T 0041/19 () of 18.5.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T004119.20210518
Datum der Entscheidung: 18 Mai 2021
Aktenzeichen: T 0041/19
Anmeldenummer: 14164574.7
IPC-Klasse: A24C 5/356
A24C 5/358
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schragen aus leitfähigem Kunststoff und Einrichtung sowie Verfahren zum automatischen Entleeren von mit stabförmigen Produkten gefüllten Schragen
Name des Anmelders: Hauni Maschinenbau GmbH
Name des Einsprechenden: International Tobacco Machinery Poland Sp. z o.o.
G.D S.p.A.
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 117(1)(g)
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 83
European Patent Convention Art 84
RPBA2020 Art 013(1)
European Patent Convention Art 13(2)
Schlagwörter: Beweismittel - offenkundige Vorbenutzung
Beweismittel - Beweiswürdigung
Beweismittel - Maßstab bei der Beweiswürdigung
Beweismittel - schriftliche Erklärung unter Eid
Beweismittel - ausreichende Beweiskraft (ja)
Neuheit - Hauptantrag (nein)
Neuheit - öffentliche Zugänglichmachung
Neuheit - offenkundige Vorbenutzung
Neuheit - stillschweigende Geheimhaltungsverpflichtung (nein)
Neuheit - Hilfsantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Ausreichende Offenbarung - unzumutbarer Aufwand (nein)
Ausreichende Offenbarung - Nacharbeitbarkeit (ja)
Patentansprüche - Klarheit
Patentansprüche - Hilfsantrag (nein)
Änderung des Beschwerdevorbringens - Änderung räumt aufgeworfene Fragen aus (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/03
T 1418/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Sowohl die Einsprechende 1 als auch die Patentinhaberin legten Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, wonach das Streitpatent in der geänderter Fassung des Hilfsantrags 2 (inhaberseitig als "Hilfsantrag 1.1" bezeichnet) die Erfordernisse des EPÜ erfüllt.

II. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass das Patent auf Grundlage des Hauptantrags (erteilte Fassung des Patents) die Erfindung ausreichend deutlich und vollständig offenbare, sodass ein Fachmann sie ausführen könne, aber der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu sei gegenüber den offenkundigen Vorbenutzungen "OV Djarum" und "OV JTI".

Ferner hatte die Einspruchsabteilung entschieden, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 ebenfalls nicht neu gegenüber den beiden genannten Vorbenutzungen sei, der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1, 5 und 8 des Hilfsantrags 2 dagegen neu und erfinderisch sei.

III. Es fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt.

a) Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und das Patent in erteilter Fassung aufrechtzuerhalten.

Hilfsweise beantragte sie, das Patent in geänderter Fassung auf Basis eines der Hilfsanträge 1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b, 2c, 4, 4', 4", 4"(korrigierte Fassung), 4a, 4b, 4c, 5, 5a, 5b, 6, 6a, 6b aufrechtzuerhalten, alle Anträge mit Schreiben vom 19. August 2019 eingereicht mit Ausnahme der Hilfsanträge 4', 4", 4"(korrigierte Fassung), die in der mündlichen Verhandlung eingereicht wurden.

Die mit ihrer Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 3, 3a, 3b, 3c wurden von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) zurückgenommen.

IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den vollständigen Widerruf des europäischen Patents.

V. Die weitere Verfahrensbeteiligte Einsprechende 2 hat sich im Beschwerdeverfahren inhaltlich nicht geäußert.

VI. Diese Entscheidung nennt die folgenden, von den Parteien im Einspruchsverfahren bereits vorgelegten Dokumente:

E4A Produktdatenblatt RTP 699X98302

E4B mail-Wechsel

E6 eidesstattliche Versicherung von Balint Nemeth

E7 eidesstattliche Versicherung von Krzysztof Chetkiewicz mit angehängter Auftragsbestätigung an Form-Plast, technischer Zeichnung "Compartment tray FTC-140" und Lieferschein an Djarum

E7X vollständiger Lieferschein an Djarum

E8 eidesstattliche Versicherung von Boguslaw Filipiak mit angehängter Auftragsbestätigung an Form-Plast und technischer Zeichung "Compartment tray FTC-140"

E9 Auftragsbestätigung an Form-Plast

E10 eidesstattliche Versicherung von Maciej Pietraszek mit angehängter Auftragsbestätigung an Form-Plast und technischer Zeichung "Compartment tray FTC-140"

E11 eidesstattliche Versicherung von Thomas Budi Santoso

E12 eidesstattliche Versicherung von Renata Zielinske mit angehängter Rechnung an JTI Polska

E13 eidesstattliche Versicherung von Boguslaw Filipiak mit angehängter Auftragsbestätigung an Form-Plast und technische Zeichnung "Compartment tray FTC-140"

E14 Auftragsbestätigung an Form-Plast

E15 Lieferscheine für zwei Lieferungen an JTI Polska

E30 eidesstattliche Versicherung von Jacek Lewandowski

E31 Angebot an JTI Polska

E32 Auftragsbestätigung von JTI Polska

X1 WO 2011/090395 A2

X6 Plastics Additives by Geoffrey Pritchard

X11 Conductive Polymers and Plastics in Industrial Applications

VII. Der auf den Schragen gerichtete unabhängige Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:

"Schragen (1) zur Aufnahme stabförmiger Produkte der Tabak verarbeitenden Industrie, umfassend einen durch eine Rückwand (6), zwei zumindest im Wesentlichen parallele und beabstandet zueinander angeordnete Seitenwände (3, 4) sowie eine Bodenwand (5) gebildeten Schragenkörper (2) unter Bildung eines nach vorn und nach oben offen ausgebildeten Aufnahmeraumes (7) für die Produkte, wobei der Schragen ( 1) als Schachtschragen ausgebildet sein kann, dadurch gekennzeichnet, dass der Schragen (1) zumindest teilweise aus elektrisch leitfähigem Kunststoff gebildet ist."

In den Hilfsanträgen 1, 1a und 1b wird im Unterschied zum Hauptantrag im unabhängigen Anspruch 1 gefordert, dass der gesamte Schragen aus dem elektrisch leitfähigen Kunststoff gebildet ist.

Im unabhängigen Anspruch 1 der Hilfsanträge 2 und 2a werden zusätzlich zum Hauptantrag die folgenden Merkmale gefordert:

"wobei der elektrisch leitfähige Kunststoff ausgewählt ist aus einem ein elektrisch leitendes Additiv enthaltenden Polymer, wobei das elektrisch leitende Additiv ein organisches elektrostatisch dissipatives Additiv, insbesondere ausgewählt aus mindestens einer Substanz der Gruppe bestehend aus Polyanilinen, Polyurethanen, Polyethylendioxythiophenen und Polyacrylaten ist, und einem intrinsisch leitfähigen Polymer, insbesondere einem dotierten intrinsisch leitfähigen Polymer."

In den Hilfsanträgen 2b und 2c wird im unabhängigen Anspruch 1 über diese Merkmale hinausgehend zudem noch gefordert, dass der Schragen nicht nur teilweise aus dem elektrisch leitfähigen Kunststoff gebildet ist, sondern der gesamte Schragen aus dem elektrisch leitfähigem Kunststoff gebildet ist.

Im unabhängigen Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 wird zusätzlich zum Hauptantrag das folgende Merkmal gefordert:

"wobei der elektrisch leitfähige Kunststoff ein intrinsisch leitfähiges Polymer, insbesondere ein dotiertes intrinsisch leitfähiges Polymer, ist."

In den von Anspruch 1 abhängigen Ansprüchen 2 - 4 wird der Schragen in seinen bevorzugten Ausführungsformen definiert.

Ein weiterer unabhängiger, auf eine Schragenentleereinrichtung gerichteter Anspruch 5 des Hilfsantrags 4 lautet wie folgt:

"Schragenentleereinrichtung (10) zum automatischen Entleeren von mit stabförmigen Produkten gefüllten Schragen (1, 14), insbesondere nach einem der Ansprüche 1 bis 3, in eine Produktions- oder Verpackungsmaschine der Tabak verarbeitenden Industrie, umfassend eine Zuführeinrichtung (11) zum Zuführen mit stabförmigen Produkten gefüllter Schragen (14 ), eine Entleerstation (32) mit einer Entleerposition zum über Kopf Entleeren der Schragen (14), eine Abtransporteinrichtung ( 12) zum Abtransportieren der entleerten Schragen (16) sowie eine Übergabeeinrichtung (13) zum Transportieren der Schragen (14, 16) innerhalb der Schragenentleereinrichtung (10) während eines Entleerzyklus, dadurch gekennzeichnet, dass an zumindest einer Einrichtung, ausgewählt aus Zuführeinrichtung (11 ), Entleerstation (32), Abtransporteinrichtung (12) und 25 Übergabeeinrichtung (13), zumindest ein ladungsabführendes Element vorgesehen ist, das ausgebildet und eingerichtet ist, um einen Kontakt zwischen dem Schragen (1) und dem geerdeten Maschinengrundgestell (33) herzustellen."

Zudem lautet der ebenfalls auf eine Schragenentleereinrichtung gerichtete Anspruch 7 des Hilfsantrags 4 wie folgt:

,,Schragenentleereinrichtung (10), insbesondere nach Anspruch 4 oder 5, dadurch gekennzeichnet, dass mindestens eine von Zuführeinrichtung (11) und Abtransporteinrichtung (12) als Förderband ausgebildet ist, wobei das Förderband aus einem elektrisch leitfähigen Kunststoff besteht."

Des weiteren umfasst der Hilfsantrag 4 einen Verfahrensanspruch 8 mit dem folgenden Wortlaut:

"Verfahren zum automatischen Entleeren von mit stabförmigen Produkten gefüllten Schragen (14), umfassend die Schritte

- Zuführen von mit Produkten gefüllten Schragen (14) mittels einer Zuführeinrichtung (11),

- Transportieren der Schragen (14) von der Zuführeinrichtung (11) in eine Entleerposition einer Entleerstation (32) mittels einer Übergabeeinrichtung (13), so dass die Schragen über Kopf in der Entleerposition stehen,

- über Kopf Entleeren der Schragen,

- Transportieren der Leerschragen (16) mittels der Übergabeeinrichtung (13) von der Entleerstation (32) auf eine Abtransporteinrichtung (12), und

- Abtransportieren der Leerschragen (16) mittels der Abtransporteinrichtung (12),

dadurch gekennzeichnet, dass die Schragen (14, 16) Schragen nach einem der Ansprüche 1 bis 3 sind und dass in mindestens einem der Verfahrensschritte eine Ladungsabführung erfolgt."

Im Hilfsantrag 4' wurde im Vergleich zum Hilfsantrag 4 im abhängigen Anspruch 7 der fakultative Rückbezug "insbesondere nach Anspruch 4 oder 5" durch eine Streichung des Wortes "insbesondere" obligatorisch gemacht.

Im Hilfsantrag 4'' wurde analog hierzu auch der fakultative Rückbezug in Anspruch 5 durch eine Streichung des Wortes "insbesondere" obligatorisch gemacht.

Im Hilfsantrag 4'' (korrigierte Fassung) wurde zusätzlich zur Änderung der fakultativen in obligatorische Rückbezüge in Anspruch 5 und 7 der Rückbezug von Anspruch 7 auf die Ansprüche 4 oder 5 geändert in "nach Anspruch 5 oder 6".

VIII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei nicht neu gegenüber den als OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 geltend gemachten Vorbenutzungen (Artikel 54 EPÜ). Die Vorbenutzungen waren offenkundig, da es sich um einen normalen Verkauf an einen Kunden ohne jegliche Geheimhaltungsverpflichtung handelt und wurden ausreichend bewiesen.

b) Der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 1, 1a und 1b sei ebenfalls nicht neu gegenüber den geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzungen (Artikel 54 EPÜ).

c) Der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 2, 2a, 2b und 2c sei nicht neu gegenüber den geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzungen, zumindest aber nicht erfinderisch ausgehend von den Vorbenutzungen in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen (Artikel 54 und 56 EPÜ).

d) Die Änderungen an Hilfsantrag 4 dienen nicht dazu, einen Einspruchsgrund zu beheben (Regel 80 EPÜ).

e) Die erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Hilfsanträge 4', 4'' und 4''(korrigierte Fassung) stellen eine Änderung des Vorbringens im Beschwerdeverfahren dar und seien nicht zum Verfahren zuzulassen (Artikel 13 VOBK 2020).

f) Zudem sei die im Hilfsantrags 4'' (korrigierte Fassung) beanspruchte Erfindung weder ausführbar (Artikel 83 EPÜ), noch beruhe der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 5 auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ) gegenüber einer Kombination der offenkundigen Vorbenutzungen mit dem Fachwissen des Fachmanns bzw. einer Kombination von X1 mit dem durch X6 bzw. X11 dokumentierten Fachwissen des Fachmanns.

IX. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Die Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6 seien nicht offenkundig gewesen, sondern würden jeweils eine Testlieferung im Rahmen einer Entwicklungskooperation darstellen, die einer impliziten Geheimhaltung unterlag. Zudem seien die Vorbenutzungen nicht lückenlos bewiesen worden, da mehrere Widersprüche bestünden. Entsprechend stellten die Vorbenutzungen keinen zu berücksichtigenden Stand der Technik dar, so dass sie auch nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sein könnten.

b) Gleiches gelte für Anspruch 1 der Hilfsanträge 1, 1a, 1b.

c) Der Gegenstand des Anspruchs 1 der Hilfsanträge 2, 2a, 2b und 2c beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit, da auch hier die Vorbenutzungen mangels Offenkundigkeit nicht als nächstkommender Stand der Technik gelten könnten.

d) Die Änderungen an den Hilfsanträgen 4, 4' und 4'' seien nur geringfügiger Natur und würden eine zulässige Reaktion auf das in der mündlichen Verhandlung erstmalig erfolgte Vorbringen der gegnerischen Partei darstellen.

e) Die im Hilfsantrag 4''(korrigierte Fassung) beanspruchte Erfindung sei für den Fachmann ausführbar. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei zudem neu und erfinderisch, da auch hier die offenkundigen Vorbenutzungen nicht zu berücksichtigen seien. Selbst wenn man aber die Vorbenutzungen als offenkundig ansehen würde, würde der Fachmann aufgrund seines Fachwissens allein nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen. Der Gegenstand des Anspruchs 5 sei ebenfalls erfinderisch, da der Fachmann ausgehend von X1 durch sein Fachwissen nicht zum Gegenstand des Anspruchs 5 gelange.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag und Hilfsanträge 1, 1a und 1b

Neuheit (Artikel 54 EPÜ)

1. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) hatte im Einspruchsverfahren mehrere offenkundige Vorbenutzungen geltend gemacht, die sie als neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag ansah.

2. Die Einspruchsabteilung kam in der angegriffenen Entscheidung zum Schluss, dass die Vorbenutzungen OV3/OV4 (Verkauf von Schragen an PT Djarum in Indonesien, sowie deren Verwendung dort) sowie OV5/OV6 (Verkauf von Schragen an JTI Polska SP Z.O.O. in Polen, sowie deren Verwendung dort) als ausreichend bewiesen anzusehen seien. Die von ITM Poland Sp. Z.O.O. verkauften Schragen wurden in deren Auftrag von Form Plast S.A. hergestellt und waren aus leitfähigem ABS gefertigt, das Form-Plast über ITM bezog. Der anschließende Verkauf der Schragen an die Käufer PT Djarum und JTI Polska wurde jedoch als normaler Verkauf angesehen, bei dem die beiden Käufer PT Djarum und JTI als nicht durch eine Geheimhaltungsvereinbarung gebundene Öffentlichkeit anzusehen seien.

2.1 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) machte im Beschwerdeverfahren geltend, dass die Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6 nicht offenkundig gewesen seien, sondern die belieferten Firmen PT Djarum und JTI die Schragen nur zu Testzwecken im Rahmen einer, einer impliziten Geheimhaltungsvereinbarung unterliegenden Entwicklungskooperation erhielten. Die Einspruchsabteilung habe die von ihr hierzu vorgebrachten Argumente bei ihrer Beweiswürdigung nicht ausreichend berücksichtigt.

2.2 Aus Sicht der Kammer ist es nicht Aufgabe des Beschwerdeverfahrens, die Beweiswürdigung erneut vorzunehmen, sondern die Beweiswürdigung der Einspruchsabteilung zu überprüfen. Die Entscheidung über die Beweiswürdigung der ersten Instanz wird nur dann aufgehoben, wenn sie nicht rechts- oder logikfehlerfrei ist (siehe hierzu auch T 1418/17, Entscheidungsgründe 1.3).

2.3 Die Kammer konnte in der Entscheidung der Einspruchsabteilung bei der Beurteilung der von den Parteien vorgelegten Beweismitteln jedoch kein fehlerbehaftetes Vorgehen erkennen.

2.3.1 Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass die Lieferung von Schragen an PT Djarum über die eidesstattlichen Versicherungen E7 und E11, sowie die der eidesstattlichen Versicherung beigefügten Rechnung E7X ausreichend dokumentiert sei. Aus den in E7 verwendeten Begriffen "delivery ... to our customer PT Djarum under contract ..." und "invoice", sowie den in E11 verwendeten Begriffen "order" und "contract number" werde auch unter Berücksichtigung der Stückzahl der gelieferten Schragen deutlich, dass es sich hier nicht um eine Entwicklungskooperation zwischen PT Djarum und ITM handele, sondern um einen normalen Verkauf der Schragen an einen Kunden. Die englischen Begriffe für "Bestellung", "Rechnung" und "Vertragsnummer" liessen nicht auf eine Entwicklungspartnerschaft schließen, sondern würden üblicherweise in einem normalen Vertragsverhältnis bei einem freien Verkauf zwischen Käufer und Verkäufer verwendet.

Diese Schlüsse der Einspruchsabteilung unterliegen ihrer freien Beweiswürdigung und sind nicht in Sinne der T 1418/17 zu beanstanden.

Gleiches gilt für den Verkauf an JTI Polska, der durch die Dokumente E12 - E15, E31 und E32 bewiesen wird.

2.3.2 Das in diesem Zusammenhang von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) vorgetragene Argument, eine eidesstattliche Versicherung dürfe nur dann berücksichtigt werden, wenn parallel dazu die die eidesstattliche Versicherung abgebende Person als Zeuge befragt werden könne, kann nicht gefolgt werden.

Im vorliegenden Fall wurden die Personen, die die Erklärungen abgegeben haben, nicht als Zeugen angeboten. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine eidesstattliche Versicherung eines der möglichen Beweismittel, das unter die in Artikel 117 EPÜ nicht erschöpfend aufgezählten Beweismittel fällt, und darf daher im Rahmen der freien Beweiswürdigung von der Einspruchsabteilung als eigenständiges Beweismittel in Betracht gezogen werden (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 9. Auflage 2019, III, G 2.3.1).

Zudem liegen nicht nur die eidesstattlichen Versicherungen vor, sondern es wurden mit den eidesstattlichen Versicherungen auch technische Zeichnungen, Lieferscheine, Rechnungen und Verträge eingereicht, die den Inhalt der eidesstattlichen Versicherungen stützen.

Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die aufgrund der vorliegenden Beweismittel die geltend gemachten Vorbenutzungen und ihre Umstände als ausreichend bewiesen ansah (siehe Entscheidungsgründe 14.3, 14.4 und 14.5) ist daher nicht zu beanstanden. Die Argumente der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) wurden auch ausreichend in der Entscheidung gewürdigt.

2.3.3 Auch das von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) vorgetragene Argument, durch die Nichtbefragung der Personen, die die eidesstattlichen Erklärungen abgegeben haben als Zeugen sei der Patentinhaberin die Möglichkeit verwehrt worden, die eidesstattlichen Versicherungen inhaltlich zu überprüfen und gegebenenfalls ihren Beweiswert zu erschüttern, kann nicht überzeugen.

Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe oben, III, G 2.2.1) werden für die von einer Partei gewünschte Vernehmung von Zeugen eindeutige Anträge verlangt. Im vorliegendem Fall hat aber keine der Parteien eine Zeugenbefragung beantragt (siehe Entscheidungsgründe Punkt 14.1.4, vorletzter Absatz auf Seite 11).

2.3.4 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) führte zudem noch eine Reihe von Punkten an, in der aus ihrer Sicht Unstimmigkeiten in der behaupteten Vorbenutzung vorliegen, so dass die Vorbenutzungen nicht lückenlos bewiesen seien.

Diese Punkte entsprechen den bereits im Einspruchsverfahren vorgebrachten Punkten, die von der Einspruchsabteilung in der Entscheidung unter Punkt 14.1.3 zusammengefasst und in Punkt 14.1.4 entschieden wurden. Die Kammer kann auch hier keinen Grund erkennen, warum die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilungen nicht zutreffen sollten.

2.4 Die Kammer kann auch keinen Fehler in der Beweiswürdigung erkennen, als die Einspruchsabteilung entschied, dass es nicht als ausreichend bewiesen angesehen werden kann, dass das im Datenblatt E4A beschriebene elektrisch leitfähige Material durch die Beimengung eines organischen Additivs leitfähig gemacht wurde.

2.4.1 Die Kammer teilte hierzu die Auffassung der Einspruchsabteilung (siehe 14.1.4, Punkt (c)), dass der E-Mail E4B nicht die gleiche Beweiskraft zugemessen werden kann wie einer eidesstattlichen Erklärung, insbesondere da hier nur vorgegebene Fragen mit Ja/Nein beantwortet wurden.

a) Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) argumentierte hierzu zwar, dass die Begründung der Einspruchsabteilung nicht überzeugend sei, da sie nur darauf beruhe, dass die Position des Verfassers der E-Mail im Unternehmen unklar sei, sowie dass die E-mail erst nach dem Prioritätstag des Streitpatents gesendet wurde.

b) Es ist tatsächlich in der vorliegenden Situation irrelevant, wann die E-Mail verfasst wurde. Es ist aber durchaus für die Beweiskraft des Beweismittels relevant, ob der Verfasser ausreichende technische Kompetenz hatte, die Aussagen in der E-Mail zu treffen und ob er unmittelbaren Zugang zu den ausgeführten Informationen hatte, was jedoch beim Verfasser von E4B offen bleibt. Aus der bloßen Tatsache, dass die ursprüngliche Anfrage von einem Mitarbeiter des Unternehmens an einen anderen Mitarbeiter weitergeleitet wurde, kann dies noch nicht geschlossen werden.

c) Vor allem aber ist maßgeblich, dass eine E-Mail wie im vorliegenden Fall mit Antworten Ja/Nein auf eine weitergeleitete externe Anfrage eine sehr geringe Beweiskraft hat.

2.4.2 In diesem Zusammenhang sieht es die Kammer auch nicht als überzeugend an, dass mit E6 eine eidesstattliche Versicherung des kaufmännischen Leiters von KGL vorgelegt wurde, der das Material vom Hersteller RTP kaufte und an ITM weiterleitete, in der die Behauptung aufgestellt wird, dem ABS von RTP sei ein organisches Additiv beigemengt.

a) Nachdem der Angestellter des Herstellers in seiner E-Mail E4B nicht bereit war, das Additiv detailliert zu benennen, ist es ohne weitere Beweismittel unwahrscheinlich, dass der Käufer KGL Details des Polymers kannte, insbesondere da auch er nicht das Additiv konkret benennt in E6.

b) Dabei ist auch unerheblich, ob die Käufer PT Djarum und JTI Polska in der Lage waren, das Material der gelieferten Schragen zu analysieren, insbesondere ob das Additiv mit einem marktüblichen Massenspektrometer technisch nachweisbar gewesen wäre, da entsprechende Analysen zum konkret verwendeten Additiv nicht vorliegen und auch nicht geltend gemacht wurden.

2.5 Daher gab es für die Kammer keinen Grund, von der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu den Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6 abzuweichen:

Ein vollständig aus elektrisch leitfähigem ABS gefertigter Schragen wurde vor dem Prioritätstag des Streitpatents ohne Geheimhaltungsverpflichtung an PT Djarum bzw. JTI verkauft und dort verwendet.

Es ist jedoch nicht ausreichend bewiesen, dass die elektrische Leitfähigkeit des ABS durch ein organisches Additiv, das dem ABS beigemengt wurde, erzielt wurde.

3. Die im Rahmen von OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 vorbenutzten Schragen sind neuheitsschädlich für Anspruch 1 des Hauptantrags, was auch unstrittig zwischen den Parteien war. Daher erfüllte der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ.

4. Nachdem der vorbenutzte Schragen gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 einstückig aus ein und dem selben Material gefertigt ist, ist hier der gesamte Schragen aus elektrisch leitfähigem Kunststoff gebildet und somit auch neuheitsschädlich für Anspruch 1 der Hilfsanträge 1, 1a und 1b, was ebenfalls nicht strittig zwischen den Parteien war.

Daher erfüllt auch keiner der Hilfsanträge 1, 1a und 1b die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ.

Hilfsantrag 2, 2a, 2b und 2c

Neuheit (Artikel 54 EPÜ)

5. Hilfsantrag 2 unterscheidet sich vom Hauptantrag dahingehend, dass im unabhängigen Anspruch 1 zwei Alternativen definiert werden, wie der für den Schragen verwendete Kunststoff elektrisch leitfähig gemacht wird:

a) der Kunststoff ist ein ein elektrisch leitendes Additiv enthaltendes Polymer, wobei das Additiv ein organisches elektrostatisch dissipatives Additiv ist; oder

b) der Kunststoff ist ein intrinsisch leitfähiges Polymer.

5.1 Die Einspruchsabteilung hatte beide Alternativen ausgehend von den offenkundigen Vorbenutzungen OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 als nicht durch den Stand der Technik nahegelegt angesehen, da der Fachmann das bei den Vorbenutzungen verwendete Material nicht ohne weiteres austauschen könne. Insbesondere sei es zwar an sich bekannt gewesen, ABS durch Additive leitfähig zu machen - die Verwendung eines organischen Additivs sei aber im Bereich der Tabakverarbeitenden Industrie unbekannt gewesen.

5.2 Die Kammer war entgegen der Entscheidung der Einspruchsabteilung jedoch der Auffassung, dass die erste Alternative a) des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ beruht.

5.2.1 Der gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 vorbenutzte Schragen ist aus ABS und weist bereits nachweislich des Datenblatts E4A eine Leitfähigkeit auf, die den Kunststoff zu einem elektrisch leitenden Kunststoff macht. Das Datenblatt gibt aber keine Auskunft, wie die Leitfähigkeit des ABS erzielt wird.

5.2.2 Ausgehend von den offenkundigen Vorbenutzungen stellt sich somit dem Fachmann als Aufgabe, einen Weg zu finden, wie ein ABS mit der genannten Leitfähigkeit hergestellt werden kann.

5.2.3 Das Dokument X6 spiegelt das Fachwissens des Fachmanns in der Kunststoffherstellung wieder und zeigt auf Seite 109, zweiter Absatz, dass ABS ein weitverbreiteter Kunststoff ist, der jedoch dazu neigt, sich statisch aufzuladen. Im Kapitel "Counter Measures" wird als eine mögliche Gegenstrategie angeregt, den Kunststoff mittels elektrostatisch dissipativen Additiven leitfähig zu machen.

Auf Seite 112 des Dokuments X6 werden dann typische Additive genannt und im letzten Absatz auf Seite 112 explizit offenbart, dass mittels 3-Lauramidopropyl-trimethyl-ammonium-methylsulfat ein ABS leitfähig gemacht werden kann. 3-Lauramidopropyl-trimethyl-ammonium-methylsulfat enthält eine Vielzahl von Kohlenstoffatomen und ist somit ein organisches Additiv.

5.2.4 Der Fachmann weiss also, dass mittels 3-Lauramidopropyl-trimethyl-ammonium-methylsulfat ein ABS leitfähig gemacht werden kann und würde dieses Fachwissen daher auch bei der Herstellung des vorbenutzten Schragens gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 einsetzen.

5.2.5 Dabei ist es unerheblich, ob die Verwendung des mit dem Additiv versetzten ABS bereits in der Tabakindustrie bekannt ist, da die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) keinen Grund vorgetragen hat, warum gerade in der Tabakindustrie dieses vorbekannte Material nicht eingesetzt werden könne.

5.2.6 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) argumentierte lediglich analog zur Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass der Fachmann nicht beliebige Additive verwenden könne, da diese die Eigenschaften des Kunststoffs nachhaltig verändern. Ein physikalisch/mechanisch veränderter Kunststoff könne dann aber nicht in den gleichen Wandstärken und der gleichen Geometrie wie der vorbenutzte Schragen hergestellt werden.

Diese unbewiesene Behauptung widerspricht jedoch der Aussage in X6 im den die Seiten 109 und 110 überbrückenden Absatz, dass die Zugabe eines elektrisch leitfähigen Additivs den Vorteil hat, die physikalischen und mechanischen Eigenschaften des Kunststoffs kaum zu verändern. Somit müsste die Geometrie und die Wandstärken des aus der Vorbenutzung bekannten Schragen gerade nicht wie von der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung unter Punkt 17.4.1 auf Seite 25, zweiter Absatz argumentiert verändert werden, sondern kann unverändert ohne weitere Modifikationen beibehalten werden. X6 ist ein vorveröffentlichtes Fachbuch und daher ein adäquater Nachweis des Fachwissens.

5.2.7 Die Kammer ist daher der Auffassung, dass die erste Alternative a) des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 ausgehend von den offenkundigen Vorbenutzungen gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 durch das Fachwissen des Fachmanns nahegelegt wird.

6. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2a ist wortgleich zum Hilfsantrag 2. Daher wird auch die erste Alternative des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 ausgehend von den offenkundigen Vorbenutzungen gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 durch das Fachwissen nahegelegt.

7. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2b und 2c verlangt darüber hinausgehend, dass nicht nur ein Teil des Schragen aus dem leitfähigen Kunststoff ist, sondern der gesamte Schragen daraus gebildet ist. Nachdem dies aber auch bereits bei den vorbenutzten Schragen gemäß OV3/OV4 bzw. OV5/OV6 der Fall ist, beruht auch der Schragen gemäß Anspruch 1 der Hilfsanträge 2b und 2c nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Hilfsantrag 4

Zulässigkeit der Änderungen (Regel 80 EPÜ)

8. Im Unterschied zum Hauptantrag (erteiltes Patent) fügte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) bei der Einreichung des Hilfsantrags 4 in Anspruch 5 und 7 vor dem Rückbezug "nach einem der Ansprüche 1 bis 3" bzw. "nach Anspruch 4 oder 5" das Wort "insbesondere" ein.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) bemängelte, dass diese Änderungen nicht der Behebung eines Einspruchsgrundes dienen und daher gemäß Regel 80 EPÜ unzulässig seien.

8.1 Das Hinzufügen des Wortes "insbesondere" führt in keinem Fall zu einer Beschränkung des Schutzumfangs der Ansprüche und kann daher weder die Neuheit herstellen, noch einen erfinderischen Schritt begründen. Es trägt auch nicht dazu bei, eine unzulässige Erweiterung zu beheben, die im Übrigen auch nicht gerügt wurde.

8.2 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) konnte auch keinen Einspruchsgrund nennen, der durch die Änderung hätte behoben werden können.

8.3 Daher erfüllt der Hilfsantrag 4 nicht die Erfordernisse der Regel 80 EPÜ.

Hilfsantrag 4'

Zulassung (Artikel 13 VOBK 2020)

9. Im Vergleich zum Hilfsantrag 4 wurde im Hilfsantrag 4' das bei der Einreichung des Hilfsantrags 4 hinzugefügte Wort "insbesondere" in Anspruch 7 gestrichen, nicht jedoch in Anspruch 5.

9.1 Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) beantragte, den Hilfsantrag 4' dem Artikel 13 VOBK 2020 folgend nicht zum Verfahren zuzulassen.

9.2 Die Vorlage des Hilfsantrags erfolgte erst in der Verhandlung, so dass die Zulassung des Antrags im Ermessen der Kammer lag. Nachdem aber nur eine der beiden Änderungen durch Hinzufügen des Wortes "insbesondere" im Hilfsantrag 4' rückgängig gemacht wurde, die andere jedoch weiterhin besteht, ist der Hilfsantrag 4' nicht dazu geeignet, den Einwand unter Regel 80 EPÜ vollständig zu beheben.

9.3 Daher entschied die Kammer, den Hilfsantrag 4' gemäß Artikel 13(1) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zuzulassen.

10. Zudem konnte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) aber auch keine überzeugenden stichhaltigen Gründe für das Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen beibringen, die eine Einreichung des Antrags erst in der mündlichen Verhandlung rechtfertigen hätten können.

10.1 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) behauptete zwar, erstmals auf die unzulässige Einfügung des Wortes "insbesondere" in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden zu sein. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) hatte diesen Punkt jedoch bereits in ihrem Schreiben vom 20. August 2019 auf Seite 10 in unmittelbarer Reaktion auf die Einreichung der Hilfsanträge aufgeworfen.

10.2 Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) wurde somit bereits vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung mit diesem Mangel konfrontiert, reagierte aber erst im allerletzten Moment während der mündlichen Verhandlung nach der Diskussion zum Hilfsantrag 4.

10.3 Hilfsantrag 4' wurde daher auch gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 nicht zum Verfahren zugelassen.

Hilfsantrag 4''

Zulassung (Artikel 13 VOBK 2020)

11. Im Hilfsantrag 4'' wurde sowohl in Anspruch 5, als auch in Anspruch 7 das hinzugefügte Wort "insbesondere" wieder entfernt, so dass diese Änderungen den Einwand unter Regel 80 EPÜ vollumfänglich beheben.

Die Kammer entschied daher, von ihrem Ermessen nach Artikel 13(1) VOBK 2020 Gebrauch zu machen und den Hilfsantrag 4'' zum Verfahren zuzulassen.

Klarheit (Artikel 84 EPÜ)

12. Der Wortlaut des Anspruchs 7 des Hilfsantrags 4'' ist nicht ausreichend klar (Artikel 84 EPÜ).

12.1 Wie in der mündlichen Verhandlung erörtert, betrifft Anspruch 7 des Hilfsantrags 4'' eine Schragenentleereinrichtung und bezieht sich auf die Ansprüche 4 oder 5 zurück. Anspruch 4 definiert jedoch eine Ausgestaltung des Schragens und keine Schragenentleereinrichtung, so dass unklar ist, was nun von Anspruch 7 beansprucht wird - ein Schragen oder eine Schragenentleereinrichtung.

12.2 Der Hilfsantrag 4'' erfüllt daher nicht die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ.

Hilfsantrag 4'' (korrigierte Fassung)

Zulassung (Artikel 13 VOBK 2020)

13. Im Unterschied zum Hilfsantrag 4'' wurde im Hilfsantrag 4'' (korrigierte Fassung) lediglich der Rückbezug des Anspruchs 7 dahingehend korrigiert, dass sich der Anspruch jetzt auf die Ansprüche 5 und 6 (statt 4 und 5) rückbezieht.

Dies wurde von der Kammer nicht als Änderung des Vorbringens im Sinne des Artikels 13 VOBK 2020 angesehen, sondern als Korrektur eines offensichtlichen Fehlers.

Ausführbarkeit (Artikel 83 EPÜ)

14. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) bemängelte, dass der Fachmann aufgrund der im Streitpatent angegebenen Informationen nicht in der Lage sei, ein geeignetes, elektrisch leitfähiges Polymer zu wählen.

14.1 Diese Behauptung kann jedoch nicht überzeugen, da dem Fachmann auf Seite 5, letzter Absatz eine ganze Reihe möglicher Materialien genannt wird: cis-Polyactetylen (cis-PA), trans-Polyacetylen (trans-PA), Poly(paraphenylen) (PPP), Polythiophen, Polypyrrol, Poly(para-phenylen-vinylen) (PPV) und Polyanilin (PANI).

14.2 Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) behauptet zwar, dass dotierte intrinsisch leitfähige Polymere (wie in X11 auf Seite 1 im ersten Absatz ausgeführt) grundsätzlich nicht stabil seien und nur in Form von Pulver, Filmen oder Fasern herstellbar seien. Daher könne der Schragen nicht aus den genannten Materialien hergestellt werden.

14.2.1 Dies ist jedoch eine nicht richtige Wiedergabe der Passage in X11, da hier lediglich ausgeführt wird, dass frühere dotierte Polymere nicht stabil an Luft gewesen sind, jetzt aber neuere Generationen des Materials existieren, die stabil an der Luft sind.

14.2.2 Zudem kann X11 nicht den aktuellen Stand der Entwicklung zum Prioritätstag des Streitpatents angeben, da es ein im Jahr 1999 erschienenes Fachbuch ist. Die Materialentwicklung im vorliegenden Bereich der dotierten Polymere schreitet schnell voran, so dass in den ca. 15 Jahren zwischen Erscheinen von X11 und dem Prioritätstags des Streitpatents ein technologischer Fortschritt angenommen werden kann, so dass intrinsisch leitfähige Polymere zum Prioritätstag des Streitpatents nicht nur als Fasern oder Pulver herstellbar waren.

14.2.3 Doch selbst im Inhaltsverzeichnis der X11 findet sich ab Seite 239 ein Kapitel mit dem Titel "Thermoformed Containers for Electrostatic Sensitive Devices", so dass auch schon im Jahr 1999 die Möglichkeit einer Verwendung eines entsprechend modifizierten Kunststoffes für die Herstellung eines nicht näher spezifizierten Behälters dokumentiert ist.

14.2.4 In diesem Zusammenhang kann auch das aus der Entscheidung G1/03, Entscheidungsgründe 2.5.2 abgeleitete Argument der Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) nicht überzeugen, dass dem Fachmann aus dem Patent heraus ein geeignetes Kriterium zur Auswahl des Materials genannt werden müsse, sowie dass für den Fachmann die Materialien ohne unzumutbaren Aufwand hinsichtlich dieses Kriteriums testbar sein müsse - was jedoch vorliegend nicht der Fall sei.

Das Patent in der Fassung des Hilfsantrags 4'' (korrigierte Fassung) nennt - wie vorstehend ausgeführt - geeignete Stoffverbindungen, die die auf Seite 4, dritter Absatz genannte elektrische Leitfähigkeit aufweisen müssen. Die Messung der Leitfähigkeit ist dabei mittels einfacher Verfahren möglich.

14.3 Daher ist die Erfindung gemäß Hilfsantrag 4'' (korrigierte Fassung) ausführbar, so dass dieser Hilfsantrag den Erfordernissen des Artikel 83 EPÜ genügt.

Neuheit und erfinderische Tätigkeit (Artikel 54 und 56 EPÜ)

15. Anspruch 1 des Hilfsantrags 4'' (korrigierte Fassung) definiert einen Schragen aus einem intrinsisch leitfähigen Polymer.

15.1 Es ist unstrittig zwischen den Parteien, dass ein Schragen, der zumindest teilweise aus elektrisch leitfähigem Kunststoff gebildet ist und die im Oberbegriff des Anspruchs 1 genannten geometrischen Eigenschaften aufweist aus den offenkundigen Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6 bekannt ist.

15.2 Es ist ferner auch unstrittig zwischen den Parteien, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 sich von dem aus den offenkundigen Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6 bekannten Schragen lediglich dahingehend unterscheidet, dass der verwendete elektrisch leitende Kunststoff aus dem der Schragen zumindest teilweise besteht ein intrinsisch leitfähiges Polymer ist, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 unstrittig neu ist (Artikel 54 EPÜ).

15.3 Ausgehend von den offenkundigen Vorbenutzungen OV3/OV4 und OV5/OV6, die übereinstimmend von den Parteien als nächstkommender Stand der Technik verstanden werden, stellt sich dem Fachmann daher die Aufgabe, einen alternativen elektrisch leitfähigen Kunststoff zum ABS mit unbekannter Zusammensetzung zu finden.

15.4 In dem im Verfahren zitierten Stand der Technik findet sich kein Hinweis darauf, dass das in den Vorbenutzungen verwendete ABS vorteilhaft intrinsisch leitfähig gemacht werden kann und/oder dass es vorteilhaft wäre, ein anderes intrinsisch leitfähiges Polymer zur Herstellung der Schragen der Vorbenutzungen zu verwenden.

15.4.1 In X6 wird zwar auf Seite 109 im ersten Absatz des Kapitels ,,Counter Measures" darauf hingewiesen, dass man Polymere entweder durch Zusätze leitfähig machen könne oder aber das Polymer selbst intrinsisch leitend ausbilden könne. X6 zeigt aber nicht auf, dass man ABS intrinsisch leitfähig gestalten könne, sondern bleibt unkonkret hinsichtlich des verwendeten Polymers.

15.4.2 In X6 wird aber auch im die Seiten 109 und 110 überbrückenden Absatz erklärt, dass die Verwendung eines Additivs den Vorteil habe, das physikalische und mechanische Verhalten des Polymers kaum zu beeinflussen. Der Fachmann würde daher der Lehre der X6 folgend es allenfalls in Betracht ziehen, dem in den vorbenutzten Schragen verwendeten ABS ein Additiv beizumengen und es nicht an sich intrinsisch leitfähig zu gestalten. X6 leitet den Fachmann somit sogar von der Erfindung weg.

15.4.3 Auch aus X11 kann der Fachmann entgegen der Argumentation der Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) nur entnehmen, dass es grundsätzlich möglich ist, Polymere intrinsisch leitfähig auszubilden. Der Fachmann hat aber auch aus X11 keine konkrete Anregung, das aus den Vorbenutzungen bekannte ABS intrinsisch leitfähig auszubilden, da X11 kein ABS nennt. Zudem kann aber auch X11 kein Grund entnommen werden, warum der Fachmann die Schragen der Vorbenutzungen aus einem anderen Polymer fertigen sollte, das intrinsisch leitfähig ist und die gleichen mechanischen Eigenschaften wie das in den Vorbenutzungen verwendete ABS hat.

15.5 Daher wird der Gegenstand des Anspruchs 1 auch nicht nahegelegt, sondern beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).

16. Anspruch 5 des Hilfsantrags 4'' (korrigierte Fassung) definiert wiederum eine Schragenentleereinrichtung.

16.1 Es ist unstrittig zwischen den Parteien, dass eine Schragenentleereinrichtung zum automatischen Entleeren von Schragen gemäß dem Oberbegriff von Anspruch 5 aus X1 bekannt ist.

16.2 Auch X1 beschäftigt sich mit der statischen Aufladung der Schragen, löst dieses Problem jedoch dadurch, dass ionisierte Luft auf den Schragen zur Neutralisation der Aufladung geblasen wird.

16.3 Der Gegenstand des Anspruchs 5 unterscheidet sich von der aus X1 bekannten Schragenentleereinrichtung daher dahingehend, dass an zumindest einer Einrichtung, ausgewählt aus Zuführeinrichtung, Entleerstation, Abtransporteinrichtung und Übergabeeinrichtung, zumindest ein ladungsabführendes Element vorgesehen ist, das ausgebildet und eingerichtet ist, um einen Kontakt zwischen dem Schragen und dem geerdeten Maschinengrundgestell herzustellen.

Dies ist unstrittig zwischen den Parteien. Der Gegenstand des Anspruchs 5 ist somit neu (Artikel 54 EPÜ).

16.4 Die Verwendung eines ladungsabführenden Elements, das einen Kontakt zwischen dem Schragen und dem Maschinengrundgestell herstellt, wird jedoch durch den sich im Verfahren befindlichen Stand der Technik nicht nahegelegt.

16.4.1 Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) argumentiert zwar, dass derartige ladungsabführende Elemente dem Fachmann aufgrund seines Fachwissens bekannt seien und verweist als Nachweis dieses allgemeinen Fachwissens auf Dokument X5.

16.4.2 Dokument X5 beschäftigt sich im Kapitel 5.7 zwar mit dem Problem der elektrostatischen Aufladung, die über ladungsabführende Elemente abgeleitet wird. In Figur 5.3 auf Seite 59 wird dort dann auch ein bürstenförmiges Kontaktelement gezeigt, dass in Kontakt mit der Welle eines Motors steht. Figur 5.4 zeigt ferner ein Kontaktelement, das mit dem beweglichen Trum eines Förderbandes in Verbindung steht.

16.4.3 Der Fachmann erhält hieraus aber keine Anregung, wie er den Schragen einer Schragenentleereinrichtung erden kann, da der Schragen der X1 weder eine Welle aufweist, noch fest mit einem Förderband verbunden ist. Ausgehend von X5 würde der Fachmann daher allenfalls in Betracht ziehen, den die aus X1 bekannte Vorrichtung antreibenden Motor zu erden und/oder das Förderband zu erden. Eine elektrisch leitende Verbindung zwischen Schragen und Maschinengrundgestell erhält er somit aber noch nicht.

16.5 Daher wird der Gegenstand des Anspruchs 1 auch nicht nahegelegt, sondern beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).

17. Die verbleibenden Ansprüche des Anspruchssatzes hängen von einem der Ansprüche 1 oder 5 ab und sind daher ebenfalls neu und erfinderisch.

Anpassung der Beschreibung (Regel 42 EPÜ)

18. Die Beschreibung wurde an den Wortlaut des Anspruchssatzes des Hilfsantrags 4'' (korrigierte Fassung) angepasst. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 1) hat hierzu keine Einwände erhoben.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in der folgenden geänderten Fassung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche 1 bis 8 des Hilfsantrags 4"(korrigierte Fassung) eingereicht in der mündlichen Verhandlung;

Beschreibung Seiten 1 bis 14 eingereicht in der mündlichen Verhandlung;

Figuren 1 bis 6 der Patentschrift.

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