T 0568/18 () of 25.3.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T056818.20210325
Datum der Entscheidung: 25 März 2021
Aktenzeichen: T 0568/18
Anmeldenummer: 10162710.7
IPC-Klasse: G01D 5/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Multiturn-Drehgeber
Name des Anmelders: Dr. Johannes Heidenhain GmbH
Name des Einsprechenden: SICK AG
Kammer: 3.4.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(2)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit (Hauptantrag: nein)
Zulassung von nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssätzen (erster und zweiter Hilfsantrag: nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0989/15
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) richtete ihre Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, mit der unter Berücksichtigung der von der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vorgenommenen Änderungen das europäische Patent Nr. 2295938 in geänderter Fassung gemäß dem Hauptantrag aufrechterhalten werden könnte.

Mit dem Einspruch war das Streitpatent in vollem Umfang im Hinblick auf die Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und fehlender erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) i.V.m. Artikel 54(1) und 56 EPÜ) angegriffen worden.

II. Folgende Dokumente wurden u.a. im erstinstanzlichen Verfahren herangezogen und von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren wieder aufgegriffen:

E1: DE 198 20 014 A1

D2: EP 0 995 974 B1.

In ihrer Entscheidung vertrat die Einspruchsabteilung u.a. die Auffassung, dass der Gegenstand der Ansprüche gemäß Hauptantrag gegenüber dem genannten Stand der Technik neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.

III. In einer Mitteilung vom 26. Mai 2020, die als Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung zu der Sache mit.

IV. Die mündliche Verhandlung fand am 25. März 2021 statt.

Während der mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdegegnerin Ansprüche gemäß einem 1. und einem 2. Hilfsantrag ein.

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) und, hilfsweise, die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß dem 1. oder 2. Hilfsantrag, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vom 25. März 2021.

Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

V. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet wie folgt:

"Multiturn-Drehgeber mit

- einer Singleturn-Einheit (10), umfassend einen Codeträger (11), der zur Erzeugung von Singleturn-Positionssignalen (SP) von einer Singleturn-Abtasteinrichtung (13) abtastbar ist und einer Singleturn-Auswerteeinheit (14) zur Verarbeitung der Singleturn-Positionssignale (SP) zu einem Singleturn-Codewort (SC), das die absolute Position einer Eingangswelle (W) innerhalb einer Umdrehung angibt,

- einer ersten Multiturn-Einheit (20, 40), umfassend wenigstens einen ersten Multiturn-Codeträger (11, 21), der zur Erzeugung von ersten Multiturn-Positionssignalen (MP1) von einer ersten Multiturn-Abtasteinrichtung (13, 23) abtastbar ist und einer ersten Multiturn-Auswerteeinheit (24) zur Verarbeitung der ersten Multiturn-Positionssignale (MP1) zu einem ersten Multiturn-Codewort (MC1), das die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle (W) angibt, wobei

- eine zweite Multiturn-Einheit (30) vorgesehen ist, umfassend wenigstens einen zweiten Multiturn-Codeträger (31.1, 31.2), der zur Erzeugung von zweiten Multiturn-Positionssignalen (MP2.1, MP2.2) von einer zweiten Multiturn-Abtasteinrichtung (33.1, 33.1 [sic]) abtastbar ist und einer zweiten Multiturn-Auswerteeinheit (24 [sic]) zur Verarbeitung der zweiten Multiturn-Positionssignale (MP2.1, MP2.2) zu einem zweiten Multiturn-Codewort (MC2), das ebenfalls die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle (W) angibt,

wobei die erste Multiturn-Einheit (20, 40) eine zählerbasierte Multiturn-Einheit ist und die zweite Multiturn-Einheit (30) eine getriebebasierte Multiturn-Einheit ist."

Anspruch 1 gemäß 1. Hilfsantrag unterscheidet sich vom Anspruch 1 gemäß Hauptantrag dadurch, dass das folgende Merkmal am Ende des dritten Unter-Absatzes des Anspruchs hinzugefügt wurde:

"so dass zwei unabhängig voneinander gebildete Multiturn-Codewörter (MC1, MC2) zur Verfügung stehen,"

Anspruch 1 gemäß 2. Hilfsantrag unterscheidet sich vom Anspruch 1 gemäß 1. Hilfsantrag dadurch, dass das folgende Merkmal am Ende des Anspruchs hinzugefügt wurde:

"und wobei eine Schnittstelleneinheit (320) vorgesehen ist, mit der das Singleturn-Codewort (SC), das erste Multiturn-Codewort (MC1), sowie das zweite Multiturn-Codewort (MC2), zur weiteren Auswertung zu einer Folgeelektronik (350) übertragbar sind."

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag - Neuheit und erfinderische Tätigkeit

2.1 Anspruch 1 gemäß Hauptantrag ist auf einen Multiturn-Drehgeber gerichtet, der im Wesentlichen eine Singleturn-Einheit und zwei Multiturn-Einheiten aufweist, wobei eine der Multiturn-Einheiten eine getriebebasierte und die andere eine zählerbasierte Multiturn-Einheit ist.

2.1.1 In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag gegenüber dem genannten Stand der Technik neu sei und er sich von dem Multiturn-Drehgeber der Druckschrift E1 nur dadurch unterscheide, dass der beanspruchte Multiturn-Drehgeber eine zählerbasierte und eine getriebebasierte Multiturn-Einheit aufweise, während der Multiturn-Drehgeber der Druckschrift E1 zwei getriebebasierte Multiturn-Einheiten (vgl. Fig. 1, Untersetzungsgetriebe 6 und 11, Codeträger 5 und 12, Abtasteinrichtungen 7 und 13, und Codewörter C2 und C3) aufweise.

Die Beschwerdeführerin hat diese Auffassung der Einspruchsabteilung nicht in Frage gestellt.

Die Beschwerdegegnerin hat der Auffassung der Einspruchsabteilung insofern widersprochen, als sie der Ansicht war, dass die zwei Untersetzungsgetriebe 6 und 11, die zwei Codeträger 5 und 12 und die zwei Abtasteinrichtungen 7 und 13 (vgl. Fig. 1 und die entsprechende Beschreibung) des Multiturn-Drehgebers der Druckschrift E1 nur eine zwei-stufige getriebebasierte Multiturn-Einheit und nicht zwei Multiturn-Einheiten im Sinne des Anspruchs 1 darstellten, sodass sich der beanspruchte Multiturn-Drehgeber von dem Multiturn-Drehgeber der Druckschrift E1 weiterhin durch die beanspruchte zweite Multiturn-Einheit unterscheide.

Auf diese Frage braucht die Kammer aber nicht näher einzugehen, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sich von dem Multiturn-Drehgeber der Druckschrift E1 bereits durch die zählerbasierte Multiturn-Einheit unterscheidet, und zwar unabhängig davon, ob die Druckschrift E1 neben einer Singleturn-Einheit noch zwei unterschiedliche getriebebasierte Multiturn-Einheiten im Sinne der beanspruchten Erfindung oder - wie von der Beschwerdegegnerin geltend gemacht - nur eine zwei-stufige getriebebasierte Multiturn-Einheit offenbart.

2.1.2 Daraus folgt, dass der Multiturn-Drehgeber des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag neu ist - und zwar unabhängig von der Frage der Auslegung des Anspruchs 1, vgl. Nr. 2.2 unten.

2.2 Anspruch 1 gemäß Hauptantrag erfordert, dass jede der zwei Multiturn-Einheiten "die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle angibt". Angesichts der Ausführungen der Beschwerdeführerin in der Beschwerdebegründung hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit - insbesondere angesichts ihres Vorbringens, wonach die beanspruchte Erfindung darin bestünde, die funktionale Sicherheit des Multiturn-Drehgebers durch Redundanz bzw. Diversität zu erhöhen - hat die Kammer in der Mitteilung, die als Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügt war, die Frage aufgeworfen, wie Anspruch 1 gemäß Hauptantrag auszulegen wäre. Insbesondere wies die Kammer darauf hin, dass aufgrund der Formulierung des Anspruchs und auch der Tatsache, dass der Anspruch offen ließe, was die Bereitstellung eines Multiturn-Drehgebers mit zwei unterschiedlichen Multiturn-Einheiten bewirken solle, sich dann die Frage stelle, ob Anspruch 1 in dem Sinne auszulegen sei, dass

- "der Multiturn-Drehgeber so eingerichtet ist, dass die zwei Multiturn-Einheiten gleichzeitig bzw. zusammen betrieben werden, sodass sie die den jeweiligen Multiturn-Codewörtern entsprechenden Anzahlen der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle simultan angeben" (im Folgenden Auslegung "A"),

oder ob er auch in dem Sinne ausgelegt werden könne, dass

- "der Multiturn-Drehgeber neben der Singleturn-Einheit zwei unterschiedliche Multiturn-Einheiten aufweist, die alternativ zueinander, aber nicht gleichzeitig, mit gleicher Wirkung einsetzbar sind" (im Folgenden Auslegung "B").

Während der mündlichen Verhandlung hat die Beschwerdegegnerin geltend gemacht, dass die erste Multiturn-Einheit des beanspruchten Multiturn-Drehgebers die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle angebe, und dass Anspruch 1 noch erfordere, dass die zweite Multiturn-Einheit "ebenfalls" die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle angebe, sodass die erste und die zweite Multiturn-Einheit simultan betrieben werden und beide die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle simultan angeben. Außerdem könne bei einer Betriebsumschaltung zwischen der getriebebasierten und der zählerbasierten Multiturn-Einheit gemäß der Auslegung "B" die Gesamtzahl der Umdrehungen der Eingangswelle nicht ohne Weiteres verfolgt werden. Die Erfindung sei auf die Vergleichbarkeit der von den beiden Multiturn-Einheiten angegebenen Umdrehungszahlen und damit auf die Auslegung "A" gerichtet.

Anspruch 1 ist aber auf eine Vorrichtung mit einer ersten Multiturn-Einheit gerichtet, "wobei eine zweite Multiturn-Einheit vorgesehen ist" und wobei die erste und die zweite Multiturn-Einheit jeweils u.a. eine Multiturn-Auswerteeinheit "zur Verarbeitung" von Multiturn-Positionssignalen zu einem Multiturn-Codewort, das "die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle (W) angibt". Die Tatsache, dass sowohl die erste als auch die zweite Multiturn-Einheit Mittel aufweisen, die geeignet sind, die Anzahl der zurückgelegten Umdrehungen der Eingangswelle anzugeben, schließt - wie von der Beschwerdeführerin während der mündlichen Verhandlung geltend gemacht - nicht zwingend aus, dass die zwei Multiturn-Einheiten so ausgestalten sind, dass sie nicht simultan, sondern alternativ zueinander mit gleicher Wirkung betrieben werden können. Außerdem ist dem Anspruch 1 kein Vergleich von Codewörtern, die von der ersten und der zweiten Multiturn-Einheit simultan generiert werden, zu entnehmen (vgl. abhängiger Anspruch 2), der die Auslegung "B" ausschließen könnte.

Daraus folgt nach Ansicht der Kammer, dass Anspruch 1 die Auslegung "B" nicht ausschließt bzw. dass Anspruch 1 - wie von der Beschwerdeführerin formuliert - Ausführungsformen umfasst, bei denen die zwei Multiturn-Einheiten alternativ zueinander, aber nicht gleichzeitig, mit gleicher Wirkung einsetzbar sind.

2.2.1 Unter Heranziehung der oben dargelegten Auslegung "B" des Anspruchs 1 unterscheidet sich der beanspruchte Gegenstand von dem Multiturn-Drehgeber der Druckschrift E1 - unabhängig davon, ob sie eine zwei-stufige getriebebasierte Multiturn-Einheit oder zwei unterschiedliche getriebebasierte Multiturn-Einheiten offenbart (vgl. Nr. 2.1.1 oben) - dadurch, dass der Multiturn-Drehgeber eine zusätzliche Multiturn-Einheit aufweist, die wiederum alle Merkmale der beanspruchten getriebebasierten Multiturn-Einheit aufweist, mit der einzigen Ausnahme, dass sie eine zählerbasierte und nicht eine getriebebasierte Multiturn-Einheit ist, wobei die getriebebasierte und die zählerbasierte Multiturn-Einheit der Auslegung "B" entsprechend alternativ zueinander, aber nicht gleichzeitig, mit gleicher Wirkung einsetzbar sind.

Es liegt aber - wie bereits von der Kammer in ihrer vorläufigen Auffassung in der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung ausgeführt - im Rahmen des normalen technischen Könnens des Fachmanns, neben der zwei-stufigen getriebebasierten Multiturn-Einheit bzw. neben den zwei getriebebasierten Multiturn-Einheiten der Druckschrift E1 (vgl. Nr. 2.1.1 oben) eine zusätzliche Multiturn-Einheit, die in einer anderen Weise betrieben wird, bereitzustellen, um sie alternativ zu der zwei-stufigen getriebebasierten Multiturn-Einheit bzw. zu den zwei getriebebasierten Multiturn-Einheiten den Umständen entsprechend - insbesondere bei Betriebsstörungen bzw. bei einer Fehlfunktion der getriebebasierten Multiturn-Einheit(en) - einzusetzen. Außerdem ist es zwischen den Parteien unstrittig, dass es zum allgemeinen Fachwissen des auf dem Gebiet der Multiturn-Drehgeber tätigen Fachmann gehörte - wie z.B. durch die Druckschrift D2 belegt (Absätze [0002] und [0003]), siehe auch Absatz [0003] der Patentschrift -, bei Multiturn-Drehgebern zählerbasierte statt getriebebasierte Multiturn-Einheiten einzusetzen.

Angesichts dieser Überlegungen ist die Kammer der Auffassung, dass bei der Auslegung "B" des Anspruchs 1 der beanspruchte Gegenstand lediglich eine naheliegende Aneinanderreihung zweier auf diesem Gebiet bekannter Multiturn-Einheiten darstellt, welche alternativ zueinander einsetzbar sind, ohne irgendeinen besonderen oder nicht vorhersehbaren technischen Effekt zu bewirken.

2.2.2 Somit beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit gegenüber der Druckschrift E1 unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns (Artikel 56 EPÜ) - und zwar unabhängig davon, ob die Druckschrift E1 zwei unterschiedliche getriebebasierte Multiturn-Einheiten oder nur eine zwei-stufige getriebebasierte Multiturn-Einheit offenbart.

3. Erster und zweiter Hilfsantrag - Artikel 13 (2) VOBK 2020

3.1 Die Ansprüche gemäß dem 1. und dem 2. Hilfsantrag wurden von der Beschwerdegegnerin erst während der mündlichen Verhandlung eingereicht, und zwar nachdem der Vorsitzende nach der entsprechenden Beratung die Auffassung der Kammer verkündet hatte, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit zu beruhen schien. Die Zulassung der entsprechenden geänderten Anspruchssätze in das Beschwerdeverfahren unterliegt daher Artikel 13 (2) VOBK 2020 (der im vorliegenden Fall gemäß Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 anzuwenden ist).

Gemäß Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Bei der Anwendung von Artikel 13 (2) VOBK 2020 können die Kriterien von Artikel 13 (1) VOBK 2020 herangezogen werden (siehe z.B. die Entscheidung T 989/15, Entscheidungsgründe, Nr. 16.2). Eines dieser Kriterien bezieht sich im Falle von Änderungen des Patents auf die Frage, ob der Pateninhaber aufgezeigt hat, dass die betreffenden Änderungen prima facie die im Beschwerdeverfahren bereits aufgeworfenen Fragen ausräumen und keinen Anlass zu neuen Einwänden geben.

3.1.1 Als Rechtfertigung für die verspätete Einreichung der geänderten Anspruchssätze machte die Beschwerdegegnerin geltend, dass die Frage der Auslegung des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (vgl. Nr. 2.2 oben) erst mit der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung der Kammer vom 26. Mai 2020 aufgeworfen worden sei und dass sie mit dieser Frage erst durch diese Mitteilung konfrontiert worden sei. Außerdem hieß es in der Mitteilung der Kammer explizit, dass es "Im Hinblick auf die Anberaumung der mündlichen Verhandlung [...] nicht notwendig [erschien], weitere schriftliche Stellungnahmen einzureichen", und die Beschwerdegegnerin habe deshalb keine Veranlassung gesehen, vor der mündlichen Verhandlung die beanspruchte Erfindung in dem Sinne zu präzisieren, dass beide Multiturn-Einheiten gleichzeitig ein Codewort lieferten.

Die Beschwerdeführerin erwiderte unter Verweis auf Artikel 13 (2) VOBK 2020, dass die Beschwerdegegnerin seit der Mitteilung der Kammer ca. 10 Monaten Zeit gehabt habe, auf die Frage der Auslegung des Anspruchs 1 zu reagieren und geänderte Anträge einzureichen, und dass eine solche Verspätung daher nicht gerechtfertigt sei. Außerdem führten die im Anspruch 1 gemäß dem 1. und dem 2. Hilfsantrag hinzugefügten Merkmalen nicht eindeutig dazu, dass die zwei Multiturn-Einheiten dieselbe Anzahl von Umdrehungen der Eingangswelle messen.

3.1.2 Die Kammer weist zuerst darauf hin, dass sowohl die im Anspruch 1 gemäß dem 1. Hilfsantrag als auch die im Anspruch 1 gemäß dem 2. Hilfsantrag hinzugefügten Merkmale einen Versuch darstellen, die Auslegung "B" des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag auszuschließen, und dass die Frage der Auslegung des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag erst in der Mitteilung der Kammer explizit thematisiert wurde. Diese aufgeworfene Frage stellte aber eine Präzisierung hinsichtlich der Ausführungen der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung zur technischen Wirkung der beanspruchten Erfindung dar (vgl. Nr. 2.2 oben, erster Absatz), und sofern bei dieser Frage neue Aspekte aufgeworfen wurden, hätte die Beschwerdegegnerin unverzüglich darauf reagieren müssen. In dieser Hinsicht ist festzuhalten, dass in der Mitteilung der Kammer es zwar hieß, dass es nicht notwendig war, weitere schriftliche Stellungnahme einzureichen; in der Mitteilung hieß es aber weiter: "In jedem Fall sollten solche schriftliche Stellungnahmen und ggf. Änderungen des Vorbringens unverzüglich eingereicht werden. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass es im Ermessen der Kammer steht, Änderungen des Vorbringens der Beteiligten zu berücksichtigen bzw. zuzulassen (siehe Artikel 13 VOBK 2020 (ABl. EPA 2019, A63))". Die Beschwerdegegnerin hat aber keinen triftigen Grund genannt, warum sie auf die in der Mitteilung der Kammer aufgeworfene Frage der Auslegung des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag (vgl. Nr. 2.2 oben, erster Absatz) und auf die ebenfalls in der Mitteilung dargelegte vorläufige Auffassung der Kammer hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit des Gegenstands dieses Anspruchs unter der Auslegung "B" (vgl. Nr. 2.2.1 oben, zweiter Absatz) erst nachdem sie sich in der mündlichen Verhandlung mit einer für sie negativen Meinung der Kammer konfrontiert sah und nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt reagiert hat. Die Kammer sieht auch keinen Grund, der die Einreichung der geänderten Ansprüchen gemäß dem 1. und dem 2. Hilfsantrag in einem so späten Verfahrensstadium rechtfertigen könnte.

Im Übrigen ist die Kammer nicht überzeugt, dass der geänderte Anspruch 1 gemäß dem 1. bzw. dem 2. Hilfsantrag so verstanden werden könnte, dass er nun zwingend die Auslegung "B" ausschließen würde. Die Kammer stimmt in dieser Hinsicht der Beschwerdeführerin darin zu, dass das neu im Anspruch 1 gemäß dem 1. Hilfsantrag eingeführte Merkmal ("so dass zwei unabhängig voneinander gebildete Multiturn-Codewörter (MC1, MC2) zur Verfügung stehen") nicht ausreichend ist, um die Auslegung "B" auszuschließen, weil Anspruch 1 auf eine Vorrichtung gerichtet ist und die Tatsache, dass die zwei von den zwei Multiturn-Einheiten gebildeten Codewörter "unabhängig voneinander" sind und "zur Verfügung stehen", nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie simultan generiert werden oder dass die zwei Multiturn-Einheiten - wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht - dieselbe Anzahl von Umdrehungen der Eingangswelle messen. Entsprechendes gilt für die zusätzlich im Anspruch 1 gemäß dem 2. Hilfsantrag eingeführten Merkmale, wonach "eine Schnittstelleneinheit (320) vorgesehen ist, mit der das Singleturn-Codewort (SC), das erste Multiturn-Codewort (MC1), sowie das zweite Multiturn-Codewort (MC2), zur weiteren Auswertung zu einer Folgeelektronik (350) übertragbar sind", weil die Tatsache, dass die von der zwei Multiturn-Einheiten gebildeten Codewörter zu einer Folgeelektronik "übertragbar" sind, nicht unbedingt bedeutet, dass die Codewörter der ersten und der zweiten Multiturn-Einheiten zwingend gleichzeitig generiert und zur Folgeelektronik übertragen werden oder dass die zwei Multiturn-Einheiten zwingend dieselbe Anzahl von Umdrehungen der Eingangswelle messen.

3.1.3 Aus diesen Gründen kam die Kammer zu dem Schluss, dass, sofern außergewöhnliche Umständen vorlagen, die die Einreichung der geänderten Ansprüche hätten rechtfertigen können, die Beschwerdegegnerin unverzüglich hätte reagieren müssen und nicht erst in einem so späten Verfahrensstadium wie die mündliche Verhandlung. Außerdem können die vorgenommenen Änderungen offensichtlich nicht dazu dienen, die Fragen, die bereits hinsichtlich Anspruch 1 gemäß Hauptantrag aufgeworfen wurden, eindeutig auszuräumen.

3.2 Aufgrund der obigen Erwägungen hat die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 dahingehend ausgeübt, den 1. und den 2. Hilfsantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.

4. Da keine gewährbaren Anspruchssätze vorliegen, ist das Streitpatent zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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