T 1630/19 (Lithiumdisilikat/FRAUNHOFER) of 21.9.2022

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2022:T163019.20220921
Datum der Entscheidung: 21 September 2022
Aktenzeichen: T 1630/19
Anmeldenummer: 10796296.1
IPC-Klasse: C03C 10/00
A61C 13/00
C03B 32/02
C04B 41/00
A61K 6/02
A61K 6/027
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: LITHIUMDISILIKAT-GLASKERAMIK, VERFAHREN ZU DEREN HERSTELLUNG UND DEREN VERWENDUNG
Name des Anmelders: Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.
Vita Zahnfabrik H. Rauter GmbH & Co. KG
DeguDent GmbH
Name des Einsprechenden: Ivoclar Vivadent AG
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 54(2)
European Patent Convention Art 54(3)
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 87
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 25(2)
Schlagwörter: Spät eingereichte Beweismittel - eingereicht mit der Beschwerdebegründung
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (nein)
Priorität - (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Ausreichende Offenbarung - unzumutbarer Aufwand (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - nicht naheliegende Änderung
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0081/87
T 0210/05
T 0553/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent EP 2 516 342 B1 zurückzuweisen.

II. Unter anderem waren die folgenden für diese Entscheidung relevanten Dokumente Gegenstand im Einspruchsverfahren:

D1|DE 10 2010 050 275 A1 |

D2|DE 24 51 121 A1 |

D3|EP 2 377 831 A9 |

D4|DE 197 50 794 A1 |

D5|EP 1 505 041 A1 |

D6|EP 1 688 398 A1 |

D7|W. Höland und G. Beall, "Glass-Ceramic Technology", The American Ceramic Society, 2002, Seiten 75-83 und 222-223|

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III. Das Prioritätsdokument wird im folgenden als D0 bezeichnet:

D0|DE 10 2009 060 274.7|

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IV. Die Einspruchsabteilung war unter anderem zum Schluss gekommen, dass das Streitpatent die Erfordernisse der Artikel 87, 83, 54 und 56 EPÜ erfüllt.

V. Der unabhängige Anspruch 1 des Streitpatents lautet wie folgt:

"1. Lithiumdisilikat-Glaskeramik mit folgender Zusammensetzung:

55 bis 70 Gew.-% SiO2,

10 bis 15 Gew.-% Li2O,

10 bis 20 Gew.-% des Stabilisators ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus ZrO2 oder Mischungen von ZrO2 und HfO2,

0,1 bis 5 Gew.-% K2O,

0,1 bis 5 Gew.-% Al2O3,

0 bis 10 Gew.-% an Zusatzstoffen ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Boroxid, Phosphoroxid, Fluor, Natriumoxid, Bariumoxid, Strontiumoxid, Magnesiumoxid, Zinkoxid, Calciumoxid, Yttriumoxid, Titanoxid, Nioboxid, Tantaloxid, Lanthanoxid und Mischungen hiervon sowie

0 bis 10 Gew.-% an Farbstoffen,

wobei der Stabilisator im Wesentlichen in der amorphen Phase vorliegt."

Anspruch 6 bezieht sich auf ein Verfahren zur Herstellung der Glaskeramik aus Anspruch 1 und Anspruch 9 auf deren Verwendung.

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5, 7, 8 und 10 betreffen bevorzugte Ausführungsformen.

VI. Mit der Beschwerdebegründung reichte die Beschwerdeführerin des weiteren folgendes Dokument ein:

Annex 1|Versuchsergebnisse mit ergänzenden Nacharbeitungen zu D1.|

VII. In der Mitteilung gemäß Artikel 15(1) VOBK 2020, war die Kammer der vorläufigen Meinung, dass die Beschwerde zurückzuweisen sei.

VIII. Die entscheidungswesentlichen Argumente der Beschwerdeführerin werden wie folgt zusammengefasst:

Die Ladung der Einspruchsabteilung sei bezüglich der Priorität nicht konkret genug gewesen. Daher seien die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Versuche "Annex 1" eine zulässige Reaktion auf die angefochtene Entscheidung.

Die Priorität des Streitpatents sei wegen des fehlenden funktionellen Merkmals "zur Erhöhung der chemischen und mechanischen Stabilität" nicht gültig, da nur Spuren von ZrO2 als Stabilisator nicht zu dieser Eigenschaft führen würden. Dies hätten die Beschwerdegegnerinnen im Prüfungsverfahren zugegeben.

Da die Prioritätsanmeldung einer vorherrschenden technischen Meinung widerspreche, hätten bereits mit der Anmeldung Versuche eingereicht werden müssen, die belegen, dass mit der Lehre der Anmeldung:

- Disilikat ohne unzumutbaren Aufwand hergestellt werden kann und

- der Stabilisator in der amorphen Phase verbleibt.

Das Dokument D1, und insbesondere der Versuch B6, würde belegen, dass Disilikat in der Tat nur mit unzumutbarem Aufwand hergestellt werden kann.

Das Dokument D7 könne diese Lücken nicht schließen.

Aus analogen Gründen sei die Erfindung des Streitpatents ebenfalls nicht ausführbar. Da der Stabilisatorgehalt in den Beispielen relativ gering sei, sei die Erfindung zudem nicht über den gesamten Bereich ausführbar.

Angesichts jedes der Dokumente D3 und D4 seien die Erfordernisse von Artikel 54 EPÜ nicht erfüllt.

Auch die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ seien angesichts des Beispiels 17 aus D4 nicht erfüllt, insbesondere, da der Effekt von verbesserten mechanischen Eigenschaften und einer verbesserten chemischen Stabilität nicht belegt seien.

IX. Die Argumente der Beschwerdegegnerinnen (Patentinhaberinnen) spiegeln sich in den folgenden Entscheidungsgründen wider.

X. Am Ende der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2022 war die Antragslage wie folgt:

Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerinnen beantragten die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Artikel 12(4) VOBK 2007: Berücksichtigung der neu eingereichten Versuchsergebnisse "Annex 1"

Aus den folgenden Gründen werden die Versuchsergebnisse "Annex 1" nicht zugelassen (Artikel 25(2) VOBK 2020 und 12(4) VOBK 2007).

1.1 Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin als "Annex 1" Versuchsergebnisse eingereicht, in denen teils Versuche von D1 nachgearbeitet und teils neue Versuche durchgeführt wurden.

Die Beschwerdegegnerinnen beantragen, diese Ergebnisse als verspätet nicht zuzulassen.

In der Tat hat die Einspruchsabteilung bereits in ihrer Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 20. März 2018 (siehe Punkt 5 der Ladung) erachtet, dass die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand unter Hinzuziehen ihres Fachwissens in der Lage war, die Lehre der Prioritätsanmeldung auszuführen.

Daher muss es der Beschwerdeführerin bereits zu diesem Zeitpunkt bewusst gewesen sein, dass die Offenbarung von D1 möglicherweise nicht ausreicht, die Einspruchsabteilung von der Nicht-Ausführbarkeit der Priorität zu überzeugen. Sie hat aber trotzdem davon abgesehen, in dem verbleibenden Jahr bis zur mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren weitere Versuchsergebnisse einzureichen.

Auch enthält die Entscheidung keine überraschenden oder neuen Betrachtungen, die das Vorbringen der Experimente veranlasst hätten.

Zudem hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung keine Gründe angegeben, warum sie die Versuche von Annex 1 nicht bereits erstinstanzlich durchgeführt und eingereicht hat.

Die Versuchsergebnisse aus Annex 1 hätten also eindeutig bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt werden können und werden somit nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Artikel 25(2) VOBK 2020 und 12(4) VOBK 2007).

1.2 Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass die Einspruchsabteilung in der Ladung zur mündlichen Verhandlung fehlende Vergleichsversuche lediglich im Zusammenhang mit den Erfordernissen von Artikel 83 EPÜ moniert habe (siehe Punkt 6 der Ladung), nicht aber im Rahmen von Artikel 87 EPÜ (Punkt 5). Des weiteren seien die Anmerkungen in Punkt 5 der Ladung nicht konkret genug gewesen, sodass es zu dem Zeitpunkt keinen Anlass für die Beschwerdeführerin gegeben habe zu reagieren. Erst die angefochtene Entscheidung, welche unter Punkt II.2 (im vorletzten Absatz auf Seite 4) auf die Figur 3 der D2 hinweist, hätte die Problematik ausreichend konkretisiert.

Dieses Argument überzeugt nicht, denn die Einspruchsabteilung hatte bereits in ihrer Ladung unter dem Punkt "5 Mangelnde Priorität" erachtet, dass die Fachperson ohne unzumutbaren Aufwand unter Hinzuziehen ihres Fachwissens in der Lage war, die Lehre der Prioritätsanmeldung auszuführen. In diesem Zusammenhang hatte die Einspruchsabteilung unter anderem auch explizit auf die Figur 2 der D3 hingewiesen. Diese Figur zeigt einzig und unmissverständlich, dass bei steigender Temperatur die Bildung von Lithiumdisilikat im Vergleich zu Lithiummetasilikat zunimmt. Dies ist auch von der Beschwerdeführerin so verstanden worden (siehe den letzten vollständigen Abschnitt von Seite 8 der Einspruchsschrift).

Auch sind fehlende Gegenversuche unter dem die Priorität bejahenden Punkt II.2 der angefochtenen Entscheidung nicht als Grund angeführt werden. Insofern gibt es zwischen der Ladung und der angefochtenen Entscheidung auch diesbezüglich keine überraschende Entwicklung.

Weiter gehende Hinweise der Einspruchsabteilung wären möglicherweise sogar einer fairen Verfahrensführung abträglich gewesen, da sie möglicherweise die Beschwerdeführerin bevorzugt hätten.

So ist das der Erteilung nachgeschaltete Einspruchsverfahren im Rahmen des EPÜ nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich ein streitiges Verfahren zwischen Parteien, die in der Regel gegenteilige Interessen vertreten, die aber in der Tat Anspruch auf die gleiche Behandlung haben (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Ausgabe, 2022, IV.C.1).

Dabei steht es jeder Partei frei, wie sie ihren Fall vorbringen will. Die Einspruchsabteilung sollte auch nicht einseitig einer Partei helfen, indem sie ihr vorab entsprechende Hinweise gibt. Im Gegenteil, eine Partei, die eine Entscheidung zu ihren Gunsten anstrebt, hat sich aktiv am Verfahren zu beteiligen und auf eigene Initiative alles rechtzeitig vorzubringen, was ihre Position stützt.

2. Artikel 87 EPÜ: Priorität

Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, dass die Erfindung der Prioritätsanmeldung aus mehreren Gründen nicht ohne unzumutbaren Aufwand ausführbar ist und dass die Priorität des Streitpatents daher nicht gültig ist.

Wie jedoch folgend dargelegt wird, offenbart das Prioritätsdokument D0 dieselbe Erfindung wie das Streitpatent, und zwar in ausführbarer Weise, wie auch schon die Einspruchsabteilung geschlussfolgert hatte. Das Streitpatent beansprucht daher die Priorität von D0 in zulässiger Weise (Artikel 87 EPÜ).

2.1 Anspruch 1 des Streitpatents basiert auf den Ansprüchen 1 und 3 von D0. Im Gegensatz zu Anspruch 1 von D0 fehlt in Anspruch 1 des Streitpatents jedoch das funktionelle Merkmal "[enthaltend mindestens 10 Gew.-% eines Stabilisators] zur Erhöhung der chemischen und mechanischen Stabilität".

Nach Meinung der Beschwerdeführerin umfasst Anspruch 1 des Streitpatents zwar die Verwendung von HfO2 mit lediglich Spuren von ZrO2 als Stabilisator, aber dies würde nicht den gewünschten Effekt ergeben, wie es auch die Beschwerdegegnerinnen selber eingeräumt hätten.

Dies ist jedoch nicht zutreffend. D0 offenbart die Verwendung von ZrO2 mit HfO2 als Stabilisator innerhalb der beanspruchten Gesamtkonzentration in beliebigen Mischungsverhältnissen, beispielsweise auf Seite 4, Zeilen 23 bis 29. Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass bei der Verwendung von HfO2 als Hauptkomponente eine Mindestmenge an ZrO2 vonnöten ist, um eine erhöhte chemische und mechanische Stabilität zu erreichen.

Auch das von der Beschwerdeführerin angeführte Schreiben der Beschwerdegegnerinnen vom 14. August 2014 aus dem Prüfungsverfahren sagt dies nicht aus. Dort wird insbesondere unter Punkt 2.1 lediglich erwähnt, dass ZrO2 in der Natur nach dem damaligen Stand des Wissens nur zusammen mit HfO2 auftritt, so dass ZrO2 zwangsläufig Spuren von HfO2 enthält. Dass HfO2 nicht als Stabilisator wirkt, ist dort nicht angegeben.

2.2 Des weiteren enthält das Prioritätsdokument nach Auffassung der Beschwerdeführerin keine ausführbare Offenbarung der Erfindung. So enthalte D0 keine Beispiele, die zeigen, dass Lithiumdisilikat erzeugt wird, und dies, obwohl das Patent einer vorherrschenden technischen Meinung widerspreche. Dies wäre jedoch insbesondere nach dem zweiten Absatz des Kapitels II.D.3.1.6 der Rechtsprechung (10. Auflage, 2022) im vorliegenden Fall nötig gewesen. Es sei auch nicht zulässig, die Lücken in der Lehre von D0 durch die Lehre von D7 zu füllen.

Auch dieser Standpunkt überzeugt nicht.

Was den angeblichen Widerspruch zwischen D0 und der vorherrschenden technischen Meinung betrifft, so handelt es sich dabei nicht um Schwierigkeiten, Lithiumdisilikat zu erzeugen, sondern um das Erreichen der erwünschten Eigenschaften der Glaskeramik trotz des hohen Stabilisatorgehalts. So ist es nach Seite 4, Zeilen 15 bis 33 von D0 insbesondere überraschend gewesen, dass der Stabilisator nicht als eigene Phase auskristallisiert, sondern in der amorphen Restglasphase verbleibt.

Es ist außerdem nicht nachvollziehbar, dass der Stabilisator, welcher in der amorphen Phase verbleibt, die Bildung von Lithiumdisilikat in der kristallinen Phase erschweren soll. Auch die Passage auf Seite 5, Zeilen 12 bis 17 von D0 führt lediglich aus, dass ein erhöhter Stabilisator-Gehalt den kristallinen Anteil begrenzt. Über das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Silikat-Formen innerhalb der kristallinen Phase wird nichts ausgesagt.

Das Einstellen eines hohes Stabilisatorgehalts in der Mischung an sich stellt jedoch keine besonderen Anforderungen an die Ausführbarkeit. Dies wurde auch nicht bestritten.

Außerdem müssen in einer Anmeldung Ausführungsbeispiele nicht zwingend vorhanden sein (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, II.C.5.3).

Auf den Seiten 6 und 7 von D0 wird beschrieben, welche Verfahrensschritte durchzuführen sind (Temperaturen und Reaktionsdauer der verschiedenen Etappen), um das beanspruchte Lithiumdisilikat zu bilden. Des weiteren stellen die Schritte b) und c) in Anspruch 9 klar, dass Lithiumdisilikat über das Zwischenprodukt Lithiummetasilikat erzeugt wird.

Insbesondere weiß die Fachperson durch diese Lehre von D0 in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, illustriert durch das Lehrbuch D7, was sie zu tun hat, sollte bei einem Versuch nicht das gewünschte Lithiumdisilikat gebildet werden, sondern Lithiummetasilikat:

- Im Text oberhalb der Figur 2-2 aus D7 (Seite 82) und im Text links neben Figur 3-23 (Seite 223) wird ebenfalls erwähnt, dass Lithiumdisilikat indirekt aus Lithiummetasilikat erzeugt wird. Daraus zieht die Fachperson den Schluss, dass eine längere Reaktionsdauer die Bildung von Lithiumdisilikat fördert.

- Zudem zeigen schon die chemischen Formeln von Lithiummetasilikat (Li2SiO3) und Lithiumdisilikat (Li2Si2O5), dass ein erhöhtes Verhältnis von SiO2 zu Li2O im Ausgangsmaterial die Ausbeute von Lithiumdisilikat favorisiert. Das Phasendiagramm 2-1 auf Seite 75 von D7 bestätigt dies: Li2Si2O5 tritt auf der SiO2-reichen rechten Seite des Diagramms auf, während Li2SiO3 eher bei mittleren SiO2-Konzentrationen erscheint.

- Schließlich zeigen das DSC (differential scanning calorimetry) Diagramm 2-2 auf Seite 82 und das XRD (X-ray diffraction) Diagramm 3-23 auf Seite 223 von D7, dass auch eine Erhöhung der Temperatur die Bildung von Lithiumdisilikat im Vergleich zu Lithiummetasilikat begünstigt.

Auch wenn diese Diagramme der D7 streng genommen binäre Gemische betreffen, so zeigen sie der Fachperson deutlich an welchen Stellschrauben sie hätte drehen müssen, um das gewünschte Lithiumdisilikat zu erhalten. Es gibt keine Belege, dass dies nicht zum Erfolg geführt hätte.

Die von der Beschwerdeführerin angeführte Passage der Rechtsprechung (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, II.D.3.1.6, zweiter Absatz) bezieht sich insbesondere auf T 81/87 und besagt, dass die wesentlichen Merkmale der Erfindung entweder ausdrücklich offenbart oder aber unmittelbar und unzweideutig implizit enthalten sein müssen. Dieser Fall ist jedoch nicht vergleichbar mit dem vorliegenden, da dort "spezielle Schwierigkeiten" in einem Verfahren zur Herstellung eines genetischen Vorläufers aus Fragmenten verschiedener Klone auftraten, die nur "schrittweise gelöst" werden konnten, und wobei jeder Schritt wiederum "davon ab[hängt], ob bei der Auswertung der Ergebnisse des vorhergehenden Lösungsschrittes die Gegebenheiten richtig erkannt worden sind" (siehe insbesondere die Punkte 9 bis 11 der Entscheidungsgründe). Dies ist nicht vergleichbar mit der Frage im vorliegenden Fall, ob die eine oder die andere Silikatform erzeugt wird. Eine Verpflichtung, dass die Patentinhaberinnen im vorliegenden Fall bereits zum Zeitpunkt der Prioritätsanmeldung Versuche hätten durchführen müssen, kann aus dieser Rechtsprechung nicht abgeleitet werden.

2.3 Nach Meinung der Beschwerdeführerin beweist zudem D1, dass die Lehre der D0 nicht ohne unzumutbaren Aufwand ausgeführt werden konnte. So wird in den Beispielen G1, G5 und G6 von D1 bei erfindungsgemäßen Konzentrationen und Verfahrensbedingungen Lithiummetasilikat erzeugt, und nicht das beanspruchte Lithiumdisilikat.

Wie jedoch schon die Einspruchsabteilung festgestellt hat, können auch die Versuche der D1 nicht belegen, dass die Lehre der Prioritätsanmeldung D0 nicht ausführbar ist. Auch wenn in diesen Versuchen von D1 aus einer Zusammensetzung und unter Bedingungen, welche innerhalb der in D0 angegebenen Bereiche liegen, Lithiummetasilikat erzeugt wird (und nicht Lithiumdisilikat), so hätte die Fachperson aufgrund ihres Fachwissens (siehe Punkt 2.2) auch hier gewusst, wie sie zum gewünschten Lithiumdisilikat gelangt.

2.4 Die Beschwerdeführerin vertritt insbesondere die Auffassung, dass ein Vergleich des mit der Anmeldung des Streitpatents nachgereichten Versuchs B6 mit Versuch G6 von D1 die Nicht-Ausführbarkeit belegen würde. So wiesen beide Versuche identische SiO2- und Li2O-Konzentrationen sowie Verfahrenstemperaturen auf, aber Beispiel B6 erzeugt vorwiegend Lithiumdisilikat, während Beispiel G6 vorwiegend Lithiummetasilikat bildet (siehe Tabelle 2 des Streitpatents und Tabelle 2 von D1). Diese Versuche würden insbesondere zeigen, dass die Fachperson außerdem die Konzentrationen von K2O, Al2O3, ZrO2 in unzumutbarer Weise innerhalb der beanspruchten Bereiche so bestimmen müsste, dass Lithiumdisilikat erzeugt wird.

Dies ist ebenfalls nicht überzeugend. Wie unter Punkt 2.2 weiter oben dargelegt, zeigen sowohl D0 als auch das Fachwissen, dass die Bildung von Lithiumdisilikat indirekt über Lithiummetasilikat geschieht. Die Fachperson schließt daraus, dass eine längere Reaktionsführung die Bildung von Lithiumdisilikat begünstigt. Daher ist es schlüssig, dass in Beispiel B6 mit einer Dauer von 40 Minuten in der ersten Wärmebehandlung vorwiegend Lithiumdisilikat erzeugt wird, während in Beispiel G6 mit einer nur halb so langen ersten Wärmebehandlung vorwiegend Lithiummetasilikat gebildet wird. Die Dauer der zweiten Wärmebehandlung von zehn Minuten ist dabei in beiden Fällen identisch.

Es kann des weiteren zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die unterschiedlichen Konzentrationen von K2O, Al2O3, ZrO2 in den Beispielen G6 und B6 ebenfalls einen Einfluss auf die Form des erzeugten Silikats haben. Es liegt jedoch kein Beleg vor, dass es für bestimmte Konzentrationen dieser Komponenten innerhalb der beanspruchten Bereiche selbst unter Anwendung des oben dargelegten Fachwissens (siehe Punkt 2.2) nicht möglich ist, das beanspruchte Lithiumdisilikat zu erhalten.

2.5 In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer zog die Beschwerdeführerin des weiteren die Tatsache in Zweifel, dass der Stabilisator trotz der vergleichsweise hohen Konzentration in der amorphen Phase verbleibt. Auch hierfür wäre ein experimenteller Beleg in der Prioritätsanmeldung vonnöten gewesen.

Wie am Ende von Punkt 2.2 dargelegt, kann im vorliegenden Fall eine Verpflichtung der Beschwerdegegnerinnen, Versuche vorzulegen, aus der zitierten Rechtsprechung nicht abgeleitet werden, und auch in diesem Punkt ist die Beschwerdeführerin einen Beleg für ihre Zweifel schuldig geblieben.

Die Frage der Zulässigkeit dieses neuen Arguments kann daher dahingestellt bleiben.

3. Artikel 100(b) EPÜ: Ausführbarkeit

3.1 Im Vergleich zur Prioritätsanmeldung beinhaltet die Anmeldung des Streitpatents zusätzlich die Beispiele B1 bis B6.

Nach Meinung der Einsprechenden sind die Stabilisator-Konzentrationen in diesen Beispielen (zwischen 10 und 13.5%) deutlich niedriger als die beanspruchte Obergrenze von 20%. Die Erfindung wäre daher nicht über den gesamten Bereich ausführbar. Ansonsten würden die Einwände gegen die Gültigkeit der Priorität sinngemäß auch für die Erfordernisse von Artikel 83 EPÜ gelten.

Die Beschwerdeführerin hat jedoch keine Belege dafür vorgelegt, dass die Bildung von Lithiumdisilikat mit höheren Stabilisator-Konzentrationen nicht möglich ist.

Was die anderen Argumente betrifft, gelten die oben unter Punkt 2. angeführten Gründe analog auch für die Ausführbarkeit des Streitpatents.

Im vorliegenden Fall ist die Situation insbesondere anders gelagert als beispielsweise in T 553/10, wo eine Vervollständigung der Lehre mit dem allgemeinen Fachwissen nicht möglich war.

Aus diesen Gründen sind die Erfordernisse von Artikel 83 EPÜ erfüllt, wie auch schon die Einspruchsabteilung geschlussfolgert hatte.

4. Artikel 100(a) EPÜ: Neuheit

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist:

- D3 neuheitsschädlich zumindest für den Gegenstand der Ansprüche 1 bis 3 und 5 bis 10

- D4 neuheitsschädlich zumindest für den Gegenstand der Ansprüche 1 bis 3, 5, 9 und 10

Aus den folgenden Gründen erfüllt das Streitpatent jedoch die Erfordernisse von Artikel 54 EPÜ, wie auch schon die Einspruchsabteilung geschlussfolgert hatte.

4.1 Da die Priorität des Streitpatents gültig ist (siehe Punkt 2.), gehört D3 nicht zum Stand der Technik gemäß Artikel 54(3) EPÜ.

D3 ist daher für die Beurteilung der Neuheit des Gegenstandes der Ansprüche des Streitpatents nicht relevant (Artikel 54 EPÜ).

4.2 Keines der Beispiele aus Tabelle 1 von D4 (insbesondere nicht die Beispiele 11 oder 17) offenbart einen Gehalt an ZrO2 oder einer Mischung aus ZrO2 und HfO2 im beanspruchten Bereich von Anspruch 1 des Streitpatents.

Die Konzentrationsbereiche im allgemeinen Teil von D4 (Seite 2, Zeile 61, bis Seite 3, Zeile 51) betreffen verschiedene Zusammensetzungen und das mögliche Vorhandensein "weitere[r] Komponenten".

Während sich die von der Beschwerdeführerin angeführten Passagen der Richtlinien auf eine Auswahl aus einem einzelnen Bereich beziehen, ist im vorliegenden Fall eine Auswahl aus mehreren überlappenden Bereichen nötig, um zum Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents zu gelangen (beispielsweise für die Komponenten SiO2, Li2O, ZrO2 , Al2O3 und K2O; siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage, 2022, I.C.6.3.3). Zudem kann ein Ausführungsbeispiel nicht beliebig mit dem Rest der Beschreibung kombiniert werden, sondern stellt eine jeweils in sich abgeschlossene, spezielle Ausführungsform dar, die nur eine spezifische Kombination von Einzelkomponenten in ganz bestimmten Mengenverhältnissen offenbart (T 210/05, Gründe 2.3).

Zwar offenbart D3 einen ZrO2-Bereich von 0 bis 10.0 Gew.-% (Seite 3, Zeile 28) mit einem Endpunkt, der innerhalb des Bereichs von Anspruch 1 liegt, aber angesichts des besonders bevorzugten Bereichs zwischen 0.1 und 8.0 Gew.-% (Seite 3, Zeile 46) würde die Fachperson den Endwert 10 Gew.-% nicht ernsthaft erwägen.

Weder die Beispiele noch der allgemeine Teil von D4 offenbaren daher die Konzentrationen der Zusammensetzung von Anspruch 1 des Streitpatents in Kombination.

Daher ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents neu (Artikel 54(1) und (2) EPÜ).

Wegen des Rückbezuges auf Anspruch 1 gilt dies auch für die verbleibenden Ansprüche.

5. Artikel 100(a) EPÜ: Erfinderische Tätigkeit

Aus den folgenden Gründen erfüllt der Hauptantrag die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ, wie es auch bereits die Einspruchsabteilung entschieden hat.

5.1 Die Erfindung betrifft eine Lithiumdisilikat-Glaskeramik.

5.2 Beispiel 17 aus Tabelle 1 der D4 offenbart eine Lithiumdisilikat-Glaskeramik mit einem ZrO2 Gehalt von 6.1 Gew.%.

Da D4 ebenfalls transluzente Lithiumdisilikat-Glaskeramiken mit hoher Festigkeit betrifft, ist Beispiel 17 aus D4 ein geeigneter Startpunkt für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit.

5.3 Laut Streitpatent ist die zu lösende Aufgabe das Bereitstellen einer Zusammensetzung mit verbesserten mechanischen und optischen Eigenschaften sowie einer verbesserten chemischen Stabilität (Absatz [0009]).

5.4 Es wird vorgeschlagen, diese Aufgabe durch die Zusammensetzung von Anspruch 1 zu lösen, die durch einen Stabilisatorgehalt zwischen 10 und 20 Gew.% ZrO2 bzw. ZrO2 und HfO2 charakterisiert ist.

5.5 In der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren hat die Beschwerdeführerin letztlich nicht bestritten, dass zumindest die Aufgabe einer Verbesserung der Transluzenz erfolgreich gelöst wird.

Tabelle 2 des Streitpatents belegt in der Tat eine hohe Transluzenz der erfindungsgemäßen Beispiele. Es liegen außerdem keine Belege vor, die die erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe in Zweifel ziehen würden.

Da die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ auch mit dieser Aufgabe wie unten gezeigt erfüllt sind (d.h. selbst unter Berücksichtigung der Argumente der Beschwerdeführerin diesbezüglich), kann offengelassen werden, ob

- dem Antrag der Beschwerdegegnerin stattgegeben wird, die Argumentation der Beschwerdeführerin bezüglich dieser Aufgabenstellung nicht zu berücksichtigen, und ob

- zusätzlich zur Verbesserung der Transluzenz auch noch die mechanischen Eigenschaften und die chemische Stabilität verbessert werden.

5.6 Der allgemeine Teil von D4 offenbart auf Seite 3, Zeilen 25 bis 36, dass die Schmelze des Ausgangsglases "vorzugsweise" weitere Komponenten enthalten kann, wie beispielsweise 0 bis 10% ZrO2 (Zeilen 25 und 28). Dabei führt dieser "zusätzliche Einbau" von ZrO2 zu einer Erhöhung der Transluzenz (Zeile 35).

Außerdem liegt nur der Endpunkt von 10 Gew.% ZrO2 im Bereich von Anspruch 1 des Streitpatents. Gleich im Anschluss an diese "vorzugsweise" Zusammensetzung wird ein noch engerer Bereich von "0 bis 8,0, insbesondere 0,1 bis 8,0 [Gew.% ZrO2]" offenbart (Zeile 46).

Ausgehend von Beispiel 17 würde die Fachperson daher eine ZrO2-Konzentration im am meisten bevorzugten Bereich von 0.1 bis 8.0 Gew.-% auswählen (Zeile 46), um die Transluzenz zu erhöhen, und nicht den Endpunkt des breiteren Bereichs berücksichtigen.

Aufgrund seiner Position im Text ist der Ausdruck "zusätzliche[r] Einbau" in Zeile 35 hierbei im Vergleich zu der vorhergehenden Zusammensetzung ohne ZrO2 zu sehen (siehe Seite 2, Zeile 64 bis Seite 3, Zeile 13). Dieser Ausdruck kann also nicht mit der Aussage gleichgesetzt werden, dass die Transluzenz umso höher ist, je mehr der ZrO2-Gewichtsanteil zunimmt.

Selbst wenn die Fachperson den Endpunkt 10% des breiteren Bereichs auswählen würde kann nicht gesagt werden, wie sich dies auf die Konzentration der anderen Komponenten auswirken würde, und ob diese dann immer noch innerhalb der beanspruchten Bereiche wären.

Die Interpretation, dass die Fachperson die Konzentrationen der anderen Komponenten proportional verringern würde, beruht auf einer rückschauenden Betrachtungsweise für die es keine Hinweise gibt.

5.7 Daher ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents erfinderisch (Artikel 56 EPÜ).

Wegen des Rückbezugs der verbleibenden Ansprüche auf Anspruch 1 ist die erfinderische Tätigkeit auch für diese gegeben.

5.8 In Hinblick auf die Verfahrensmerkmale der Ansprüche 6 bis 8 des Streitpatents verweist die Beschwerdeführerin zudem auf die Dokumente D5 und D6.

Allerdings hat die Beschwerdeführerin nicht dargelegt, wo in diesen Dokumenten die Zusammensetzung von Anspruch 1 des Streitpatents offenbart ist (auf den sich die Ansprüche 6 bis 8 rückbeziehen).

Daher können diese Dokumente den Gegenstand der Ansprüche 6 bis 8 nicht nahelegen (Artikel 56 EPÜ).

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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