T 2277/18 (Implantat/BRI TECH) of 10.2.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T227718.20210210
Datum der Entscheidung: 10 Februar 2021
Aktenzeichen: T 2277/18
Anmeldenummer: 13187287.1
IPC-Klasse: C22C 23/00
A61F 2/28
C22C 23/04
C22F 1/06
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Implantat für Patienten im Wachstum, Verfahren zu dessen Herstellung und Verwendung
Name des Anmelders: BRI.TECH GmbH
Name des Einsprechenden: 1. AIT Austrian Institute of Technology GmbH
2. BIOTRONIK AG
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention R 106
RPBA2020 Art 013(1)
RPBA2020 Art 013(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Hauptantrag - Rückkehr zur erteilten Fassung - zulässig (nein)
Hilfsantrag - Änderungen - nicht offenbarter Disclaimer - Disclaimer nimmt mehr aus als nötig - zulässig nach G 1/03 (nein)
Hilfsanträge - Einschränkung des Disclaimers - Ausnahme vom Verschlechterungsverbot zulässig nach G 1/99 (nein)
Rüge nach Regel 106 EPÜ - zulässig (nein)
Orientierungssatz:

Die Bedingungen von G 1/99 für eine zulässige Ausnahme vom Verschlechterungsverbot gelten auch dann, wenn es sich bei der unzulässigen Änderung um einen nicht offenbarten Disclaimer handelt (Entscheidungsgründe 7).

Angeführte Entscheidungen:
G 0009/92
G 0001/99
G 0001/03
G 0001/16
T 0795/05
T 0008/07
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerden der Einsprechenden 1 und 2 (Beschwerdeführerinnen 1 und 2) betreffen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, dass das europäische Patent EP 2 857 536 B unter Berücksichtigung der vorgenommenen Änderungen in Form des zweiten Hilfsantrags den Erfordernissen des EPÜ genügt.

II. Im Einspruchsverfahren wurde u.a. die folgende Entgegenhaltung genannt:

E1 = WO 2014/001321 A1

III. Mit ihrer Beschwerdeerwiderung beantragte die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) als Hauptantrag zunächst die Zurückweisung der Beschwerden, d.h. sie hielt die von der Einspruchsabteilung aufrecht erhaltene Anspruchsfassung (bezeichnet als Hilfsantrag 2) aufrecht und reichte zusätzlich die Hilfsanträge 2a bis 2f ein.

IV. In einer Mitteilung informierte die Beschwerdekammer die Parteien über ihre vorläufige Meinung, wonach die in allen diesen Anträgen vorhandenen Disclaimer zu breit gefasst seien und daher den Bedingungen von G 1/03 nicht genügen würden. Somit erfülle keiner dieser Anträge die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ.

V. Daraufhin reichte die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 neue Hilfsanträge 2a bis 2g ein. Die bisherigen Hilfsanträge benannte sie in die Hilfsanträge 2h bis 2m um.

VI. In ihrem Schreiben vom 20. Januar 2021 beantragte die Beschwerdeführerin 1, dass die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt wird.

VII. Mit Schreiben vom 21. Januar 2021 beantragte die Beschwerdegegnerin eine Durchführung der mündlichen Verhandlung vor Ort, hilfsweise in Hybridform.

VIII. In einer Mitteilung vom 1. Februar 2021 informierte die Kammer die Parteien, dass die mündliche Verhandlung wegen der pandemischen Situation im vorliegenden Fall als Videokonferenz durchgeführt wird, und dass dem Antrag der Beschwerdegegnerin auf eine Durchführung der mündlichen Verhandlung vor Ort bzw. in Hybridform nicht stattgegeben werden kann.

Sie verwies in diesem Zusammenhang auch auf eine Mitteilung der Beschwerdekammern vom 15. Dezember 2020 auf der Internetseite des Europäischen Patentamts in Bezug auf die Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Zeiten der COVID-19 Pandemie als Videokonferenz (siehe https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/communications/2020/20201215_de.html).

IX. Während der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren am 10. Februar 2021 argumentierte die Beschwerdegegnerin, dass die erteilten Ansprüche als neuer Hauptantrag zu berücksichtigen seien. Die bisherigen Anspruchssätze wurden dabei als Hilfsanträge 2 (bisheriger Hauptantrag) und 2a - 2m aufrecht erhalten.

Zudem sprach sie eine Rüge unter Regel 106 EPÜ wegen mangelnden rechtlichen Gehörs mit folgendem Wortlaut aus:

"Das rechtliche Gehör wurde nicht gewährt, da die geänderten Anspruchssätze der Patentinhaberin nicht zugelassen wurden".

X. Der Wortlaut des unabhängigen Anspruchs 1 des Hauptantrages (erteilte Fassung) lautet wie folgt:

"1. Implantat für Patienten im Wachstum, insbesondere für die Osteosynthese, mit einer Legierung auf Mg-Zn-Ca-Basis, dadurch gekennzeichnet, dass die Legierung

0,1 bis 0,6 Gew.-% Zink (Zn) und

0,2 bis 0,6 Gew.-% Calcium (Ca)

und als Rest Magnesium (Mg) sowie herstellungsbedingt unvermeidbare Verunreinigungen mit jeweils maximal 0,01 Gew.-% und gesamt höchstens 0,1 Gew.-% aufweist, wobei der Quotient der Gewichtsprozente von Zn und Ca kleiner gleich 1 ist."

XI. Der unabhängige Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 (von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltene Fassung) enthält zusätzlich den folgenden Disclaimer:

"wobei die folgenden Legierungen (1) bis (4) ausgenommen sind:

Legierung (1) mit einer Zusammensetzung von

0,3 Gew.-% Zn,

0,35 Gew.-% Ca,

und als Rest Mg mit den folgenden Verunreinigungen:

weniger als 0,0005 Gew.-% Fe,

weniger als 0,0005 Gew.-% Si,

weniger als 0,0005 Gew.-% Mn,

weniger als 0,0002 Gew.-% Co.

weniger als 0,0002 Gew.-% Ni,

weniger als 0,0002 Gew.-% Cu,

weniger als 0,001 Gew.-% Al,

weniger als 0,0003 Gew.-% Zr,

wobei die Summe der Verunreinigungen Fe, Si, Mn, Co, Ni, Cu und Al nicht mehr als 0,0015 Gew.-% ist, und

wobei der Gehalt an Seltenen Erden mit den Ordnungszahlen 21, 39, 57 bis 71 und 89 bis 103 in Summe weniger als 0,001 Gew.-% ist;

Legierung (2) mit einer Zusammensetzung von

0,2 Gew.-% Zn,

0,3 Gew.-% Ca,

und als Rest Mg mit den folgenden Verunreinigungen:

weniger als 0,0005 Gew.-% Fe,

weniger als 0,0005 Gew.-% Si,

weniger als 0,0005 Gew.-% Mn,

weniger als 0,0002 Gew.-% Co,

weniger als 0,0002 Gew.-% Ni,

weniger als 0,0002 Gew.-% Cu,

weniger als 0,001 Gew.-% Al,

weniger als 0,0003 Gew.-% Zr,

wobei die Summe der Verunreinigungen Fe, Si, Mn, Co, Ni, Cu und Al nicht mehr als 0,0015 Gew.-% ist, und

wobei der Gehalt an Seltenen Erden mit den Ordnungszahlen 21, 39, 57 bis 71 und 89 bis 103 in Summe weniger als 0,001 Gew.-% ist;

Legierung (3) mit einer Zusammensetzung von

0,1 Gew.-%Zn,

0,25 Gew.-% Ca,

und als Rest Mg mit den folgenden Verunreinigungen:

weniger als 0,0005 Gew.-% Fe,

weniger als 0,0005 Gew.-% Si,

weniger als 0,0005 Gew.-% Mn,

weniger als 0,0002 Gew.-% Co,

weniger als 0,0002 Gew.-% Ni,

weniger als 0,0002 Gew.-% Cu,

weniger als 0,001 Gew.-% Al,

weniger als 0,0003 Gew.-% Zr,

wobei die Summe der Verunreinigungen Fe, Si, Mn, Co, Ni, Cu und Al nicht mehr als 0,0015 Gew.-% ist, und

wobei der Gehalt an Seltenen Erden mit den Ordnungszahlen 21, 39, 57 bis 71 und 89 bis 103 in Summe weniger als 0,001 Gew.-% ist;

Legierung (4) mit einer Zusammensetzung von

0,2 Gew.-% Zn,

0,5 Gew.-% Ca,

und als Rest Mg mit den folgenden Verunreinigungen:

weniger als 0,0005 Gew.-% Fe,

weniger als 0,0005 Gew.-% Si,

weniger als 0,0005 Gew.-% Mn,

weniger als 0,0002 Gew.-% Co,

weniger als 0,0002 Gew.-% Ni,

weniger als 0,0002 Gew.-% Cu,

weniger als 0,001 Gew.-% Al,

weniger als 0,0003 Gew.-% Zr,

wobei die Summe der Verunreinigungen Fe, Si, Mn, Co, Ni, Cu und Al nicht mehr als 0,0015 Gew.-% ist, und

wobei der Gehalt an Seltenen Erden mit den Ordnungszahlen 21, 39, 57 bis 71 und 89 bis 103 in Summe weniger als 0,001 Gew.-% ist."

XII. Im Vergleich zum Hilfsantrag 2 wird im Disclaimer in Anspruch 1 von Hilfsantrag 2a zusätzlich der Typ der Implantate der vier ausgenommenen Legierungen präzisiert.

Genauer gesagt sind

- "Präzisionsröhrchen für einen kardiovaskulären Stent aus einer der folgenden Legierungen (1) bis (3)" und

- "Schrauben für kraniofaziale Fixierungen sowie Drähte zur Fixierung von Knochenfrakturen aus folgender Legierung (4)"

ausgenommen.

XIII. Im Vergleich zum Hilfsantrag 2a wird in Anspruch 1 von Hilfsantrag 2b zusätzlich gefordert, dass "die Legierung in ihrer Mg-Matrix hinsichtlich der intermetallischen Phasen im Wesentlichen (Mg,Zn)2Ca-Ausscheidungsphasen enthält".

XIV. Im Vergleich zum Hilfsantrag 2a wird in Anspruch 1 von Hilfsantrag 2c zusätzlich gefordert, dass "die Legierung in ihrer Mg-Matrix hinsichtlich der intermetallischen Phasen ausschließlich (Mg,Zn)2Ca-Ausscheidungsphasen enthält".

XV. Im Vergleich zum Hilfsantrag 2a wird in Anspruch 1 von Hilfsantrag 2d zusätzlich gefordert, dass "die Legierung keine seltenen Erden aufweist".

XVI. Anspruch 1 von Hilfsantrag 2e kombiniert die Änderungen der Ansprüche 1 der Hilfsanträge 2b und 2d.

XVII. Anspruch 1 von Hilfsantrag 2f kombiniert die Änderungen der Ansprüche 1 der Hilfsanträge 2c und 2d.

XVIII. In Anspruch 1 von Hilfsantrag 2g ist der Disclaimer gestrichen und dafür die Implantate auf "Kirschner-Draht [sic], Herbert-Schraube, Marknagel oder Nagel zur elastisch stabilen Markraumschienung" eingeschränkt worden.

XIX. Die Ansprüche 1 der Hilfsanträge 2h, 2i, 2j, 2k und 2l entsprechen jeweils denen der Hilfsanträge 2b, 2c, 2d, 2e und 2f mit dem Unterschied, dass im Disclaimer die Implantattypen nicht eingeschränkt sind.

XX. In Anspruch 1 von Hilfsantrag 2m sind im Vergleich zu Anspruch 1 von Hilfsantrag 2 zusätzlich die Implantate auf "Herbert-Schraube oder Nagel zur elastisch stabilen Markraumschienung" beschränkt und der optionale Charakter der "Osteosynthese" gestrichen worden.

XXI. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdeführerinnen können wie folgt zusammengefasst werden:

- Der Hauptantrag, d.h. das Patent in seiner erteilten Fassung, sei nicht zuzulassen.

- Wegen der zu breiten Definition nähmen die Disclaimer aus Hilfsantrag 2 und den Hilfsanträgen 2h bis 2m mehr aus als nötig, um die Neuheit gegenüber E1 herzustellen. Daher seien die Erfordernisse von G 1/03 und des Artikels 123(2) EPÜ nicht erfüllt.

- Die nach der vorläufigen Meinung der Kammer eingereichten Hilfsanträge 2a bis 2g seien verspätet eingereicht worden und nicht ins Verfahren zuzulassen, insbesondere, da keine stichhaltigen Gründe für außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 13 VOBK 2020 vorlägen.

- Die Hilfsanträge 2a bis 2g würden den Schutzumfang im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung erweitern. Dies wäre nicht im Einklang mit den Bedingungen für eine zulässige Ausnahme vom Verschlechterungsverbot nach G 1/99, da das Hinzufügen von einschränkenden Merkmalen durchaus möglich sei.

XXII. Die für diese Entscheidung wesentlichen Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:

- Der Hauptantrag sei nie zurückgenommen worden. Er sei auch zu berücksichtigen, da er der dritten Option aus G 1/99 entspreche, und die beiden anderen Optionen nicht möglich seien.

- Was den Hilfsantrag 2 betrifft, würde das Wort "sollte" im Leitsatz II.2 von G 1/03 der Kammer einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung einräumen, ob ein Disclaimer mehr ausnimmt als nötig. Für dieses Ermessen sollten auch die Verhältnismäßigkeit und die Billigkeit eine Rolle spielen.

- Die Hilfsanträge 2a bis 2g seien als Reaktion auf den in der vorläufigen Meinung der Kammer erhobenen Einwand unter Artikel 123(2) EPÜ eingereicht worden und daher ins Verfahren zuzulassen, um das rechtliche Gehör zu wahren.

- Durch die weitere Einschränkung der Disclaimer auf bestimmte Implantattypen würden die Hilfsanträge 2a bis 2f die Bedingungen von G 1/03 erfüllen.

- Auch der im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung erweiterte Schutzumfang dieser Hilfsanträge sei eine zulässige Ausnahme vom Verschlechterungsverbot, da die ersten beiden Optionen von G 1/99 nicht möglich seien.

In diesem Zusammenhang entspräche eine Einschränkung auf das Ausführungsbeispiel der ursprünglich offenbarten Beschreibung weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch dem der Billigkeit, was im Gegensatz zu den Grundsätzen von G 1/99 stünde. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerinnen ihrerseits die Möglichkeit hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen oder ihre Interessen vor einem nationalen Gericht geltend zu machen.

XXIII. Die Beschwerdeführerinnen 1 und 2 beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte als neuen Hauptantrag, das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten, hilfsweise in der von der Einspruchsabteilung geänderten Fassung (d.h. Zurückweisung der Beschwerden; als Hilfsantrag 2 bezeichnet).

Des weiteren beantragte sie hilfsweise, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage eines der mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 eingereichten Hilfsanträge 2a bis 2m aufrechtzuerhalten.

Entscheidungsgründe

Abhaltung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz

1. Die Beschwerdeführerin 1 beantragte mit ihrer Eingabe vom 20. Januar 2021 die Abhaltung der mündlichen Verhandlung aufgrund der aktuellen Entwicklungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 in Deutschland und in Österreich als Videokonferenz. Die Beschwerdegegnerin beantragte einen Tag später die Verhandlung vor Ort, bzw. in Hybridform durchzuführen. Eine Rechtfertigung für diesen Antrag oder die Geltendmachung dringlicher Gründe seitens der Beschwerdegegnerin erfolgte nicht.

In Abwägung der gegeben Risikosituation und aufgrund des Mangels an überzeugenden Argumenten für eine (teilweise) Durchführung der Verhandlung vor Ort entschied die Kammer sich für eine Videokonferenz und lehnte dementsprechend den Antrag der Beschwerdegegnerin ab.

In der Tat war wegen der Reisebeschränkungen zwischen Österreich und Deutschland und der Situation innerhalb Deutschlands die Präsenz aller bzw. eines Teils der Beteiligten vor Ort nicht angebracht. Angesichts der generellen pandemischen Lage in beiden Ländern Ende Januar/Anfang Februar 2021 war es sogar geboten, Ansammlungen mehrerer Personen soweit möglich zu vermeiden. Eine Präsenz der Teilnehmer vor Ort hätte durch die ggf. notwendigen Reisen und die Anwesenheit von bis zu neun Personen im Verhandlungssaal das Ansteckungsrisiko für die anwesenden Parteien und die Mitglieder der Kammer in unverhältnismäßiger Weise erhöht.

In der Mitteilung der Kammer vom 1. Februar 2021 wurden die Parteien darauf hingewiesen, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz in Übereinstimmung mit der Mitteilung der Beschwerdekammern vom 15. Dezember 2020 erfolgte, wonach "[a]b dem 1. Januar 2021 ... die Kammern auch ohne Einverständnis der Beteiligten mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchführen [können], wie nun im neuen vom Beschwerdekammerausschuss beschlossenen Artikel 15a VOBK klargestellt wird. Da die neue Bestimmung lediglich eine bestehende Möglichkeit klarstellt, können die Kammern schon vor deren Inkrafttreten [am 1. April 2021] ihre Praxis anpassen und darauf verzichten, das Einverständnis der betreffenden Beteiligten einzuholen".

Auf die Mitteilung antwortete die Beschwerdegegnerin in ihrem Schreiben vom 28. Januar 2021 mit der Bekanntgabe der teilnehmenden Personen und ohne weitere Kommentare, d.h. ohne Einwände gegen die Abhaltung der Verhandlung als Videokonferenz. Weder im schriftlichen Verfahren, noch in der Videokonferenz selbst wurde die Videokonferenz als Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens beanstandet, noch bezog sich die formale Rüge gemäß Regel 106 EPÜ gegen die Abhaltung oder Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz.

Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Vorsitzende während der mündlichen Verhandlung das ordnungsgemäße Funktionieren der Videokonferenztechnik feststellte.

Damit ist an der Abhaltung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenztechnik nichts zu beanstanden, und das Recht der Beteiligten auf rechtliches Gehör wurde dadurch gewahrt.

Der Disclaimer der aufrechterhaltenen Anspruchsfassung

2. Im Vergleich zur erteilten Fassung enthält der unabhängige Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen damaligen und jetzigen Hilfsantrags 2 einen Disclaimer, der Implantate aus den spezifischen Mg-Zn-Ca Legierungen der Ausführungsbeispiele 2, 5, 6 und 8 des Artikel 54(3) EPÜ Dokuments E1 vom Schutzbereich ausnimmt.

Dieser Disclaimer ist in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart.

3. In G 1/16 (AB 2018, A70, Leitsatz) wurde bestätigt, dass für einen solchen nicht offenbarten Disclaimer weiterhin die Kriterien von G 1/03 (AB 8-9/2004, 413) anzuwenden sind.

Nach letzterer Entscheidung sollte ein Disclaimer nicht mehr ausschließen als nötig, um die Neuheit wiederherzustellen (Leitsatz II.2).

Im vorliegenden Fall sind zumindest die Drähte zur Fixierung von Knochenfrakturen aus der Legierung des Ausführungsbeispiels 8 von E1 ("to produce wires for fixation of bone fractures" auf Seite 24, Zeilen 23 und 24; Übersetzung durch die Kammer: "um Drähte für die Fixierung von Knochenbrüchen herzustellen") neuheitsschädlich für das Implantat von Anspruch 1 der erteilten Fassung des Streitpatents:

- Dass die Legierung aus Beispiel 8 unter den Wortlaut von Anspruch 1 der erteilten Fassung fällt, ist unbestritten.

- Darüber hinaus werden diese Drähte auch unzweifelhaft wirklich hergestellt, wie auf Seite 24 in den Zeilen 23 und 24 ausgesagt wird: "The 8 mm diameter rod was also subjected to a wire drawing process to produce wires for fixation of bone fractures" (Übersetzung durch die Kammer: "Der Stab mit 8 mm Durchmesser wurde ebenfalls einem Drahtziehprozess unterworfen, um Drähte für die Fixierung von Knochenbrüchen herzustellen").

Da der Disclaimer in der aufrechterhaltenen Fassung des Streitpatents jedoch nicht nur Drähte zur Fixierung von Knochenfrakturen aus dieser Legierung ausnimmt, sondern jegliche Implantate, schließt er mehr aus als nötig. Somit sind die Bedingungen von G 1/03 nicht erfüllt und die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ verletzt.

4. Die Beschwerdegegnerin betont, dass ein Disclaimer nach G 1/03, Leitsatz II.2, nicht mehr ausschließen sollte als nötig, um die Neuheit wiederherzustellen. Dies gäbe der Kammer einen gewissen Ermessensspielraum, in dem auch der Verhältnismäßigkeit und der Billigkeit Rechnung getragen werden sollten.

Die Kammer stimmt dem nicht zu. Die Leitsätze von G 1/03 müssen in ihrem Kontext gelesen werden. Nach Punkt 3 der Entscheidungsgründe schränkt ein zulässiger Disclaimer lediglich den beantragten Patentschutz ein und ist nur gerechtfertigt, um eine neuheitsschädliche Offenbarung oder einen nicht patentfähigen Gegenstand auszuschließen. Dies bedeute nicht, dass die Ansprüche willkürlich geändert werden dürfen. Der Disclaimer darf daher nicht mehr ausklammern als notwendig, um die Neuheit wiederherzustellen oder den aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommenen Gegenstand auszuschließen.

Auch in T 8/07 (Entscheidungsgründe 2.3 und 2.4) wird festgestellt, dass die Schlussfolgerung aus G 1/03, nicht mehr auszuklammern als notwendig, nicht nur ein Desideratum darstellt. Analoges gilt auch für T 795/05 (Entscheidungsgründe 3.5).

Die jetzige Kammer kommt zum selben Schluss.

Bedingungen für zulässige Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot nach G 1/99

5. Sind, wie im vorliegenden Fall, die Einsprechenden die alleinigen Beschwerdeführerinnen gegen eine Zwischenentscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, so ist die Patentinhaberin nach G 9/92 (AB 12/1994, 875) primär darauf beschränkt, das Patent in der Fassung zu verteidigen, die die Einspruchsabteilung ihrer Zwischenentscheidung zugrunde gelegt hat. Änderungen, die die Patentinhaberin als Beteiligte nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ vorschlägt, können von der Beschwerdekammer abgelehnt werden, wenn sie weder sachdienlich noch erforderlich sind.

6. Nach G 1/99 (AB 8-9/2001, 381) kann von diesem Grundsatz unter bestimmten Bedingungen abgewichen werden, um einen im Beschwerdeverfahren von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müsste.

Nach dem Leitsatz dieser Entscheidung kann es der Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin unter diesen Umständen zur Beseitigung des Mangels gestattet werden, folgendes zu beantragen:

- in erster Linie eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung einschränken;

- falls eine solche Beschränkung nicht möglich ist, eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitern, ohne jedoch gegen Artikel 123 (3) EPÜ zu verstoßen;

- erst wenn solche Änderungen nicht möglich sind, die Streichung der unzulässigen Änderung, sofern nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird.

Nach G 1/99 ist ein Änderungsantrag dieser Art im Sinne des Leitsatzes II von G 9/92 "sachdienlich" und "erforderlich" und daher zulässig.

7. Im vorliegenden Fall haben die Beteiligten nicht bestritten, dass die Grundsätze von G 1/99 auch dann gelten, wenn es sich bei dem unzulässigen Merkmal um einen Disclaimer handelt.

Die Kammer teilt diese Auffassung.

8. Es stellt sich also die Frage, ob im vorliegenden Fall in Übereinstimmung mit der ersten Option aus G 1/99 die Aufnahme von ursprünglich offenbarten, den Schutzumfang der aufrechterhaltenen Fassung einschränkenden Merkmalen den Mangel beseitigen kann.

Dies muss bejaht werden, denn in Tabelle 1 auf Seite 7 der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht, wird ein bestimmtes Implantat aus einer spezifischen Mg-Zn-Ca-Legierung offenbart, genauer gesagt ein Nagel aus MgZn0.4Ca0.4.

Die Aufnahme der Merkmale dieses Beispiels würde in der Tat den Schutzumfang des Patents im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung weiter einschränken und gleichzeitig den unzulässigen Disclaimer überflüssig machen.

Somit wäre der Mangel des zu breiten Disclaimers behoben und gleichzeitig wären die Bedingungen der ersten Option aus G 1/99 erfüllt.

9. Die Tatsache, dass diese Möglichkeit besteht, bedeutet aber wegen der klaren Rangfolge der Optionen im Leitsatz von G 1/99, dass Anträge der folgenden Art unzulässig sind:

- Anträge mit der Aufnahme von ursprünglich offenbarten Merkmalen, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitern würden, und

- Anträge mit einer Streichung der unzulässigen Änderung.

10. Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin entspräche die Einschränkung auf das Ausführungsbeispiel der ursprünglich offenbarten Beschreibung jedoch weder dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch dem der Billigkeit.

Dabei sei die Billigkeit nach G 1/99 ausdrücklich zu berücksichtigen. Die Beschwerdeführerinnen hätten ja ihrerseits die Möglichkeit, ihre Beschwerden zurückzuziehen oder ihre Interessen vor nationalen Gerichten geltend zu machen.

Dieses Argument ist nicht überzeugend. Am Ende von Punkt 12 von G 1/99 wird zwar in der Tat folgendes präzisiert: "Doch insbesondere wenn der Aufrechterhaltung des Patents Gründe entgegenstehen, die in der ersten Instanz nicht vorgebracht wurden, verdient der nicht beschwerdeführende Patentinhaber aus Gründen der Billigkeit Schutz" (Hervorhebung durch die jetzige Kammer).

Andererseits stellt die Große Beschwerdekammer unter Punkt 15 aber gleichzeitig folgendes klar: "Da sich die Beschwerdekammern an den Grundsatz des Verschlechterungsverbots halten müssen, darf eine solche Ausnahmeregelung nur eng ausgelegt werden" (Hervorhebung eingefügt).

Unter Berücksichtigung dieser Aspekte kommt die Große Beschwerdekammer dann zum Schluss, dass unter bestimmten Umständen vom Prinzip des Verschlechterungsverbots abgewichen werden kann. Entsprechend präzise werden die drei Optionen (und deren Rangfolge) aufgezeigt, um den Mangel zu beheben.

In diesem Zusammenhang wird klar ausgesagt, dass die zweite Option (Aufnahme eines den Schutzbereich erweiternden Merkmals) nur dann zu gestatten ist, wenn sich die erste Option (Aufnahme eines den Schutzbereich einschränkenden Merkmals) "als unmöglich erweist" (G 1/99, Leitsatz). Während der völlige Verlust des Patentes also unter Umständen als unbillig erachtet wird, spielt die Frage, wie viel vom Schutzbereich der aufrechterhaltenen Fassung nach der Änderung übrig bleibt, keine Rolle.

Die Kammer merkt auch an, dass die Verantwortung für den unzulässigen Disclaimer letztlich die Beschwerdegegnerin trägt.

Unter diesen Umständen ist es den Beschwerdeführerinnen nicht zuzumuten, dass sie ihre Beschwerden zurückziehen oder dass sie ihre Interessen vor nationalen Gerichten durchsetzen, nur damit der Verlust des Schutzbereiches des Streitpatents für die Beschwerdegegnerin in einem subjektiv erträglichen Rahmen bleibt.

Hilfsantrag 2 (aufrechterhaltene Fassung) - Artikel 123(2) EPÜ

11. Wie unter den Punkten 2. bis 4. oben gezeigt, erfüllt der Disclaimer im unabhängigen Anspruch 1 die Bedingungen von G 1/03 nicht.

Daher erfüllt Hilfsantrag 2 die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ nicht.

Hilfsanträge 2a bis 2f

Aus den folgenden Gründen sind diese Hilfsanträge zwar unter Artikel 13 VOBK 2020 zu berücksichtigen und wurden deshalb im Beschwerdeverfahren auch zugelassen, erfüllen aber nicht die Bedingungen aus G 1/99 für zulässige Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot.

12. Zulässigkeit

Die Beschwerdeführerinnen hatten moniert, dass der Disclaimer nicht zulässig und es insofern fraglich sei, ob die punktförmigen Offenbarungen der E1 "in notwendigem Maß" ausgeschlossen seien. In ihrer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK 2020 konkretisierte die Kammer diesen Einwand, dass die Disclaimer in den jetzigen Hilfsanträgen 2 und 2h bis 2m wahrscheinlich zu weit gefasst seien (Punkte 9.1 und 14), und dass daher die Erfordernisse von Artikel 123(2) EPÜ nicht erfüllt zu sein schienen.

Daraufhin reichte die Beschwerdegegnerin u.a. die Hilfsanträge 2a bis 2f ein.

In diesen Hilfsanträgen wurden die Disclaimer auf die jeweiligen in den Beispielen 2, 5, 6 und 8 von E1 genannten Implantat-Typen eingeschränkt. In Anbetracht der erstmaligen konkreten Formulierung der Beanstandung stellen die Disclaimer daher einen zulässigen Versuch dar, in Übereinstimmung mit Leitsatz II.2 von G 1/03 nicht mehr auszuschließen als nötig, um die Neuheit gegenüber E1 wiederherzustellen.

Daher übte die Beschwerdekammer ihr Ermessen zu Gunsten der Beschwerdegegnerin aus und ließ die Hilfsanträge 2a bis 2f ins Beschwerdeverfahren zu (Artikel 13(1) VOBK 2020).

13. Erweiterung gegenüber der aufrechterhaltenen Fassung

Durch die Einschränkung der Disclaimer wurde jedoch der Schutzbereich des Patents im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung zumindest in bestimmten Bereichen erweitert, was dem Grundsatz des Verschlechterungsverbots widerspricht:

Was die Hilfsanträge 2a bis 2f betrifft, werden nunmehr andere als die im Disclaimer aufgeführten Implantat-Typen, die aus den in der aufrechterhaltenen Fassung ausgenommenen Legierungen bestehen (z.B. eine Herbert-Schraube aus der Legierung (1) des Disclaimers), wieder vom Schutzbereich umfasst.

Daher wird der Schutzbereich der Ansprüche in den Hilfsanträgen 2a bis 2f zumindest in bestimmten Bereichen im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung erweitert. Dies entspricht der zweiten Option des Leitsatzes von G 1/99.

Nach diesem Leitsatz ist eine solche Ausnahme vom Verschlechterungsverbot aber nur dann zulässig, wenn eine Einschränkung des Schutzbereiches des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung durch die Aufnahme von ursprünglich offenbarten Merkmalen nach der ersten Option nicht möglich ist.

Unter Punkt 8. wurde vorstehend jedoch gezeigt, dass eine solche Lösung nach der ersten Option im vorliegenden Fall möglich ist, nämlich indem Anspruch 1 auf das Ausführungsbeispiel in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen beschränkt wird.

Daher stehen die Hilfsanträge 2a bis 2f im Widerspruch zu den Prinzipien aus G 1/99.

Somit sind sie im Sinne von Punkt 16 der Entscheidungsgründe von G 9/92 und Punkt 15 von G 1/99 weder "sachdienlich" noch "erforderlich" und daher abzulehnen.

Hilfsantrag 2g

14. Der Hilfsantrag 2g wurde ebenfalls als Antwort auf den Bescheid der Kammer eingereicht. Er enthält keinen Disclaimer, sondern schränkt stattdessen die Natur der Implantat-Typen auf Krischner-Draht, Herbert-Schraube, Marknagel oder Nagel zur elastisch stabilen Markraumschienung ein.

15. Obwohl einige der eingefügten Merkmale als bevorzugte Ausführungsform der aufrecht erhaltenen Verwendungsansprüche vorhanden waren, waren zumindest der Krischner-Draht und der Marknagel im Beschwerdeverfahren zuvor nie anstelle des Disclaimers Teil des Produktanspruchs (selbst der jetzige Hilfsantrag 2m, der unter anderer Bezeichnung bereits mit der Beschwerdeerwiderung eingereicht worden war, ist auf die Herbert-Schraube oder den Nagel zur elastisch stabilen Markraumschienung beschränkt). Die zusätzlichen Merkmale werden in der Beschreibung beispielsweise auf Seite 5, vorletzter Absatz, erwähnt.

Insofern reagierte die Beschwerdegegnerin im Hilfsantrag 2g nicht auf die erhobene Beanstandung, indem die Merkmale des jetzigen Hilfsantrags 2m limitiert wurden, sondern sie führte zusätzlich zwei weitere Alternativen ein, die in dieser Form im Beschwerdeverfahren als Unterscheidungsmerkmale des Produktanspruchs nie diskutiert wurden und eine erneute Beurteilung notwendig machen würden.

Dies erstmalig in der mündlichen Verhandlung durchzuführen, wäre mit dem Kriterium der Verfahrenseffizienz nicht vereinbar.

Die Beschwerdegegnerin konnte zudem nicht überzeugend begründen, warum diese beiden zusätzlichen Alternativen erst zu dem späten Zeitpunkt zur Diskussion gestellt wurden.

Daher stellt der Anspruchssatz mit einem diese beiden zusätzlichen Alternativen enthaltenden Produktanspruch eine Änderung des Vorbringens dar, ohne dass stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt worden wären, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen (Artikel 13(1) und (2) VOBK 2020).

16. Zusätzlich liegt auch hier prima facie eine Erweiterung des Schutzumfangs im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung vor, was dem Grundsatz des Verschlechterungsverbots widerspricht, d.h. die prima facie Eignung des Anspruchssatzes die zuvor diskutierten Beanstandungen auszuräumen, ist nicht gegeben.

Während nach Anspruch 1 der aufrechterhaltenen Fassung alle Implantat-Typen aus den spezifischen Legierungen der Ausführungsbeispiele 2, 5 6 und 8 von E1 ausgeklammert sind, werden nunmehr u.a. Implantat-Typen wie beispielsweise der Krischner-Draht oder der Marknagel aus diesen spezifischen Legierungen explizit wieder vom Schutzumfang von Anspruch 1 von Hilfsantrag 2g umfasst.

Wegen dieser Erweiterung des Schutzumfangs im Vergleich zur aufrechterhaltenen Fassung steht auch der Hilfsantrag 2g prima facie im Widerspruch zum Leitsatz von G 1/99.

Hilfsantrag 2g ist damit im Sinne von Punkt 16 der Entscheidungsgründe von G 9/92 und Punkt 15 von G 1/99 weder "sachdienlich" noch "erforderlich" und daher abzulehnen. Er ist somit auch im Sinne von Artikel 13(1) und (2) VOBK 2020 nicht geeignet, die Frage einer zulässigen Ausnahme vom Verschlechterungsverbot zu lösen.

Aus diesen Gründen übt die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 13(1) und (2) VOBK 2020 derart aus, dass Hilfsantrag 2g im Beschwerdeverfahren nicht zugelassen und nicht berücksichtigt wird.

Die Änderungen der Hilfsanträge 2h bis 2m

17. Die Hilfsanträge 2h bis 2m beinhalten die gleichen Disclaimer wie das Streitpatent in der aufrechterhaltenen Fassung.

Wie unter den vorstehenden Punkten 2. bis 4. dargelegt, schließen diese jedoch mehr aus, als für die Herstellung der Neuheit gegenüber den Ausführungsformen von E1 nötig ist, was den Bedingungen aus G 01/03 widerspricht.

Somit genügen die Hilfsanträge 2h bis 2m ebenfalls nicht den Erfordernissen von Artikel 123(2) EPÜ.

Hauptantrag (erteilte Fassung)

18. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, gegen Ende der Diskussion der Hilfsanträge, beantragte die Beschwerdegegnerin, die erteilte Fassung der Ansprüche als neuen Hauptantrag aufzunehmen. Sie begründete den Schritt damit, dass sie die erteilten Ansprüche nie zurückgenommen hätte. Der Antrag sei auch zu berücksichtigen, da er der dritten Option aus G 1/99 entspreche, und die beiden anderen Optionen nicht möglich seien.

Während der mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren hielt die Einspruchsabteilung den damaligen Hauptantrag (die erteilte Fassung der Ansprüche) für nicht neu gegenüber E1. Daraufhin reichte die Patentinhaberin die Hilfsanträge 1 und 2 ein, wobei dann Hilfsantrag 2 für gewährbar erachtet wurde.

Im Beschwerdeverfahren beantragte die Patentinhaberin, nun als Beschwerdegegnerin, die Zurückweisung der Beschwerden und somit die Aufrechterhaltung der von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Ansprüche als Hauptantrag (siehe Erwiderung auf die Beschwerden, Punkt 1; Eingabe vom 30. Dezember 2020, Seite 1, 1. Absatz, und Seite 2, vorletzter Absatz).

Auch zu Beginn der mündlichen Verhandlung wurde diese Antragslage bestätigt (Protokoll der mündlichen Verhandlung, Seite 2, 4. Absatz). Erst im Laufe der mündlichen Verhandlung benannte die Beschwerdegegnerin die erteilte Fassung als neuen Hauptantrag.

Bis zu diesem Zeitpunkt in der mündlichen Verhandlung war im Beschwerdeverfahren keine Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der erteilten Ansprüchen von der Beschwerdegegnerin beantragt worden.

Aus diesem Grund, und da die Beschwerdefrist längst abgelaufen war, konnte die Entscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich der erteilten Fassung als Beschwerde der Beschwerdegegnerin auch nicht mehr revidiert werden.

19. Darüber hinaus ist die Beschwerdekammer der Auffassung, dass dieser Hauptantrag auch dann nicht berücksichtigt werden könnte, wenn er als ein neuer - während der mündlichen Verhandlung eingereichter - Antrag angesehen würde, wobei im vorliegenden Fall Artikel 13(2) VOBK 2020 anzuwenden wäre.

Bereits im Einspruchsverfahren wurde der erteilte Anspruchssatz (ohne Disclaimer) als nicht gewährbar erachtet. Im letztmöglichen Moment, d.h. in der mündlichen Verhandlung, auf diesen Anspruchssatz zurückzugehen stellt die Sinnhaftigkeit des gesamten Beschwerdeverfahrens in Frage und überraschte sowohl die Beschwerdeführerinnen, als auch die Kammer, insbesondere auch deshalb, weil die Patentinhaberin keine Beschwerde eingelegt hatte und somit die Entscheidung der Einspruchsabteilung akzeptiert hatte und weil nicht einmal außergewöhnlichen Umstände geltend gemacht wurden, um diesen Schritt zu rechtfertigen.

Zusätzlich führt die Streichung eines Disclaimers gegenüber der aufrecht erhaltenen Fassung prima facie wiederum zu einer Erweiterung und die zuvor gemachten Überlegungen gelten sinngemäß.

Daher übt die Kammer ihr Ermessen gemäß Artikel 13(2) VOBK 2020 aus und berücksichtigt den neuen Hauptantrag nicht.

Rechtliches Gehör

20. Während der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren hat die Beschwerdegegnerin eine Rüge unter Regel 106 EPÜ ausgesprochen. Sie behauptet, ihr rechtliches Gehör nach Artikel 113(1) EPÜ sei nicht respektiert worden.

Die Rüge hat folgenden Wortlaut: "Das rechtliche Gehör wurde nicht gewährt, da die geänderten Anspruchssätze der Patentinhaberin nicht zugelassen wurden".

21. Im vorliegenden Fall muss zwischen einer (Nicht-)Zulassung oder (Nicht-)Berücksichtigung ins Beschwerdeverfahren im Sinne des Artikels 114(2) EPÜ bzw. des Artikels 13(1)und (2) VOBK 2020 einerseits und einer inhaltlichen Ablehnung eines Antrags in Hinsicht auf Ausnahmen vom Verschlechterungsverbot aufgrund der Prinzipien aus G 9/92 und G 1/99 andererseits unterschieden werden.

Aus dem Wortlaut der Rüge ("die geänderten Anspruchssätze der Patentinhaberin [wurden] nicht zugelassen") ist ersichtlich, dass es sich bei der Rüge nur um diejenigen Anträge handeln kann, die die Kammer im Rahmen ihres Ermessens nicht zugelassen bzw. nicht berücksichtigt hat, also im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ bzw. Artikel 13(1) und (2) VOBK 2020.

Da die Kammer die Zulassung/Berücksichtigung

- des Hilfsantrags 2 (aufrechterhaltene Fassung),

- der Hilfsanträge 2a bis 2f und

- der Hilfsanträge 2h bis 2m

ins Verfahren nicht verneint hat, kann sich die Rüge folgerichtig nur auf die Nichtberücksichtigung des neuen Hauptantrags und des Hilfsantrags 2g nach Artikel 13(1) und (2) VOBK 2020 beziehen.

22. Für die Gewährung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Artikel 113(1) EPÜ ist zwingend Voraussetzung, dass den Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern, und dass diese Äußerungen im Hinblick auf ihre Relevanz für die Entscheidung von der Beschwerdekammer auch in der Sache überprüft werden (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, III.B.2.4.1).

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die jeweilige Entscheidung der Beschwerdekammer positiv im Sinne der Beteiligten ausfallen muss.

23. Die Frage der Zulassung/Berücksichtigung beider Anträge wurde unter anderem, ausweislich der Niederschrift, ausführlich während der mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten erörtert.

Am Ende der mündlichen Verhandlung, nach Feststellung der abschließenden Anträge der Beteiligten und nach Anfrage des Vorsitzenden hatte keine der Beteiligten weitere Anträge oder Anmerkungen mehr (siehe Protokoll der mündlichen Verhandlung, Seite 4, Zeilen 3/4).

24. Unter den Punkten 14. bis 16. und 18. bis 19. wurde vorstehend dargelegt, warum beide Anträge nicht zulässig sind.

Somit ist der Beschwerdegegnerin die Gelegenheit gegeben worden, sich zu äußern. Wie vorstehend dargelegt, wurden diese Äußerungen zudem im Hinblick auf ihre Relevanz für die Entscheidung von der Beschwerdekammer auch in der Sache überprüft.

Das rechtliche Gehör der Parteien ist daher gewahrt worden.

Somit wird die Rüge der Beschwerdegegnerin unter Regel 106 EPÜ zurückgewiesen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

3. Die Rüge gemäß Regel 106 EPÜ wird zurückgewiesen.

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