T 1270/18 (Zulassung verspätet eingereichter Anträge) of 3.11.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T127018.20211103
Datum der Entscheidung: 03 November 2021
Aktenzeichen: T 1270/18
Anmeldenummer: 05810771.5
IPC-Klasse: F16G 1/28
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: ZAHNRIEMEN MIT ZAHNAUFLAGE AUS GEWEBE
Name des Anmelders: ContiTech Antriebssysteme GmbH
Name des Einsprechenden: Gates Corporation
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 112a(1)
European Patent Convention Art 113(1)
European Patent Convention Art 113(2)
European Patent Convention Art 114(2)
European Patent Convention R 99(1)(c)
European Patent Convention R 116(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(3)
Schlagwörter: Rechtliches Gehör - mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung
Rechtliches Gehör - Verletzung (nein)
Verspätetes Vorbringen - korrekte Ermessensausübung (ja)
Verspätetes Vorbringen - Verfahrensökonomie
Spät eingereichter Antrag - Rechtfertigung für späte Vorlage (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
T 0912/08
T 0624/09
T 1188/09
T 1634/10
T 2405/10
T 0640/11
T 1378/11
T 1777/14
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1776/18
T 0364/20

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die am 6. April 2018 zur Post gegebene Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das Patent widerrufen wurde. Die Einspruchsabteilung hat den in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgelegten geänderten Hauptantrag mit gegenüber der erteilten Fassung des Patents geänderten Ansprüchen aufgrund Artikel 114(2) und Regel 116(1) EPÜ nicht in das Verfahren zugelassen. Da die Patentinhaberin keinen weiteren Anspruchssatz eingereicht habe und somit keine von der Patentinhaberin gebilligte Fassung vorliege, sei das Erfordernis von Artikel 113(2) EPÜ nicht erfüllt und das Patent zu widerrufen.

II. Mit Schreiben vom 18. Mai 2018 hat die Patentinhaberin Beschwerde eingelegt und beantragt, "die Entscheidung über den Widerruf des Europäischen Patents aufzuheben".

III. In ihrer Beschwerdebegründung vom 1. August 2018 hat die Beschwerdeführerin Gründe angeführt, warum die in der angegriffenen Entscheidung genannten Gründe für die Nichtzulassung des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten geänderten Hauptantrags, nämlich die verspätete Einreichung und die fehlende eindeutige Gewährbarkeit, nicht zuträfen.

IV. In ihrer Beschwerdeerwiderung vom 3. Dezember 2018 hat die Einsprechende (Beschwerdegegnerin) beanstandet, dass die Beschwerde unzulässig sei, da die Beschwerdeschrift keinen Antrag im Sinne von Regel 99(1)c) EPÜ enthalte. Die Beschwerde sei auch unbegründet, da die Einspruchsabteilung zutreffend begründet habe, dass der geänderte Antrag nach Artikel 114(2) EPÜ verspätet ("not in due time") vorgelegt wurde und auch ihr Ermessen bei der Beurteilung der "fehlenden eindeutigen Gewährbarkeit" des Antrags richtig ausgeübt habe.

V. Am 3. November 2021 fand eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz vor der Beschwerdekammer statt, an deren Ende die nachstehende Entscheidung verkündet wurde.

VI. Die entscheidungserheblichen schriftlichen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden:

- Gemäß Artikel 113 EPÜ hätten die Parteien das Recht, auch noch in der mündlichen Verhandlung Anträge zu stellen, um jeweiligen Beanstandungen Rechnung tragen zu können. Die Grenzen des rechtlichen Gehörs würden in Artikel 13 VOBK definiert. Diese nach dieser Vorschrift erforderliche Prüfung müsse auch von der Einspruchsabteilung durchgeführt werden.

- Durch die geänderten Ansprüche des neu vorgelegten Hauptantrags sei kein neuer Sachverhalt geschaffen, sondern sogar eine Vereinfachung durchgeführt worden, was der Verfahrensökonomie diene. Das Vorhandensein von PEEK als Schussfäden sei bereits Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gewesen. Alle Ansprüche seien bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung diskutiert worden. Die geänderten Ansprüche seien lediglich eine Kombination der erteilten Ansprüche. Durch die Vorlage des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung seien daher keine Rechte der Einsprechenden verletzt oder gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie verstoßen worden.

- Sie habe bereits in Reaktion auf den Einspruch angegeben, dass sie gegebenenfalls weitere Anträge stellen werde, bei denen der geltende Anspruch 1 mit einem oder mehreren der Ansprüche 2 bis 14 kombiniert sein könne.

- Sie habe auch im Vorfeld darauf hingewiesen, dass es gut 13 bis 14 Jahre nach Einreichung der Anmeldung "sehr schwierig" sei, geeignetes Datenmaterial zu erhalten, welches geeignet ist, den Bedenken gegen den erteilten Anspruch wirksam entgegentreten zu können.

- Sie habe zwar in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung Ausführungen zur Vorlage des neuen Hauptantrags machen können, jedoch sei in der Erörterung hauptsächlich der Gesichtspunkt der "Verspätung" zur Sprache gekommen. Erst durch die Verkündung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung habe sie erfahren, dass dem Gesichtspunkt der "eindeutigen Gewährbarkeit" eine wesentliche Bedeutung beigemessen wurde. Eine mündliche Begründung für die Nichtzulassung sei nicht gegeben worden. Da sie sich insbesondere zur Frage der "eindeutigen Gewährbarkeit" nicht mehr habe äußern können, sei ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt worden.

VII. Die entscheidungserheblichen schriftlichen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:

- Der geänderte Hauptantrag sei nicht rechtzeitig im Sinne von Artikel 114(2) EPÜ eingereicht worden. Bereits in der Einspruchsschrift vom 28. Juli 2016 und somit nahezu zwei Jahre vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung seien Gründe genannt worden, weshalb die erteilten Ansprüche gegen die Artikel 123(2), 54 und 56 EPÜ verstoßen würden. Die Patentinhaberin habe weder in ihrer Einspruchserwiderung vom 28. Februar 2017 noch in Reaktion auf die Antwort der Einsprechenden vom 26. April 2017 auf die Einspruchserwiderung zu den Einwänden gegen die Patentierbarkeit Stellung genommen, noch die Gelegenheit zur Einreichung von Hilfsanträge wahrgenommen. Im Anhang zur Ladung vom 13. Juli 2017 und somit fast acht Monate vor der mündlichen Verhandlung habe die Einspruchsabteilung mitgeteilt, dass nach ihrer vorläufigen Auffassung die erteilten Ansprüche nicht die Voraussetzungen nach den Artikeln 123(2), 54 und 56 EPÜ erfüllten.

- Eine Begründung für die späte Einreichung des geänderten Hauptantrags erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung habe die Patentinhaberin nicht gegeben.

- Die Kombination der Ansprüche gemäß dem neuen Hauptantrag sei für die Einsprechende nicht vorhersehbar gewesen.

- Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gelte nicht nur für die Patentinhaberin. Eine Zulassung des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hätte das Recht der Einsprechenden auf rechtliches Gehör verletzt.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte,

die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents aufzuheben, den in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung neu eingereichten Hauptantrag zuzulassen und das Patent in beschränktem Umfang gemäß diesem Hauptantrag aufrechtzuerhalten.

Die Beschwerdegegnerin beantragte,

die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, oder gegebenenfalls die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen sowie gegebenenfalls die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgelegten geänderten Hauptantrag mit gegenüber der erteilten Fassung des Patents geänderten Ansprüchen aufgrund Artikel 114(2) und Regel 116(1) EPÜ nicht in das Verfahren zugelassen, hält einer gerichtlichen Überprüfung auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren stand und ist im Ergebnis nicht zu beanstanden (vgl. Artikel 12(2), Artikel 25(1) VOBK 2020).

2. Die Einspruchsabteilung hat ihre Entscheidung auf die Vorschriften des Artikels 114(2) EPÜ und der Regel 116(1) EPÜ gestützt. Artikel 114(2) EPÜ lautet: "Das Europäische Patentamt braucht Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen." Regel 116(1) EPÜ bestimmt, dass nach dem in dem Ladungsbescheid nach Satz 1 der Vorschrift genannten Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel grundsätzlich, d.h. vorbehaltlich der Einschränkung im zweiten Halbsatz von Satz 3, nicht berücksichtigt zu werden brauchen (Hervorhebungen jeweils durch die Kammer).

3. Nach beiden Vorschriften hat die Einspruchsabteilung demzufolge eine Ermessensentscheidung zu treffen, die von der Beschwerdekammer nur in beschränktem Umfang überprüfbar ist.

3.1 Nach ständiger Rechtsprechung ist es bei einer angefochtenen Ermessensentscheidung der ersten Instanz nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher bzw. unangemessener Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (s. dazu insbesondere G 7/93, ABl. EPA 1994, 775 und T 640/91, ABl. EPA 1994, 918).

3.2 Unabhängig von der Frage, ob - wie von der Beschwerdeführerin behauptet - die nach Artikel 13(1) und (3) VOBK vorgesehene Prüfung auch von der Einspruchsabteilung durchgeführt muss, wird weder von der Beschwerdeführerin behauptet, noch ist für die Beschwerdekammer ersichtlich, dass die Entscheidung über die Nichtzulassung des geänderten Hauptantrags wegen verspäteter Einreichung auf einem solchen Ermessensfehlgebrauch beruht. In ihrer Entscheidung (Nr. 2 der Entscheidungsgründe) hat die Einspruchsabteilung unter Abwägung der Argumente beider Parteien dargelegt, dass sie - letztlich der Argumentation der Einsprechenden folgend - den aus einer Kombination von Ansprüchen in der erteilten Fassung bestehenden neuen Hauptantrag nach Regel 116(1) EPÜ für verspätet eingereicht hält und diesen daher nach Artikel 114(2) EPÜ nicht ins Verfahren zugelassen hat. Da die Beschwerdekammer einen Ermessensfehler oder Ermessensmissbrauch bei der genannten Entscheidung der Einspruchsabteilung betreffend die verspätete Vorlage des neuen Antrags nicht feststellen kann und ein solcher Fehler auch nicht von der Beschwerdeführerin dargelegt worden ist, ist es nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, sich über die Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung hinwegzusetzen und zu prüfen, ob aufgrund einer eigenen Ausübung des Ermessens und Abwägung der maßgeblichen Umstände ein anderes Ergebnis im Sinne einer rechtzeitigen Vorlage und damit Zulassung des Hauptantrags gerechtfertigt wäre.

4. Die Einspruchsabteilung hat ihr Ermessen bei der Frage der verspäteten Vorlage des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Wie die Beschwerdegegnerin insoweit unbestritten vorgetragen hat, hatte sie bereits in der Einspruchsschrift vom 28. Juli 2016 Gründe genannt, weshalb die erteilten Ansprüche gegen die Artikel 123(2), 54 und 56 EPÜ verstoßen würden. Die Beschwerdeführerin hat jedoch weder in ihrer Einspruchserwiderung vom 28. Februar 2017 noch in Reaktion auf die Antwort der Einsprechenden vom 26. April 2017 auf die Einspruchserwiderung die Gelegenheit zur Einreichung von Hilfsanträgen wahrgenommen. Schließlich hat die Einspruchsabteilung im Anhang zur Ladung vom 13. Juli 2017 und somit fast acht Monate vor der mündlichen Verhandlung nicht nur mitgeteilt, sondern auch begründet, warum nach ihrer vorläufigen Auffassung die erteilten Ansprüche nicht die Voraussetzungen nach den Artikeln 123(2), 54 und 56 EPÜ erfüllten. Spätestens nach Erhalt der für sie nachteiligen vorläufigen Auffassung der Einspruchsabteilung zur Patentfähigkeit bezüglich der erteilten Ansprüche, hat die Beschwerdeführerin dringenden und hinreichenden Anlass gehabt, hierauf mit der Vorlage von entsprechend geänderten Ansprüchen und Anträgen zu reagieren, um die erhobenen Einwände auszuräumen und somit einen Widerruf ihres Patents zu vermeiden.

5. Die Beschwerdeführerin hat jedoch erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung einen geänderten Hauptantrag vorgelegt, mit dem sie versucht hat, auf die gegen die Ansprüche in der erteilten Fassung zuvor von der Einsprechenden und der Einspruchsabteilung erhobenen Einwände zu reagieren. Eine Begründung für die späte Einreichung des geänderten Hauptantrags erst in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung und somit in einem sehr späten Verfahrenstadium hat die Beschwerdeführerin nicht gegeben. Sie hat auch weder behauptet noch ist für die Kammer ersichtlich, dass "eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts" im Sinne von Regel 116(1) Satz 3 EPÜ eingetreten ist, die die Vorlage des geänderten Antrags als eine angemessene Reaktion auf eine etwaige Sachverhaltsänderung zu einem so späten Zeitpunkt als gerechtfertigt erscheinen lassen könnte.

6. Insoweit kann das Argument der Beschwerdeführerin, sie habe schon im Vorfeld darauf hingewiesen, dass es gut 13 bis 14 Jahre nach Einreichung der Anmeldung "sehr schwierig" sei, geeignetes Datenmaterial zu erhalten, welches geeignet ist, den Bedenken bezüglich des erteilten Anspruchs wirksam entgegentreten zu können, nicht als rechtfertigender Grund für die späte Einreichung des geänderten Antrags anerkannt werden. Denn diese Umstände liegen allein im Verantwortungsbereich und in der Sphäre der Beschwerdeführerin und können nicht zum Nachteil der Beschwerdegegnerin berücksichtigt werden.

7. Weiterhin kann auch der Vortrag der Beschwerdeführerin, sie habe bereits in Reaktion auf den Einspruch angegeben, dass sie gegebenenfalls weitere Anträge stellen werde, bei denen der geltende Anspruch 1 mit einem oder mehreren der Ansprüche 2 bis 14 kombiniert sein könne, keine wirksame Begründung für die erst in der mündlichen Verhandlung und damit verspätet erfolgte Einreichung des geänderten Hauptantrags sein. Wenn die Notwendigkeit der Einreichung geänderter eingeschränkter Ansprüche zur Verteidigung des Patents offenbar schon in einem frühen Verfahrensstadium erkannt und in Erwägung gezogen wurde, wäre es im Hinblick auf den Grundsatz der Verfahrensökonomie geboten gewesen, solche Anträge nicht nur unverbindlich anzukündigen, sondern schon zu dem damaligen Zeitpunkt, jedenfalls aber rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung, konkret formulierte Anspruchssätze einzureichen, damit sowohl die Einsprechende als auch die Einspruchsabteilung prüfen konnten, ob und gegebenenfalls welche Einwände behoben wurden oder fortbestehen oder ob neue Einwände durch die Änderungen der Ansprüche entstanden sind. Da eine solche Prüfung voraussetzt, dass die neu vorgeschlagenen Ansprüche in ausformulierter Form vorliegen und damit der neu beanspruchte Anspruchsgegenstand eindeutig feststeht, ist das Argument der Beschwerdeführerin, dass durch den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten geänderten Hauptantrag die Gesamtzahl der Ansprüche von 14 auf 9 reduziert wurde und angeblich sogar eine Vereinfachung durchgeführt wurde, nicht relevant und vermag daher nicht zu überzeugen. Diese Behauptung ändert nichts daran, dass bis zur Vorlage des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung völlig unklar war, welche konkrete Kombination des erteilten Anspruchs 1 mit einem oder mehreren der Ansprüche 2 bis 14 beabsichtigt war. Unter diesen Umständen kann entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin in der schriftlichen Beschwerdebegründung nicht davon ausgegangen werden, dass durch die Anspruchsänderungen keine neuen Fragen aufgeworfen wurden und es für die Einsprechende und die Einspruchsabteilung "durchaus zumutbar" gewesen wäre, den neuen Hauptantrag inhaltlich zu diskutieren.

8. Die Beschwerdekammer kann auch hinsichtlich der Entscheidung der Einspruchsabteilung über die verspätete Vorlage des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Artikel 113(1) EPÜ) der Beschwerdeführerin feststellen. Zum einen ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (Punkt "3. Verspätet eingereichter neuer Hauptantrag"), dass diese Frage erörtert wurde und beide Parteien die Gelegenheit hatten und auch wahrgenommen haben, hierzu vorzutragen. Weiterhin bestätigte die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer ausdrücklich, dass die Frage der verspäteten Vorlage des neuen Hauptantrags mit den Parteien ausführlich erörtert wurde. Die Patentinhaberin konnte daher auch nicht von der Entscheidung der Einspruchsabteilung hinsichtlich der Frage der verspäteten Einreichung des neuen Hauptantrags (siehe oben Punkt 3.2) überrascht sein. Dabei ist es ständige Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112a EPÜ, dass die Beteiligten keinen Anspruch darauf haben, vorab Einzelheiten zu allen Entscheidungsgründen zu erfahren (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl., V.B.4.3.5). In den Entscheidungen T 1634/10, T 2405/10 und T 1378/11 wandten die Kammern diese Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112a EPÜ explizit auf das erstinstanzliche Verfahren an.

9. Die Kammer bemerkt in diesem Zusammenhang, dass sie die Auffassung der Beschwerdegegnerin teilt, eine Zulassung des geänderten Hauptantrags durch die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung unter den vorliegenden Umständen andererseits hätte eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs zur Folge gehabt. Bei einem inter-partes-Verfahren wie dem Einspruchsverfahren ist der Anspruch auf rechtliches Gehör untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Aufl., IV.C.6.1 mit weiterem Nachweis). Die Kammer ist der Auffassung, dass bis zur Vorlage des geänderten Hauptantrags in der mündlichen Verhandlung die vorgenommene konkrete Kombination des erteilten Anspruchs 1, eingeschränkt auf die Ausführungsform PEEK als Ersatz oder Modifizierung der Schussfäden (64), mit den in den erteilten Unteransprüchen 3 und 4 engsten definierten Mengenbereichen für diese ersetzten oder modifizierten Schussfäden für die Beschwerdegegnerin, selbst im Lichte der Begründung in der Erwiderung zur Einspruchschrift, warum der beanspruchte Gegenstand im Streitpatent neu und erfinderisch sei, nicht vorhersehbar war. Der Beschwerdegegnerin wäre eine Prüfung und Bewertung der gegenüber der erteilten Fassung vorgenommenen Änderungen in den Ansprüchen des neuen Hauptantrags auf deren Vereinbarkeit mit den Vorschriften der Artikel 123(2), 54 und 56 EPÜ erstmals in der mündlichen Verhandlung unter Wahrung ihres Rechts auf rechtliches Gehör nicht zumutbar gewesen.

10. Die Kammer kommt daher zu dem Ergebnis, dass - unabhängig von der Frage der prima facie eindeutigen Gewährbarkeit des geänderten Hauptantrags - die Beschwerde schon wegen der von der Einspruchsabteilung ermessensfehlerfrei festgestellten verspäteten Vorlage des Antrags in der mündlichen Verhandlung in der Sache keinen Erfolg hat.

11. Bei dieser Sachtlage kommt dem Antrag der Beschwerdegegnerin, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, für die vorliegende Entscheidung keine erhebliche Bedeutung zu. Da die Beschwerdegegnerin diesen Antrag am Schluss der mündlichen Verhandlung vor der Kammer auch nach Verkündung der Schlussfolgerung der Kammer zur Begründetheit der Beschwerde ohne weitere Ausführungen hierzu aufrechterhalten hat, nimmt die Kammer insoweit wie folgt Stellung:

11.1 In ihrer Mitteilung der vorläufigen Meinung vom 3. August 2020 hat die Kammer zum Einwand der Beschwerdegegnerin der Unzulässigkeit der Beschwerde unter Punkt 4. folgendes ausgeführt:

"Die Beschwerdegegnerin ist der Auffassung, die Beschwerde sei unzulässig, da die Beschwerdeschrift keinen Antrag im Sinne von Regel 99(1)c) EPÜ enthalte. Dieser Einwand ist unberechtigt. Die Beschwerdeschrift vom 18. Mai 2018 enthält die Angabe, dass "gemäß Art. 106 EPÜ Beschwerde eingelegt" wird sowie den Antrag, "die Entscheidung über den Widerruf des Europäischen Patents aufzuheben". Der Regel 99(1)c) EPÜ ist regelmäßig Genüge getan, wenn in der Beschwerdeschrift erklärt wird, dass "Beschwerde eingelegt wird". Durch diese Erklärung wird der Beschwerdegegenstand dahin gehend festgelegt, dass die rechtlichen Wirkungen, die von der Entscheidung ausgehen, rückgängig gemacht werden sollen. Die konkrete Fassung, in der ein Patentinhaber sein Patent aufrecht erhalten wissen will, kann dann noch im Rahmen der Beschwerdebegründung nach Regel 99(2) EPÜ beantragt werden, die die Gründe für die Aufhebung bzw. den Umfang der beantragten Abänderung enthalten soll (T 1777/14). Letzteres hat die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung dargelegt. Die Erklärung des Patentinhabers, gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde einzulegen, bedeutet bei einem Widerruf des Patents als dem einzigen Ausspruch der Entscheidung jedenfalls die Erklärung, dass der Patentinhaber die vollständige, weil nur einheitlich mögliche Aufhebung dieser Entscheidung begehrt und damit beantragt. Damit enthält die Beschwerdeschrift das, was Regel 99(1)c) EPÜ nach ihrem Wortlaut für eine zulässige Beschwerde verlangt, nämlich die Festlegung des Beschwerdegegenstandes (T 912/08, T 624/09, T 689/09 und T 1188/09).

Die Beschwerde ist daher als zulässig anzusehen."

11.2 Mangels weiteren Vorbringens der Parteien zu diesem Einwand hat die Kammer keinen Grund, von ihrer vorläufigen Auffassung betreffend die Zulässigkeit der Beschwerde abzuweichen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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