T 2578/19 () of 3.5.2023

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2023:T257819.20230503
Datum der Entscheidung: 03 Mai 2023
Aktenzeichen: T 2578/19
Anmeldenummer: 08104374.7
IPC-Klasse: G06Q 40/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Notfallinterventionssystem und entsprechendes Verfahren zur automatisierten Behebung von Betriebsstörungen bei Transportmittel
Name des Anmelders: Swiss Reinsurance Company Ltd.
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.4.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 012(3)
Rules of procedure of the Boards of Appeal 2020 Art 013(2)
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 84
European Patent Convention Art 123(2)
Schlagwörter: Spät eingereichter Antrag - eingereicht mit der Beschwerdebegründung, hätte bereits im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht werden können und müssen
Beschwerdebegründung - vollständiger Sachvortrag eines Beteiligten (nein)
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/19
R 0009/11
R 0010/11
R 0001/13
T 0139/87
T 0047/90
T 0219/93
T 0489/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 08 104 374 zurückzuweisen.

II. Die Prüfungsabteilung entschied, dass der einzige damals vorliegende Antrag nicht die Erfordernisse des Artikels 52 (1) EPÜ in Kombination mit Artikel 56 EPÜ erfülle, da die in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 14 definierten Gegenstände nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhten.

III. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) beantragte abschließend in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,

- als Hauptantrag, die Zurückweisung aufzuheben und die Patentanmeldung auf Grundlage der Ansprüche gemäß Anhang A, eingereicht mit der Beschwerdebegründung vom 19. August 2019 und erneut mit Schreiben vom 3. April 2023, an die Prüfungsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen,

- als ersten Hilfsantrag, die Zurückweisung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage der Ansprüche gemäß Anhang A zu erteilen und

- als zweiten Hilfsantrag, die Zurückweisung aufzuheben und ein Patent auf Grundlage der Ansprüche gemäß Anhang B, eingereicht mit Schreiben vom 3. April 2023 und im Wesentlichen deckungsgleich mit den der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Ansprüchen, zu erteilen.

IV. Der unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags und ersten Hilfsantrags gemäß Anhang A (in der Fassung wie mit Schreiben vom 3. April 2023 eingereicht) lautet wie folgt (Änderungen gegenüber Anspruch 1 des einzigen Antrags, wie er der Entscheidung der Prüfungsabteilung zugrunde lag, sind unterstrichen):

"Verfahren zum automatisierten Detektieren von Betriebsstörungen bei Transportmitteln (41) und automatisierten Generieren dedizierter Aktivierungssignaldaten und Aktivieren von spezifisch selektierbaren, automatisierten Interventionsmittel [sic] (40), wobei mittels einer Sensorik (401) eines Notfallinterventionssystem [sic] (80) sich ereignende Betriebsstörungen detektiert werden, wobei mittels einer Aktivierungsvorrichtung (203) basierend auf einer detektierten Betriebsstörung dedizierte Aktivierungssignaldaten generiert und auf ein entsprechendes, automatisiertes Interventionsmittel (40) übertragen werden, und so dass mittels des Interventionsmittel [sic] (40) die Betriebsstörung behebbar ist,

dadurch gekennzeichnet,

dass das Notfallinterventionssystem (80) mittels einer Kontroll- und/oder Alarmvorrichtung (402) des einen oder mehreren Transportmittels (41) uni- oder bidirektional mit dem einen oder mehreren Transportmittel (41) drahtlos verbunden wird, wobei sich ereignende Betriebsstörungen mittels einer angepassten Sensorik (401) detektiert werden, die mindestens Sensoren zum Detektieren von Betriebsparametern des Transportmittels (41) und/oder ein Ortserfassungsmodul zum Erfassen von Ortskoordinatenparametern des Transportmittels (41) und/oder Mittel zum Erfassen von benutzerspezifischen Messparametern des Fahrzeugbenutzers umfassen,

dass ein erster inkrementierbaren [sic] Stapelspeicher (202) eines geschützten Speichermodul [sic] (201) einem oder mehreren Transportmittel (41) zuordnet [sic] wird, wobei mittels eines Interfacemodul [sic] des Notfallinterventionssystem [sic] (80) vorbestimmte Aktivierungsparameter von einer ersten Netzwerkeinheit periodisch über ein Netzwerk (50) auf das Notfallinterventionssystem (80) übertragen werden und der Stapelspeicher (202) basierend auf dem übertragenen Aktivierungsparameter schrittweise inkrementiert wird,

dass mittels des Interfacemodul [sic] Ergänzungsparameter von einer Vielzahl von zweiten Netzwerkeinheiten (31,...,34) über das Netzwerk (50) auf das Interventionssystem (80) übertragen werden, wobei die Ergänzungsparameter mindestens Identifikationsdaten der jeweiligen zweiten Netzwerkeinheit (31,...,34) und einen benutzerspezifischen Ergänzungsfaktor umfassen,

dass die Interventionsvorrichtung (80) ein geschütztes Ergänzungsspeichermodul (101) mit einem zweiten inkrementierbaren Stapelspeicher (102) und einer Lookup-Table (103) umfasst, wobei der zweite Stapelspeicher (102) basierend auf dem Ergänzungsfaktor inkrementiert wird und wobei Ergänzungsfaktor und Identifikationsdaten als Wertepaar mittels Lookup-Table (103) einander zugeordnet abspeichert [sic] werden,

dass ein Schaltmoduls [sic] (104) des Notfallinterventionssystems (80) einen Stapelspeicherhöhenwert der beiden Stapelspeicher (102/202) kumuliert erfasst und, falls ein definierter kumulierter Speicherschwellwert erreicht wird, die Aktivierungsvorrichtung (203) zum Aktivieren der Interventionsmittel (40) freischaltet,

dass ein Korrelationsmodul (90) der Aktivierungsvorrichtung (203) basierend auf der Aktivierung der Interventionsmittel (40) und/oder den dedizierten Aktivierungssignaldaten entsprechende Betriebstörungsparameter generiert und mittels der Ergänzungsfaktoren der Lookup-Table quantitativ gewichtet (901), wobei mittels der Betriebstörungsparameter der Stapelspeicherhöhenwert mindestens eines der beiden Stapelspeicher (102/202) dekrementiert wird,

dass die mittels der Aktivierungsvorrichtung (203) basierend auf der detektierten Betriebsstörung generierten dedizierte [sic] Aktivierungssignaldaten mindestens mittels des Ortserfassungsmoduls erfasste Ortskoordinatenparameter des aktuellen Standortes des Transportmittels umfassen und auf das Interventionsmittel (40) übertragbar sind, so dass ein entsprechendes Interventionsereignis anpasst [sic] auslösbar ist und mittels des Interventionsmittel [sic] (40) die Betriebsstörung behebbar ist, und (Anspruch 1; Beschreibung [0013])

dass mittels eines Clearingmoduls des Notfallinterventionssystem [sic] (80) nach Ablauf eines vordefinierbaren Zeitfenster [sic] ein kumulierter Stapelspeicherhöhenwert der beiden Stapelspeicher (102/202) ausgelesen wird und Clearingparameter basierend auf den Wertepaaren der Lookup-Table (103) generiert und über das Interfacemodul (30) auf die zweiten Netzwerkeinheiten (31,...,34) übertragen werden, falls der kumulierte Stapelspeicherhöhenwert einen vorbestimmten Schwellwert erreicht, wobei das Schaltmodul (104) die Freischaltung der Aktivierungsvorrichtung für die Aktivierung der Interventionsmittel (40) unterbricht."

V. Der unabhängige Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags gemäß Anhang B lautet wie folgt:

"Verfahren zum automatisierten Detektieren von Betriebsstörungen bei Transportmitteln (41) und automatisierten Generieren dedizierter Aktivierungssignaldaten und Aktivieren von spezifisch selektierbaren, automatisierten Interventionsmittel [sic] (40), wobei mittels einer Sensorik (401) eines Notfallinterventionssystem [sic] (80) sich ereignende Betriebsstörungen detektiert werden, wobei mittels einer Aktivierungsvorrichtung (203) basierend auf einer detektierten Betriebsstörung dedizierte Aktivierungssignaldaten generiert und auf ein entsprechendes, automatisiertes Interventionsmittel (40) übertragen werden, und so dass mittels des Interventionsmittel [sic] (40) die Betriebsstörung behebbar ist,

dadurch gekennzeichnet,

dass das Notfallinterventionssystem (80) mittels einer Kontroll- und/oder Alarmvorrichtung (402) des einen oder mehreren Transportmittels (41) uni- oder bidirektional mit dem einen oder mehreren Transportmittel (41) drahtlos verbunden wird, wobei sich ereignende Betriebsstörungen mittels einer angepassten Sensorik (401) detektiert werden, die mindestens Sensoren zum Detektieren von Betriebsparametern des Transportmittels (41) und/oder ein Ortserfassungsmodul zum Erfassen von Ortskoordinatenparametern des Transportmittels (41) und/oder Mittel zum Erfassen von benutzerspezifischen Messparametern des Fahrzeugbenutzers umfassen,

dass ein erster inkrementierbaren [sic] Stapelspeicher (202) eines geschützten Speichermodul [sic] (201) einem oder mehreren Transportmittel (41) zuordnet [sic] wird, wobei mittels eines Interfacemodul [sic] des Notfallinterventionssystem [sic] (80) vorbestimmte Aktivierungsparameter von einer ersten Netzwerkeinheit periodisch über ein Netzwerk (50) auf das Notfallinterventionssystem (80) übertragen werden und der Stapelspeicher (202) basierend auf dem übertragenen Aktivierungsparameter schrittweise inkrementiert wird,

dass mittels des Interfacemodul [sic] Ergänzungsparameter von einer Vielzahl von zweiten Netzwerkeinheiten (31,...,34) über das Netzwerk (50) auf das Interventionssystem (80) übertragen werden, wobei die Ergänzungsparameter mindestens Identifikationsdaten der jeweiligen zweiten Netzwerkeinheit (31,...,34) und einen benutzerspezifischen Ergänzungsfaktor umfassen,

dass die Interventionsvorrichtung (80) ein geschütztes Ergänzungsspeichermodul (101) mit einem zweiten inkrementierbaren Stapelspeicher (102) und einer Lookup-Table (103) umfasst, wobei der zweite Stapelspeicher (102) basierend auf dem Ergänzungsfaktor inkrementiert wird und wobei Ergänzungsfaktor und Identifikationsdaten als Wertepaar mittels Lookup-Table (103) einander zugeordnet abspeichert [sic] werden,

dass ein Schaltmoduls [sic] (104) des Notfallinterventionssystems (80) einen Stapelspeicherhöhenwert der beiden Stapelspeicher (102/202) kumuliert erfasst und, falls ein definierter kumulierter Speicherschwellwert erreicht wird, die Aktivierungsvorrichtung (203) zum Aktivieren der Interventionsmittel (40) freischaltet,

dass ein Korrelationsmodul (90) der Aktivierungsvorrichtung (203) basierend auf der Aktivierung der Interventionsmittel (40) und/oder den dedizierten Aktivierungssignaldaten entsprechende Betriebstörungsparameter generiert und mittels der Ergänzungsfaktoren der Lookup-Table quantitativ gewichtet (901), wobei mittels der Betriebstörungsparameter der Stapelspeicherhöhenwert mindestens eines der beiden Stapelspeicher (102/202) dekrementiert wird, und

dass mittels eines Clearingmoduls des Notfallinterventionssystem [sic] (80) nach Ablauf eines vordefinierbaren Zeitfenster [sic] ein kumulierter Stapelspeicherhöhenwert der beiden Stapelspeicher (102/202) ausgelesen wird und Clearingparameter basierend auf den Wertepaaren der Lookup-Table (103) generiert und über das Interfacemodul (30) auf die zweiten Netzwerkeinheiten (31,...,34) übertragen werden, falls der kumulierte Stapelspeicherhöhenwert einen vorbestimmten Schwellwert erreicht, wobei das Schaltmodul (104) die Freischaltung der Aktivierungsvorrichtung für die Aktivierung der Interventionsmittel (40) unterbricht."

VI. Die für die Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin werden wie folgt zusammengefasst:

Hauptantrag und erster Hilfsantrag - Zulassung in das Verfahren

a) Da die Prüfungsabteilung bereits vor der mündlichen Verhandlung eine festgefahrene Meinung gehabt und eine nicht zutreffende "Triage" von angeblich technischen und nicht-technischen Merkmalen vorgenommen habe, wäre zum damaligen Zeitpunkt die Einreichung der geänderten Ansprüche gemäß Anhang A von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Dies hätte nur unnötig Zeit gekostet, weswegen darauf verzichtet wurde. Auch habe es, wie sonst gewünscht und normalerweise gewohnt, keinen positiven Hinweis in Hinblick auf einen patentierbaren Gegenstand von Seiten der Prüfungsabteilung gegeben. Somit erschiene zum damaligen Zeitpunkt die Einreichung eines Hilfsantrags im Prüfungsverfahren bzw. des nun vorliegenden Antrags gemäß Anhang A nicht zielführend.

b) Auch seien durch die geänderten Ansprüche gemäß Anhang A alle von der Prüfungsabteilung aufgeworfenen Einwände behoben worden. Somit wäre analog den Entscheidungen T 219/93, T 47/90 und T 139/87 die Begründung der Prüfungsabteilung für ihre Entscheidung nicht mehr zutreffend, weswegen eine Rückverweisung an die erste Instanz wie in den zitierten Entscheidungen erfolgen könnte und müsste. Die nun durchgeführte Änderung sei auch in Reaktion auf die Entscheidung G 1/19 der großen Beschwerdekammer erfolgt. Nun sei ein Merkmal definiert, welches die dort unter Punkt 87 f. angeführte "[d]irekte Verbindung zur physischen Realität" explizit spezifiziere und somit die nötige Technizität eindeutig herstelle.

c) Auch wären die Änderungen ausreichend substantiiert, da die Basis im Anspruchswortlaut angegeben sei. Es sei offensichtlich, dass in der in Klammern angegebenen Fundstelle statt Anspruch 1 nur Anspruch 3 gemeint sein könne. Die andere Fundstelle, nämlich Absatz [0013], offenbare exakt, was nun im Anspruchswortlaut ausgedrückt sei. Hinsichtlich der Substantiierung der erfinderischen Tätigkeit lege der gesamte Abschnitt zur erfinderischen Tätigkeit in der Beschwerdebegründung (Seiten 5 bis 7) dar, warum der nun im geänderten Anspruch definierte Gegenstand erfinderisch sei. Dies sei weiter präzisiert durch die auf Seite 5, letzter Absatz und Seite 6, zweiter Absatz, fettgedruckten Teilsätze.

Zweiter Hilfsantrag

d) Eine Reaktion auf die Nichtzulassung des Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags müsse möglich sein. Die Rückkehr zum der Entscheidung zugrunde liegenden Antrag sei u. a. durch die neuen Klarheitseinwände der Kammer in ihrer Mitteilung motiviert. Auch hierauf müsse eine Reaktion möglich sein. Überdies handele es sich hier nicht um eine substantielle Änderung, da das in Anhang A neu aufgenommene und nun wieder gestrichene Merkmal kein wesentliches Merkmal darstelle. Es unterstreiche lediglich die Verbindung zur realen Welt, welche auch weiterhin in den Ansprüchen gemäß Anhang B definiert sei.

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag - Zulassung der Ansprüche gemäß Anhang A in das Verfahren

1.1 Die dem Hauptantrag zugrunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang A wurden erstmalig mit der Beschwerdebegründung eingereicht. In diesen Ansprüchen wurde in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 14 jeweils ein weiteres Merkmal neu aufgenommen. Somit stellen diese Ansprüche eine Änderung der Sachlage dar, da das neu in den Ansprüchen 1 und 14 aufgenommene Merkmal weder explizit noch implizit in der Entscheidung der Prüfungsabteilung berücksichtigt war.

1.2 Gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007, welcher hier gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 Anwendung findet, hat die Kammer ein Ermessen "Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können".

1.3 Die Kammer hat folglich zunächst ein Ermessen diesen neu eingereichten Antrag in das Beschwerdeverfahren zuzulassen oder nicht. Sodann wäre, im Falle einer Zulassung des Antrags in das Verfahren, über die Gewährbarkeit der Ansprüche und eine eventuelle Zurückverweisung an die erste Instanz zu entscheiden.

1.4 Die Kammer ist aus den im Folgenden erläuterten Gründen der Auffassung, dass die nun erstmalig eingereichten Ansprüche gemäß Anhang A bereits im erstinstanzlichen Verfahren, spätestens im Laufe der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung, hätten eingereicht werden können und müssen (vgl. zur Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern zur Ermessensausübung gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 ausführlich Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 10. Aufl. 2022 ("Rechtsprechung"), V.A.5.11.4 a)).

1.4.1 Bereits vor der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung war der Beschwerdeführerin (damals Anmelderin) die negative Meinung der Prüfungsabteilung zum damaligen Hauptantrag bekannt. Dennoch hat sie sowohl in Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung als auch während der mündlichen Verhandlung auf die Einreichung von Hilfsanträgen verzichtet.

Hilfsanträge einzureichen, um eine Rückfallposition zu haben, ist eine durchaus gängige Vorgehensweise. Dies ist insbesondere dann geboten, wenn die Prüfungsabteilung sich den vorliegenden Anträgen gegenüber durchwegs negativ geäußert hat und keinen Sachverhalt erkennen ließ, welcher gegebenenfalls patentierbar erscheinen könnte.

Auch hätte die Einreichung dieses Antrags nicht als unnötige Ausweitung des gesamten Falles angesehen werden können, da kein Hilfsantrag im erstinstanzlichen Verfahren vorlag und die Einreichung eines Hilfsantrags eine gängige Vorgehensweise darstellt.

Darüber hinaus enthält die angefochtene Entscheidung im Vergleich zu den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung und zu den Ausführungen der Prüfungsabteilung in deren Ladung zur mündlichen Verhandlung nichts Überraschendes. Somit kann die erstmalige Vorlage der Ansprüche gemäß Anhang A mit der Beschwerdebegründung nicht als Reaktion auf die Entscheidung der Prüfungsabteilung angesehen werden.

Der vorliegende Antrag hätte folglich nach Meinung der Kammer im erstinstanzlichen Verfahren zumindest als Hilfsantrag gestellt werden können und müssen. Wäre er gestellt worden, hätte die Prüfungsabteilung eine Entscheidung hierüber treffen müssen und es läge nun eine Meinung der Prüfungsabteilung zu diesem Antrag, insbesondere zum neu hinzugefügten Merkmal, vor, welche im Beschwerdeverfahren überprüft hätte werden können. Dies entspräche dem primären Charakter des Beschwerdeverfahrens, welches keine bloße Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens darstellt, sondern vielmehr ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen ist (siehe auch Artikel 12 (2) VOBK 2020 sowie Rechtsprechung, V.A.1.1, insbesondere zweiter und dritter Absatz, sowie V.A.5.2.2).

1.4.2 Da der vorliegende Antrag aber nicht im erstinstanzlichen Verfahren geprüft worden war, wäre nun entweder eine erstmalige Prüfung dieses Antrags durch die Kammer oder eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz zur Prüfung dieses Antrags nötig. Insbesondere auch unter Berücksichtigung des Anmeldezeitpunkts im Jahre 2008 erscheinen beide Alternativen aus verfahrensökonomischen Gründen nicht geboten.

1.4.3 Auch überzeugt die Behauptung der Beschwerdeführerin nicht, dass die Einreichung eines oder mehrerer Hilfsanträge im Prüfungsverfahren nicht zweckmäßig gewesen wäre, da die Prüfungsabteilung eine bereits festgefahrene negative Meinung zum Fall gehabt habe. Auf Grund der gebotenen Sorgfaltspflicht des Anmelders ist ein mögliches Beschwerdeverfahren bereits im Prüfungsverfahren gegebenenfalls durch die Einreichung von Hilfsanträgen vorzubereiten. Denn nur wenn eine Entscheidung der Prüfungsabteilung zu einem Anspruchsgegenstand vorliegt, kann die Kammer den Fall gerichtlich überprüfen. Hierbei sollte es belanglos sein, ob die Meinung der Prüfungsabteilung festgefahren ist oder nicht, denn es obliegt alleinig der Beschwerdeführerin zu entscheiden, welchen Gegenstand sie auf seine Patentierbarkeit hin geprüft haben möchte.

1.4.4 Auch ist es aus Sicht der Kammer nicht überzeugend, dass ein Hinweis der Prüfungsabteilung auf einen möglicherweise patentierbaren Gegenstand im Rahmen der Diskussion zum Hauptantrag notwendig gewesen wäre, um einen entsprechenden Hilfsantrag einzureichen. Wie bereits im vorherigen Absatz erwähnt, obliegt es alleinig der Beschwerdeführerin (bzw. Anmelderin) zu entscheiden, welchen Gegenstand sie zur Prüfung auf Patentierbarkeit vorlegt. Hierzu ist kein inhaltlicher Hinweis durch die Prüfungsabteilung nötig.

1.4.5 Schließlich kann auch die Behauptung der Beschwerdeführerin, die Ansprüche gemäß Anhang A wären in Reaktion auf die Entscheidung G 1/19 eingereicht worden, nicht überzeugen. Die Beschwerdeführerin trug vor, dass das geänderte Merkmal die in G 1/19 diskutierte "[d]irekte Verbindung zur physischen Realität" (G 1/19, ABl. EPA 2021, A77, Entscheidungsgründe, Punkt 87 f.) schärfen solle. Da aber die Beschwerdebegründung bereits am 19. August 2019 eingereicht wurde, die Entscheidung G 1/19 aber vom 10. März 2021 stammt, kann es sich hier nicht um eine Reaktion auf die Entscheidung G 1/19 handeln. Die Kammer merkt im Übrigen an, dass die genannten Ausführungen der Großen Beschwerdekammer in G 1/19 ohnehin keinen Anlass für die Hinzufügung des neuen Merkmals gegeben hätten: Die Frage der Notwendigkeit einer direkten Verbindung zur physischen Realität, um die Technizität eines Merkmals oder Anspruchs herzustellen, ist nämlich keineswegs neu (siehe die Nachweise in der zu G 1/19 führenden Vorlageentscheidung T 489/14, Entscheidungsgründe, Punkt 31 ff.).

1.4.6 Schließlich sieht die Kammer aus folgenden Gründen keinen Anlass, angesichts der von der Beschwerdeführerin genannten Entscheidungen T 219/93, T 47/90 und T 139/87, in welchen erst mit der Beschwerdebegründung eingereichte Anspruchssätze in das Verfahren zugelassen wurden, den Hauptantrag in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

a) Die drei zitierten Entscheidungen stammen aus den Jahren 1993, 1990 bzw. 1989 und liegen somit 30 Jahre oder länger zurück. Seit dieser Zeit hat sich die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, insbesondere was die Zulassung von geänderten Ansprüchen in das Verfahren betrifft, wesentlich weiterentwickelt, zumal zum Zeitpunkt der genannten Entscheidungen die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern 2007, auf deren Grundlage die Kammer im vorliegenden Fall ihre Ermessensentscheidung zu treffen hat, noch nicht existierte; eine dem Artikel 12 (4) VOBK 2007 inhaltlich entsprechende Vorschrift wurde erst in Artikel 10a (4) der Verfahrensordnung in der ab 1. Mai 2003 geltenden Fassung (siehe ABl. EPA 2003, 61) eingeführt. Bereits aus diesem Grund kann die damalige Vorgehensweise im Hinblick auf die Zulassung von geänderten Ansprüchen in das Verfahren nicht maßgeblich für die hier zu treffende Entscheidung sein.

b) Auch inhaltlich ist in allen drei zitierten Entscheidungen der Sachverhalt nicht mit der vorliegenden Sachlage vergleichbar. Bei keiner der drei Entscheidungen handelt es sich um eine Mischerfindung wie im vorliegenden Fall. Auch war in allen drei zitierten Entscheidungen der jeweilige Sachverhalt so eindeutig, dass mit Hilfe einer einfachen und offensichtlichen Änderung alle von der Prüfungsabteilung erhobenen Einwände in einfacher Weise behoben werden konnten. Dies ist im vorliegenden Fall nicht zutreffend, da die Beschwerdeführerin nicht ohne Weiteres davon ausgehen konnte, dass durch die durchgeführte Änderung weder neue Einwände aufgeworfen würden, noch alle von der Prüfungsabteilung vorgetragenen Einwände aus dem Weg geräumt werden würden.

1.4.7 Somit kommt die Kammer zur Auffassung, dass die Einreichung der Ansprüche gemäß Anhang A bereits im erstinstanzlichen Verfahren erfolgen hätte müssen. In Ausübung ihres Ermessens gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 lässt sie daher den Hauptantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zu.

1.5 Überdies ist in der Beschwerdebegründung nicht ausreichend substantiiert, warum die in den Ansprüchen gemäß Anhang A vorgenommenen Änderungen nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung hinausgehen (Artikel 123 (2) EPÜ) und dabei die von der Prüfungsabteilung erhobenen Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 52 und 56 EPÜ) aus dem Weg räumen. Somit stellt die mangelnde, jedoch gemäß Artikel 12 (3) VOBK 2020 (welcher inhaltsgleich zu Artikel 12 (2) VOBK 2007 ist) erforderliche Substantiierung einen weiteren Grund dar, die dem Hauptantrag zugrunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang A gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 ("[D]as gesamte Vorbringen der Beteiligten [in der Beschwerdebegründung] [wird] von der Kammer berücksichtigt, wenn und soweit es [...] die Erfordernisse nach Absatz 2 erfüllt") nicht in das Verfahren zuzulassen.

1.5.1 In der Beschwerdebegründung selbst wird nirgends ausgeführt, warum die in Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen. Die Beschwerdeführerin hat lediglich im geänderten Anspruch 1 am Ende des neu aufgenommenen Merkmals die Basis für diese Änderung in Klammern wie folgt angegeben: "(Anspruch 1; Beschreibung [0013])". Aus folgenden Gründen ist dieser Hinweis aber für eine Substantiierung nicht ausreichend.

a) Der Verweis auf "Anspruch 1" ist nicht hilfreich, da das geänderte, also neu aufgenommene Merkmal im ursprünglichen Anspruch 1 nicht erwähnt wird. Dass, wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, offensichtlich erkennbar sein sollte, dass es sich hier um einen Fehler bzw. Tippfehler handele und statt Anspruch 1 der ursprüngliche Anspruch 3 gemeint sein sollte, kann nicht überzeugen. Es ist nicht Aufgabe der Kammer, eventuelle Fehler zu erkennen und gedanklich zu berichtigen, solange diese nicht zweifelsfrei offensichtlich sind. Da sich die Kammer aber zunächst auf die schriftsätzlich vorgelegten Belege stützen können muss, und dieser Fehler nicht offensichtlich ist, kann dieses Argument nicht überzeugen.

b) Auch der Verweis "Beschreibung [0013]" ist für die geforderte Substantiierung nicht ausreichend.

i) Die Kammer kann zunächst zwar ableiten, dass sich dieser Verweis nicht auf die ursprünglich eingereichte Beschreibung beziehen kann, in der gar keine Absätze gekennzeichnet sind, sondern auf die A-Schrift der Anmeldung bezieht. Absatz [0013] der A-Schrift entspricht dem Absatz auf Seite 10, Zeilen 15 bis 30 der ursprünglich eingereichten Beschreibung.

ii) Das geänderte Merkmal findet sich dort aber nicht wörtlich wieder. Eine Substantiierung, warum sich das nun in Anspruch 1 aufgenommene Merkmal unmittelbar und eindeutig aus dem zitierten Absatz der ursprünglichen Beschreibung ergeben sollte, wurde von der Beschwerdeführerin nicht angeführt. Die Kammer ist der Auffassung, dass es für die geforderte Substantiierung nicht ausreichend ist, lediglich einen Absatz aus der ursprünglichen Beschreibung anzugeben, welcher inhaltlich zwar grob im Zusammenhang mit den Änderungen stehen mag, diese dort aber nicht wörtlich oder eindeutig und unmittelbar darlegt. Nach Meinung der Kammer erfordert eine Substantiierung, warum die vorgenommene Änderung ursprünglich offenbart ist, insbesondere dann eine weitere Erklärung, wenn die Änderung nicht wortwörtlich aus der Beschreibung übernommen wird. Im vorliegenden Fall fehlt unter anderem eine Erklärung/Substantiierung, warum die "generierten dedizierte [sic] Aktivierungssignaldaten mindestens mittels des Ortserfassungsmoduls erfasste Ortskoordinatenparameter ... umfassen".

iii) Aus dem zitierten Absatz [0013] geht nicht eindeutig und unmittelbar hervor, dass die Aktivierungssignaldaten Ortskoordinatenparameter umfassen. Somit wäre hierzu eine weitere Erklärung vonnöten gewesen, denn es ist nicht Aufgabe der Kammer, aus einem allgemeinen Verweis auf einen Absatz in der Beschreibung selbst herauszuarbeiten, warum eine Änderung sich unmittelbar und eindeutig aus dem zitierten Absatz ergeben sollte.

iv) Folglich fehlt zu den vorgenommenen Änderungen die Substantiierung durch die Beschwerdeführerin, warum die Änderungen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen.

1.5.2 Schließlich fehlt nach Meinung der Kammer auch eine ausreichende Substantiierung, warum das in Anspruch 1 neu aufgenommene Merkmal die Einwände der Prüfungsabteilung hinsichtlich fehlender erfinderischer Tätigkeit aus dem Weg räumt.

a) In der Beschwerdebegründung geht die Beschwerdeführerin nicht explizit auf den erfinderischen Beitrag des nun geänderten Merkmals ein. Insbesondere wird hierzu kein Aufgabe-Lösungs-Ansatz vorgetragen. Die Beschwerdeführerin führte lediglich an, dass in der Beschwerdebegründung (Seiten 5 bis 7) die erfinderische Tätigkeit diskutiert sei, welche auch bezüglich des neuen Merkmals dargelegt sei. Die Beschwerdeführerin verwies hierbei auf die auf Seite 5, letzter Absatz und Seite 6, zweiter Absatz, jeweils fettgedruckten Teilsätze der Beschwerdebegründung.

b) Auch dieser angeblichen Substantiierung kann die Kammer aus folgenden Gründen nicht zustimmen.

i) Zunächst geht der gesamte Abschnitt zur erfinderischen Tätigkeit (Beschwerdebegründung, Seiten 5 bis 7) nicht auf das neu in Anspruch 1 aufgenommene Merkmal ein, sondern bezieht sich allgemein auf den gesamten Gegenstand des Anspruchs 1, insbesondere auf die Merkmale, die in der Entscheidung der Prüfungsabteilung diskutiert wurden, ohne sich auf das neu aufgenommene Merkmal zu beziehen.

ii) Darüber hinaus belegen die zwei von der Beschwerdeführerin zitierten Absätze (Seite 5, letzter Absatz und Seite 6, zweiter Absatz) bestenfalls die Neuheit gegenüber den jeweils genannten Dokumenten des Stands der Technik, da beide fettgedruckten Abschnitte mit dem Wortlaut "D1 [bzw. D2] beschreibt jedoch nicht ..." beginnen. Auch werden in keinem der beiden zitierten Absätze "Ortskoordinatenparameter" oder "Ortserfassungsmodule" erwähnt. Somit ist bereits hieraus ersichtlich, dass die entsprechenden Absätze nicht die Substantiierung des neu in Anspruch 1 aufgenommenen Merkmals betreffen können.

iii) Überdies offenbart der erstgenannte der beiden Absätze (Seite 5, letzter Absatz) lediglich, dass "Betriebsparameter ... lokal mittels entsprechender Sensoren beim Fahrzeug erfasst werden", wobei alle möglichen Betriebsparameter wie beispielsweise Motortemperatur, Geschwindigkeit o. ä. hierunter fallen können. Dies schließt aber bei Weitem die Ortsbestimmung nicht unmittelbar und eindeutig ein. Eine lokale Bestimmung von Betriebsparametern darf nicht mit der Bestimmung von Ortskoordinaten gleichgesetzt werden. Eine lokale Bestimmung von Betriebsparametern bedeutet lediglich, dass Betriebsparameter lokal, also beispielsweise im Transportmittel, bestimmt werden, was aber die Ortsbestimmung nicht einschließt.

iv) Auch kann der auf Seite 6 der Beschwerdebegründung zitierte fettgedruckte Absatz nicht eindeutig darlegen, warum das geänderte Merkmal der Ortskoordinatenparameter einen erfinderischen Beitrag leiste, insbesondere da Ortskoordinatenparameter weder wörtlich noch sinngemäß genannt werden.

c) Folglich hat die Beschwerdeführerin nicht substantiiert, warum das in Anspruch 1 gemäß Anhang A neu aufgenommene Merkmal den von der Prüfungsabteilung erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit behebt, da sie sich zu diesem Merkmal nicht, auch nicht implizit, geäußert hat.

1.6 Zusammenfassend kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Ansprüche gemäß Anhang A bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgelegt werden können und müssen und die darin vorgenommenen Änderungen nicht ausreichend in Hinblick auf Artikel 123 (2) und 56 EPÜ substantiiert wurden. Folglich werden die Ansprüche gemäß Anhang A gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 nicht in das Verfahren zugelassen.

1.7 Da die Ansprüche gemäß Anhang A nicht in das Verfahren zugelassen werden, kommt eine Zurückverweisung des Verfahrens an die Prüfungsabteilung auf Grundlage dieser Ansprüche, wie mit dem Hauptantrag begehrt, nicht in Betracht.

2. Erster Hilfsantrag - Zulassung der Ansprüche gemäß Anhang A in das Verfahren

Da dem ersten Hilfsantrag die gleichen Ansprüche gemäß Anhang A wie dem Hauptantrag zugrunde liegen, trifft die Nichtzulassung dieser Ansprüche im Verfahren wie unter Punkt 1. mit Unterpunkten dargelegt ebenso für den ersten Hilfsantrag zu (Artikel 12 (4) VOBK 2007). Die Erteilung eines Patents auf Grundlage dieser Ansprüche, wie mit dem ersten Hilfsantrag begehrt, kommt daher ebenfalls nicht in Betracht.

3. Zweiter Hilfsantrag - Zulassung der Ansprüche gemäß Anhang B in das Verfahren

3.1 Mit ihrem zweiten Hilfsantrag beantragt die Beschwerdeführerin die Erteilung eines Patents auf Grundlage des der Entscheidung zugrunde liegenden Antrags, dessen Ansprüche als Anhang B in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer gemäß Artikel 15 (1) VOBK 2020 zwar erneut, aber erstmalig im Beschwerdeverfahren eingereicht wurden.

3.2 Auch wenn dieser Antrag derjenige ist, der der erstinstanzlichen Entscheidung zugrunde liegt, war er zunächst mit der Beschwerdebegründung nicht weiterverfolgt, sondern fallengelassen worden. Seine Weiterverfolgung wurde nicht beantragt.

3.3 Die nun erneut, aber erstmalig im Beschwerdeverfahren eingereichten Ansprüche gemäß Anhang B wurden erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht und sind somit erst ab diesem Zeitpunkt Teil des Beschwerdeverfahrens.

3.4 Die Kammer kann der Beschwerdeführerin nicht zustimmen, dass die Änderung in Anhang B gegenüber Anhang A, welche die Streichung des in Anhang A neu aufgenommenen Merkmals betrifft, keine substantielle Änderung des beanspruchten Gegenstands darstelle.

3.4.1 Die Beschwerdeführerin trug vor, dass das gestrichene Merkmal kein wesentliches Merkmal sei. Ihrer Ansicht nach sollte das in Anhang A neu aufgenommene und nun in Anhang B gestrichene Merkmal nur die "[d]irekte Verbindung zur physischen Realität" gemäß der Entscheidung G 1/19 deutlicher unterstreichen, was aber bereits aus den Ansprüchen gemäß Anhang B hervorgehe.

3.4.2 Dem kann die Kammer nicht zustimmen. Der in Anspruch 1 gemäß Anhang B definierte Gegenstand ist inhaltlich gesehen aufgrund der Herausnahme des in Frage stehenden Merkmals breiter formuliert als der zuvor im Beschwerdeverfahren vorliegende Gegenstand laut Anspruch 1 gemäß Anhang A. Somit stellt er eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar.

Auch kann die Kammer nicht erkennen, dass das nun gestrichene Merkmal, welches unter anderem die Bestimmung der Ortskoordinatenparameter des aktuellen Standorts des Transportmittels betrifft, implizit in Anspruch 1 gemäß Anhang B vorliege. Dass die in Anspruch 1 gemäß Anhang A erfassten Ortskoordinaten mit den Aktivierungsparametern assoziiert werden, geht aus Anspruch 1 gemäß Anhang B nicht hervor. Somit kann nicht sinnvoll behauptet werden, dass das nun gestrichene Merkmal unwesentlich gewesen sei und lediglich den Anspruchsgegenstand geschärft hätte, ohne eine wesentliche Änderung zu bewirken. Dieses Merkmal ist im breiter formulierten Anspruch 1 gemäß Anhang B folglich nicht eingeschlossen, weswegen die nun durchgeführte Änderung hinsichtlich des beanspruchten Gegenstands nicht als unwesentliche Änderung angesehen werden kann.

3.5 Somit stellen die neu eingereichten Ansprüche gemäß Anhang B eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar, welche erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung ins Verfahren eingereicht wurde. Dieser Antrag ist somit gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nur dann in das Verfahren zuzulassen, wenn "stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt [werden], dass außergewöhnliche Umstände vorliegen".

3.6 Aus folgenden Gründen kann die Kammer keine stichhaltigen Gründe oder außergewöhnlichen Umstände erkennen.

3.6.1 Zunächst ist nicht erkennbar, warum die Ansprüche gemäß Anhang B nicht bereits als Haupt- oder Hilfsantrag mit der Beschwerdebegründung eingereicht und somit von Beginn des Beschwerdeverfahrens an weiterverfolgt wurden, sondern zum damaligen Zeitpunkt fallengelassen wurden. Nach Meinung der Kammer hätten die Ansprüche gemäß Anhang B bereits mit der Beschwerdebegründung eingereicht werden können und müssen. Wäre dies erfolgt, so hätte sich die Kammer von Beginn des Beschwerdeverfahren an im Detail mit den nun durch Einreichung dieser Ansprüche gemäß zweitem Hilfsantrag erstmalig aufgeworfenen Fragestellungen, insbesondere in Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit, auseinandersetzen müssen.

3.6.2 Auch die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass die Kammer sich mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit bereits in Zusammenhang mit den Ansprüchen gemäß Anhang A im Detail auseinandersetzen musste, ist nicht richtig. Im Verlauf des Beschwerdeverfahrens hat sich die Kammer bis zur Einreichung des Anhangs B nicht im Detail mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beschäftigen müssen. In Bezug auf den Haupt- und den ersten Hilfsantrag wurden vorrangig Verfahrensfragen bezüglich der Zulassung dieser Anträge in das Verfahren behandelt, ohne dass deren inhaltliche Beurteilung hinsichtlich erfinderischer Tätigkeit notwendig gewesen wäre.

3.6.3 Folglich müsste sich die Kammer nun erstmalig und zu einem sehr späten Zeitpunkt im Verfahren im Detail mit der Frage der erfinderischen Tätigkeit auseinandersetzen. Dies erscheint aber im gegebenen Fall nicht ohne größeren Zeitaufwand möglich und wäre somit der Verfahrensökonomie abträglich, was durch die strenge Ermessensvorschrift gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 gerade verhindert werden soll (vgl. zur Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern zur Ermessensausübung gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 ausführlich Rechtsprechung, V.A.4.5.1). Zur Illustration sei darauf hingewiesen, dass bereits die Feststellung des nächstliegenden Stands der Technik im Beschwerdeverfahren noch nicht erfolgte und im gegebenen Fall auf Grund der zahlreichen behandelten Dokumente einen beträchtlichen Zeitaufwand erfordern würde. Ein zügiger Abschluss des Verfahrens wäre somit nicht gegeben.

3.6.4 Des Weiteren kann die Kammer keinen außergewöhnlichen Umstand darin erkennen, dass die Einreichung dieses Antrags gemäß Anhang B eine Reaktion auf erstmalig durch die Kammer im Rahmen der Zulassungserwägungen erhobene Einwände mangelnder Klarheit gegenüber den Ansprüchen gemäß Anhang A darstelle. Bei Einreichung geänderter Ansprüche muss immer damit gerechnet werden, dass hierbei in Bezug auf die vorgenommenen Änderungen neue Einwände, insbesondere gemäß Artikel 84 oder 123 (2) EPÜ, aufgeworfen werden. Einwände gegen verspätet aufgenommene und erstmals im Beschwerdeverfahren vorliegende Merkmale sind außerdem - ebenso wie Zulassungseinwände gegenüber verspätet eingereichten Anträgen - notwendigerweise neu. Würden solche Einwände daher außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020 begründen, würde der Sinn und Zweck der Zulassungsvorschriften in Artikel 12 und 13 VOBK 2020, nur ausnahmsweise verspätet eingeführte Änderungen ins Beschwerdeverfahren zuzulassen, ausgehebelt werden. Somit kann auch die Reaktion auf den Einwand mangelnder Klarheit des in Anspruch 1 gemäß Anhang A geänderten Merkmals keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen.

3.6.5 Überdies weist die Kammer darauf hin, dass zwar die hinsichtlich des neu eingereichten Merkmals erhobenen Klarheitseinwände durch die Streichung des Merkmals aus dem Weg geräumt wurden, nicht aber die weiteren Klarheitseinwände, welche sich auf Merkmale beziehen, die sowohl in den Ansprüchen gemäß Anhang A als auch gemäß Anhang B definiert sind.

3.6.6 Die Beschwerdeführerin hat die der Entscheidung zugrunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang B in Reaktion auf diese Klarheitseinwände unverändert gelassen. Auch hat sie in ihrem Antwortschreiben vom 3. April 2023 hierzu nichts vorgetragen. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer hat die Beschwerdeführerin pauschal behauptet, dass die Ansprüche klar seien, was die Kammer anders sieht, da insbesondere die Bedeutung von "vorbestimmten Aktivierungsparametern", "Ergänzungsparametern" und "Ergänzungsfaktoren" unklar ist. Keiner dieser drei Begriffe ist ein fest definierter Fachbegriff, weswegen die genaue Bedeutung dieser Begriffe im Anspruchswortlaut unklar bleibt. Dies wird auch nicht in der Beschreibung näher spezifiziert. Somit kann die Einreichung dieser Ansprüche gemäß Anhang B nicht als Reaktion auf erstmalig von der Kammer erhobene Klarheitseinwände angesehen werden, und noch weniger kann hierauf basierend ein außergewöhnlicher Umstand begründet werden.

3.7 Da folglich die Beschwerdeführerin keine stichhaltigen Gründe für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände aufzeigen konnte und die Kammer auch keine derartigen Gründe und Umstände erkennen kann, werden die dem zweiten Hilfsantrag zugrunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang B gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.

3.8 In der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdeführerin schließlich in den Raum gestellt, dass die Nichtzulassung des zweiten Hilfsantrags in das Verfahren ihr rechtliches Gehör im Sinne von Artikel 113 (1) EPÜ verletze. Auf das Erheben einer Rüge gemäß Regel 106 EPÜ hat die Beschwerdeführerin ausdrücklich verzichtet. Gleichwohl weist die Kammer darauf hin, dass die Nichtzulassung des zweiten Hilfsantrags aus den folgenden Gründen nicht gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstößt.

3.8.1 Die Beschwerdeführerin ist in der mündlichen Verhandlung zu der Frage, ob der verspätet eingereichte zweite Hilfsantrag im Rahmen der Ermessensausübung der Kammer gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 ins Beschwerdeverfahren zuzulassen ist, ausführlich gehört worden. Die Ermessensausübung ist aber Teil der Sachentscheidung und somit des materiellen Rechts (vgl. R 1/13, Entscheidungsgründe Nr. 16.3). Nur eine willkürliche oder eindeutig rechtswidrige Ausübung des Ermessens stellt eine schwerwiegende Verletzung des in Artikel 113 (1) EPÜ verankerten rechtlichen Gehörs dar, vgl. R 9/11, Entscheidungsgründe Nr. 3.2.1, 3.2.3; R 10/11, Entscheidungsgründe Nr. 5.2).

3.8.2 Die Kammer hat mit der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung die Ermessenskriterien gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 (eine Vorschrift, die die Möglichkeit der Organe des EPA gemäß Artikel 114 (2) EPÜ konkretisiert, verspätet von den Beteiligten vorgebrachte Tatsachen nicht zu berücksichtigen) diskutiert und sich bei ihrer Ermessensentscheidung auf diese Kriterien gestützt, siehe oben Ziffer 3.6.

3.8.3 Kommt aber eine Kammer im Rahmen einer ordnungsgemäß ausgeübten und daher nicht das rechtliche Gehör der Partei verletzenden Ermessensentscheidung zum Ergebnis, dass ein verspätet gestellter Antrag nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen ist, so ist die natürliche Konsequenz hieraus, dass dieser Antrag inhaltlich nicht geprüft wird, ohne dass hierdurch gleichzeitig das rechtliche Gehör der Partei verletzt wird. Würde man dagegen in der unterlassenen inhaltlichen Prüfung eines verspätet gestellten und ordnungsgemäß nicht in das Verfahren zugelassenen Antrags gleichwohl einen Gehörsverstoß bejahen, würden die Vorschriften über die Zulassung verspäteten Vorbringens und damit auch Artikel 114 (2) EPÜ ins Leere laufen.

4. Zusammenfassung

Die Beschwerde bleibt erfolglos, da die dem Hauptantrag und dem ersten Hilfsantrag zu Grunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang A gemäß Artikel 12 (4) VOBK 2007 und die dem zweiten Hilfsantrag zu Grunde liegenden Ansprüche gemäß Anhang B gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Verfahren zugelassen werden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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