen die Auffassung, es handle sich nicht nur um die Frage, ob eine Automatisierung der Überführung nahegelegt gewesen sei, sondern auch ob die Verwendung des Triggers "Anbringen" für die automatische Überführung naheliegend erschienen sei. Letztere erst erlaube sowohl die Erhöhung des Bedienkomforts als auch eine Verhinderung von Fehlbedienungen. Die Fachperson entnehme dem Merkmal "beim Anbringen", gestützt auch durch die Absätze [0019] bis [0024] des Patents einen Kausalzusammenhang zwischen dem Anbringen des Sitzes und einem zwangsläufig daraus resultierenden Überführen seines Schutzelements von der Ruhe- in die Funktionsstellung.

5.3 Wie von der Einspruchsabteilung richtig dargelegt, beschränkt sich die Erfindung nicht in der Automatisierung einer an sich bekannten Tätigkeit. Vielmehr werden die beiden im Stand der Technik immer nacheinander erfolgenden Schritte des (1) Anbringens des Sitzes und des (2) Überführens eines den Seitenaufprallschutz gewährenden Elements zusammengeführt und im Sinne des von der Beschwerdegegnerin dargelegten zwingenden Kausalzusammenhangs miteinander verbunden. Dies bietet neben dem Komfortgewinn auch den weiteren Vorteil, Fehlbedienungen zu vermeiden. Es kommt dabei auch nicht darauf an, dass jede Automatisierung jede Fehlbedienung zuverlässig unterbindet. Es genügt, wenn die Gefahr von Fehlbedienungen reduziert wird. Dies ist der Fall, wenn die Überführung des Funktionselements automatisch durch das Anbringen ausgelöst wird.

5.4 Eine Verknüpfung der genannten Art wird entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin im Stand der Technik tatsächlich nicht angeregt, insbesondere auch nicht in MB5. Die in Bezug genommene Stelle in Absatz [0032] "When the child car seat is installed in a vehicle, the sealing cap is removed..." bezieht sich (wie die ähnliche Passage in Absatz [0018] am Ende) auf die oben unter Punkt 4.1 geschilderte Handlungskette, die gemäß Absätzen [0036] bis [0038] und Figuren 3a) bis 3d) an dem Sitz nach dessen Installation im Fahrzeug vorgenommen werden muss. Der Installationsvorgang selbst wird weder näher beschrieben, noch findet sich in der Schrift ein Hinweis, dass gerade die Installation des Sitzes das Ausklappen, sowie die Belüftung und Entfaltung des Elements 14 zwingend auslösen würde. Mehr als eine zeitliche Nähe zwischen beiden Schritten wird daher in MB5 nicht beschrieben. Es finden sich auch keine Hinweise, an welcher Stelle eine zwingend kausale Zusammenführung unter gleichzeitiger Automatisierung ansetzen könnte: Die bislang manuell zu entfernende Kappe (20) über der Lüftungsöffnung (19) des Elements (14) ist weit entfernt von jeder beim Anbringvorgang typischerweise involvierten Struktur (Sitzgurt oder Isofix-Elemente) angeordnet. Das Anbringen zum zwingenden Trigger für ein (dann automatisches) Aus- und Einklappen samt Belüftung des Elements (14) zu machen, würde daher einen ganz erheblichen konstruktiven Aufwand mit sich bringen, den die Fachperson nicht in naheliegender Weise auf sich nehmen würde.

5.5 Eine solche Anregung erhält die Fachperson auch nicht aus den anderen von der Beschwerdeführerin herangezogenen Schriften. Am nächsten kommt insoweit MB49, die sich mit der automatischen Straffung eines Fahrzeuggurtes eines im Auto montierten Kindersitzes befasst, wobei die Straffung im ersten von zwei beschriebenen Fällen (siehe Spalte 1, Zeile 25) bereits mit dem Anlegen des Gurtes erfolgen kann. Der als verknüpft beschriebene Mechanismus beschränkt sich aber auf eine Verbesserung der Anbringung des Sitzes und kann daher keine Anregung geben, jenseits der für die Anbringung im Fahrzeug selbst benötigten Elemente weitere Funktionselemente am Sitz automatisch zu aktivieren. Erst recht würde es an konkreten Hinweisen fehlen, wie die in MB5 oder einem der anderen Ausgangsdokumente gezeigten - jeweils beabstandet von Gurtschnalle und Gurt angeordneten - Strukturen, ausgelöst durch das Anbringen des Sitzes, automatisch von einer Ruhestellung in eine Funktionsstellung überführt werden könnten. Auch hier wären erhebliche Umkonstruktionen erforderlich, die der Fachperson durch eine Kombination eines der Ausgangsdokumente mit MB49 nicht nahegelegt werden. Gleiches gilt für die anderen, noch weiter entfernt liegenden Kombinationsdokumente.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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