T 0467/18 () of 15.4.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T046718.20200415
Datum der Entscheidung: 15 April 2020
Aktenzeichen: T 0467/18
Anmeldenummer: 03006052.9
IPC-Klasse: A61C9/00
A61K6/00
A61K6/10
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Dentalset für die Sulkus-Retraktion
Name des Anmelders: Coltène/Whaledent AG
Name des Einsprechenden: ZHERMACK S.p.A.
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 53(c) (2007)
European Patent Convention Art 54 (2007)
European Patent Convention Art 56 (2007)
European Patent Convention Art 123(2) (2007)
European Patent Convention Art 123(3) (2007)
Schlagwörter: Ausnahmen von der Patentierbarkeit - Verfahren zur chirurgischen Behandlung
Ausnahmen von der Patentierbarkeit - (nein)
Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Änderungen - Kategoriewechsel
Änderungen - zulässig (ja)
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (nein)
Änderungen - unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/88
G 0001/04
G 0001/07
T 2450/09
T 2699/17
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Mit der am 29. November 2017 zur Post gegebenen Entscheidung wurde festgestellt, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß dem damals geltenden Hilfsantrag 6 das europäische Patent Nr. 1 459 701 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Übereinkommens genügen.

II. Anspruch 1 des der Aufrechterhaltung zugrunde liegenden Hilfsantrags 6 ist auf ein Dentalset geeignet für eine Sulkus-Retraktion gerichtet.

Dagegen war die Einspruchsabteilung zu der Ansicht gekommen, dass der Verfahrensanspruch des damaligen Hilfsantrags 5, der auf die Verwendung dieses Dentalsets gerichtet ist, ein chirurgisches Verfahren enthalte und daher gegen Artikel 53(c) EPÜ verstoße.

Anspruch 1 des damaligen Hilfsantrags 5 entspricht Anspruch 1 des Hilfsantrags 1a, den die Kammer 3.3.02 in einem ersten Beschwerdeverfahren (s. Entscheidung T 2450/09) als den Bestimmungen des Artikels 123(2) EPÜ entsprechend angesehen hatte (Punkt 4 der Entscheidungsgründe). Die Angelegenheit war von der Kammer 3.3.02 damals zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen worden (T 2450/09, Punkt 5 der Entscheidungsgründe und Punkt 2 der Entscheidungsformel), insbesondere zur Klärung der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand gemäß Artikel 53(c) EPÜ unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung G 1/07 als von der Patentierbarkeit ausgenommen anzusehen sei oder nicht.

III. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung hat die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt.

IV. Die Beschwerdeführerin ist die einzige Verfahrensbeteiligte, nachdem die Einsprechende mit Schreiben vom 20. September 2017 noch vor der mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren ihren Einspruch zurückgenommen hatte.

V. Die Beschwerdeführerin beantragt:

Die Aufrechterhaltung des Patents im Umfang des ehemaligen Hilfsantrags 2 (nun Hauptantrag, siehe Schreiben eingegangen am 27. März 2019) mit entsprechend angepasster Beschreibung (s. Schreiben vom 29. Januar 2020), hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (Schreiben eingegangen am 27. März 2019), falls dem neuen Hauptantrag wider Erwarten doch nicht im schriftlichen Verfahren stattgegeben werden kann.

Anspruch 1 dieses neuen Hauptantrags entspricht wiederum dem Anspruch, den die Kammer 3.3.02 in der Entscheidung T 2450/09 für Artikel 123(2) EPÜ-konform erachtet hatte (Anspruch 1 des damaligen Hilfsantrags 1a).

VI. Für die vorliegende Entscheidung haben die folgenden Dokumente eine Rolle gespielt

D1: Precisione e Contorno nella Ricostruzione Prostetica (1987)

mit Übersetzung, eingereicht von der Einsprechenden am 18. März 2008;

D1a: Übersetzung von Teilen der D1;

D2: US 4 677 139;

D3: US 5 676 543;

D4: Zaharia, A et al., "Modern technique for the gingival sulcus management using MagicFoamCord® and Comprecap anatomic®", CHDMBSC, Vol VI, No. 2, 6/2007, Seiten 64-68;

D5: Bundeszahnärztekammer - Delegationsrahmen der Bundeszahnärztekammer für Zahnmedizinische Fachangestellte (16. September 2009);

D6: Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde - (Zuletzt geändert durch Art. 7 G v. 23. Dezember 2016;

D8: "Stellungnahme zur klinischen Anwendung und Produktsicherheit von Magic Foam Cord"; Dumfahrt, H. and Steinmassl, P.;

D9: M. Mandikos, "Polyvinyl siloxane impression materials: An update on clinical use", Australian Dental Journal 1998, 43(6);

Im Anhang der D8 finden sich dabei folgende Artikel:

D8.1: Van der Velden, U: "Probing force and the relationship of the probe tip to the periodontal tissues", Journal of Clinical Periodontology: 1979: 6:106-114;

D8.2: Bennani, V. et al. "Comparison of pressure generated by cordless gingival displacement materials", The Journal of Prosthetic Dentistry, Vol. 112, Issue 2, Seiten 163-167;

D8.3: Phatale, S. et. al. "Effect of retraction materials on gingival health: A histopathological study", J Indian Soc Periodontol. 2010, 14(1):35-39;

D8.4: Al Hamad K. et al. "A clinical study on the effects of cordless and conventional retraction techniques on the gingival and periodontal health", J Clin Periodontol, 2008, 35 (12): 1053-1058.

VII. Anspruch 1 gemäß Hauptantrag lautet:

"Verwendung eines Dentalsets geeignet für eine Sulkus-Retraktion, enthaltend eine härtbare Abformmasse (3) für die Erstellung einer Abformung (8), insbesondere einer Gebiss-Abformung (8) und mindestens eine härtbare Silikonverbindung (5) dadurch gekennzeichnet, dass die Silikonverbindung (5) bei der Aushärtung eine Volumenexpansion von mindestens 20 %, vorzugsweise mindestens 35 % gegenüber dem ursprünglichen Volumen der nicht gehärteten Verbindung aufweist, wobei mit der härtbaren Abformmasse (3) zuerst ein Gebiss-Abdruck hergestellt wird, welcher nach dessen Aushärtung entnommen wird, in den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand das Silikonmaterial (5) aufgetragen wird, und der zuvor hergestellte Gebiss-Abdruck wieder auf die Zähne aufgesetzt wird, wodurch dieser Abdruck eine einseitige Begrenzung für die Expansion des Silikonmaterials (5) bildet, sodass die Expansion des Silikonmaterials (5) nur in Richtung des Sulkus erfolgen kann und dieser vom Zahnhals abgelöst wird".

VIII. Zur Stützung ihres Antrags hat die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Artikel 53(c) EPÜ

Bei dem Gegenstand des Verwendungsanspruchs handele es sich nicht um ein von der Patentierbarkeit ausgeschlossenes Verfahren gemäß Artikel 53(c) EPÜ.

Die Dokumente D4-D6 zeigten vielmehr, dass es bei der erfindungsgemäßen Sulkus-Retraktion um ein nicht-invasives, nicht-traumatisierendes Verfahren gehe, das im Kompetenzbereich des zahnmedizinischen Assistenzpersonals anzusiedeln sei. Wie auch der im Beschwerdeverfahren eingereichten D8 zu entnehmen sei, führten die fadenfreien Retraktionssysteme zu atraumatischen Druckverhältnissen im Sulkus, so dass deren Anwendung weder zu einer Verletzung des Saumepithels, noch zu einer Penetration in das darunterliegende Bindegewebe führe. Das Verfahren bewirke lediglich eine vorübergehende Öffnung des Sulkus. Gingivarezessionen seien im Rahmen der Anwendung des Verfahrens nicht aufgetreten. Das Verfahren erfordere zudem keine spezielle medizinische Expertise und werde in der Praxis zumeist von Arzthelfern/innen durchgeführt, so dass der Kern der Berufsausübung des Arztes nicht betroffen sei.

Zusammenfassend seien die Kriterien, welche gemäß G 1/07 zur Bejahung des chirurgischen Charakters eines Verfahrens führen sollen, bei dem erfindungsgemäßen Verfahren der Sulkusretraktion nicht erfüllt und der beanspruchte Gegenstand sei folglich nicht vom Patentschutz ausgeschlossen.

Neuheit

Das Dokument D1 offenbare ein Verfahren zur Sulkusretraktion, bei welchem ebenfalls eine expandierende Silikonverbindung zum Einsatz komme. Im Gegensatz zur vorliegenden Erfindung werde die vorab erstellte Abformung jedoch nachträglich derart bearbeitet, dass sie das Zahnfleisch gerade nicht mehr lateral umfasse. Dies habe zur Folge, dass das expandierende Silikonmaterial zwar einen geringen Druck auf das Zahnfleisch ausübe, welcher jedoch explizit nicht genüge, um den Sulkus zu weiten. Stattdessen müsse der Patient nach der Aushärtung des Materials abschließend nochmals Druck durch Zubeißen erzeugen und erst so den Sulkus weiten, was jedoch als sehr unangenehm empfunden werde.

Die Dokumente D2 und D3 offenbarten gar kein Dentalset mit einer härtbaren Abformmasse und einer unter Volumenexpansion aushärtenden Silikonmasse zur Weitung des Sulkus.

Der beanspruchte Gegenstand sei daher neu über die Offenbarung der Dokumente D1 bis D3.

Erfinderische Tätigkeit

Dokument D1 offenbare wie auch die vorliegende Erfindung ein Verfahren zur Sulkusretraktion und stelle damit den nächstliegenden Stand der Technik dar.

Obwohl die im Wesentlichen gleichen Komponenten eingesetzt würden, unterscheide sich das beanspruchte Verfahren in den oben erwähnten Punkten von der Lehre der D1.

Insbesondere sei keine Nachbearbeitung der ausgehärteten Abdruckmasse nötig und der Patient müsse sich auch nicht selbst Schmerzen zufügen, wie es bei der Sulkusretraktion gemäß D1 durch Zubeißen erforderlich sei. Die Sulkusretraktion erfolge vielmehr durch die Volumenexpansion der Silikonverbindung.

Die objektive Aufgabe könne somit darin gesehen werden, ein einfacheres, zeitsparenderes und angenehmeres Verfahren zur Sulkusretraktion zu entwickeln, das zudem größere Akzeptanz bei den Patienten finde.

Auf die erfinderische Lösung - nämlich die Expansion der Silikonverbindung effizient und unmittelbar zur Sulkus-Retraktion zu nutzen - gebe es im Stand der Technik keinerlei Hinweis. Die in D1 offenbarte Nachbearbeitung der ausgehärteten Abformmasse mache dies vielmehr unmöglich und lehre so von der Erfindung weg.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhe daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Entscheidungsgründe

1. Artikel 123(2)

In der Entscheidung T 2450/09, Punkt 4 der Entscheidungsgründe, hat die Kammer 3.3.02 festgestellt, dass der Patentanspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags den Bestimmungen des Artikels 123(2) EPÜ entspricht. Diese Feststellung entfaltet im vorliegenden Beschwerdeverfahren eine res iudicata Wirkung.

Der Gegenstand der abhängigen Ansprüche geht zurück auf die abhängigen Ansprüche 10-12 wie eingereicht.

Die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ sind damit erfüllt.

2. Artikel 123(3) EPÜ

Anspruch 1 wie erteilt ist gerichtet auf ein Dentalset geeignet für eine Sulkus-Retraktion. Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags beansprucht eine bestimmte Verwendung eines Dentalsets, welches alle Eigenschaften des Dentalsets gemäß Anspruch 1 wie erteilt aufweist. Der Kategoriewechsel führt daher nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs (vgl. G 2/88).

Die Erfordernisse des Artikels 123(3) EPÜ sind somit erfüllt.

3. Artikel 53(c) EPÜ

3.1 Die Kammer 3.2.08 hat sich (in anderer Zusammensetzung) in Sachen der T 2699/17 bereits mit einem Verfahren zur Sulkusretraktion auseinandergesetzt, bei dem die Retraktion des Sulkus durch Expansion eines Elastomermaterials in einem begrenzten Raum bewirkt wird. Dabei wurden die auch im vorliegenden Fall vorgebrachten Beweismittel D4, D8 und D8.1-D8.4 ausführlich gewürdigt (dort bezeichnet als D1 und D2.1-D2.5, siehe T 2699/17, Punkt 1 der Entscheidungsgründe). Die Kammer sieht keinen Grund bei dem nun beanspruchten Verfahren von der in T 2699/17 getroffenen Einschätzung abzuweichen, wonach ein solches Verfahren nicht aufgrund von Artikel 53(c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen ist.

Die die gegenteilige Ansicht der Einspruchsabteilung begründenden Argumente werden nachfolgend diskutiert:

3.2 Die Einspruchsabteilung argumentiert zunächst, die Patentinhaberin habe keinerlei Beweise vorgelegt, dass das von ihr beanspruchte Verfahren inhärent sicher sei. Diesem Vorwurf hat die Beschwerdeführerin spätestens durch Einreichung der D8 Rechnung getragen.

3.3 In D8 berichten zum einen der geschäftsführende Oberarzt und ein "Senior Scientist" der Universitätsklinik für Zahnersatz und Zahnerhaltung in Innsbruck über eigene klinische Erfahrungen mit dem Produkt Magic Foam Cord. Zum anderen werden mehrere diesbezüglich relevante wissenschaftliche Arbeiten diskutiert. Bei Magic Foam Cord handelt es sich dabei um eine härtbare Silikonverbindung, wie sie bei dem in Anspruch 1 definierten Verfahren verwendet wird.

Gemäß den eigenen klinischen Erfahrungen der Autoren der D8 habe Magic Foam Cord im gesamten Beobachtungszeitraum niemals eine Blutung verursacht. Auch Gingivarezessionen, welche nach der Applikation von Retraktionsfäden häufiger beobachtet würden, seien im Rahmen der Anwendung von Magic Foam Cord nicht aufgetreten (D8, Seite 2, vorletzter Absatz).

3.4 Die in D8 zitierten wissenschaftlichen Arbeiten zeigen weiterhin, dass der bei Einbringen und Expansion des Materials Magic Foam Cord auftretende Druck mit im Mittel 9,0 bzw. 32,8 kPa (D8.2, Benani et al., Tabelle 1) um etwa zwei Größenordnungen unter dem Druck von 2400 kPa liegt, der in einer anderen Arbeit zum Sondieren der paradontalen Taschen ohne Verletzung der paradontalen Bindegewebsfasern empfohlen wird (Van der Velden, D8.1, Seite 112, linke Spalte, 2. Absatz: 0.75N bei 0.63 mm Sondendurchmesser entspricht etwa 2400 kPa; siehe auch D8.2, Seite 164, erster Absatz). Es ist daher aus anatomisch/physiologischer Sicht überzeugend, dass das untersuchte expandierende Material bei seiner Expansion keine Schäden am paradontalen Bindegewebe erzeugt. Aufgrund des großen Druckunterschieds von etwa zwei Größenordnungen ist zudem eine Extrapolation auf andere vom Anspruch umfasste expandierende Materialien gerechtfertigt.

3.5 Diese anatomischen Beobachtungen finden Bestätigung in weiteren klinischen Studien. So wurden in D8.3 (Phatale et al.) Zähne, an denen eine Sulkusretraktion mit Magic Foam Cord durchgeführt worden war, nach ihrer Extraktion histopathologisch untersucht (die Zähne wiesen keine paradontalen Erkrankung auf, sondern mussten aus anderen Gründen gezogen werden). Es zeigte sich, dass die unter Verwendung des Material Magic Foam Cord durchgeführte Sulkusretraktion das Periodontium (D8.3, Abstract, Conclusion) und in den meisten Fällen auch das Saumepithel intakt lässt (D8.3, discussion, 3. Absatz). Untersuchungen an gesunden Probanden (D8.4, Al Hamad et al, Material and Methods, erster Absatz) bestätigen ebenfalls die genannten histopathologischen Befunde: Die Taschen-Sondierungstiefe, und damit die Verbindung der paradontalen Fasern zum Zahn blieb bei einer Sulkus-Retraktion mit dem Material Magic Foam Cord im wesentlichen unverändert (D8.4, Tabelle 3, "PD" und p. 1056, linke Spalte, Zielen 6-9). Es zeigte sich zwar eine gingivale Irritation, die sich jedoch nach 7 Tagen vollständig zurückbildete (Tabelle 3, "Gingival Index"). Blutungen traten bei Verwendung von Magic Foam Cord nicht auf.

3.6 Angesichts der vorgelegten Nachweise ist die Kammer der Ansicht, dass die beanspruchte Verwendung lediglich einen minimal invasiven Schritt aufweist, der keinen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellt und dessen Durchführung nicht mit einem wesentlichen Gesundheitsrisiko verbunden ist.

3.7 Als Beispiel für ein besonderes Risiko hatte die Einspruchsabteilung auf die Offenbarung der D4 hingewiesen (Entscheidung, Seite 14, dritter Absatz). Gemäß D4, Seite 65, linke Spalte, Zeilen 10-15 und Seite 66, linke Spalte, die zwei ersten Absätze unter Figur 4, sei es wesentlich, dass kein Rest von "FoamCord" Material im Sulkus verbleibe. Der Zahnfleisch-Sulkus sei hoch empfindlich und solches Restmaterial könne zu Paradontalerkrankungen führen.

D4, Seite 65, Zeilen 10-15 weist in der Tat darauf hin, dass die empfindliche Gingiva nicht derart traumatisiert werden darf, dass daraus eine anhaltende Retraktion resultiere. Dieser Hinweis steht jedoch in Zusammenhang mit den bislang im Stand der Technik verwendeten Techniken, insbesondere mit der chemisch-mechanischen Methode (Einlegen eines Retraktionsfadens mit vasokonstriktiv wirkendem Agens). Dem wird Magic Foam Cord als neue Methode gegenübergestellt, die gerade nicht traumatisierend auf die Gingiva wirkt (siehe D4, Results und Diskussion).

Die weiter genannte Passage (die zwei ersten Absätze unter Figur 4) weisen darauf hin, dass das Abbinden des Materials abgewartet werden muss, bevor anschließend ("after proper setting") abgebundenes Material und Begrenzung in einem Stück entfernt werden können. Ein expliziter Hinweis auf eine Gefahr von Parodontalerkrankungen durch im Sulkus verbleibendes Material ist hier nicht zu finden. Vielmehr ist bei mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführter Anwendung (vgl. G 1/07, Leitsatz 1) von einer Entfernung in einem Stück auszugehen und damit von keinem durch im Sulkus verbleibenden Material verursachten Gesundheitsrisiko.

Im letzten Absatz von Punkt 6.2 der Entscheidungsgründe verweist die Einspruchsabteilung auf ihrer Ansicht nach mit der Sulkus-Retraktion verbundene Risiken, wie die dauerhafte Ablösung der Gingiva, die Entzündung paradontaler Taschen und weitere Folgen bis hin zum Zahnverlust. Derartige Nebenwirkungen sind zwar für die "klassischen" Methoden zur Sulkusretraktion bekannt (vgl. D8.3, Seite 2, 3. Absatz oder D4, Seite 65, Zeilen 12-16), für das beanspruchte Verfahren bleibt ihr Auftreten jedoch eine unbewiesene Behauptung. Dagegen legt die Beschwerdeführerin mit D8 und den dort diskutierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen D8.1-D8.4 überzeugende Belege vor, dass bei dem beanspruchten Verfahren derartige Gesundheitsrisiken gerade nicht beobachtet werden.

3.8 Delegierbarkeit / Kerntätigkeit des Arztberufs

Sowohl die Entscheidung G 1/04 (Entscheidungsgründe 6.3) als auch die Entscheidung G 1/07 (Entscheidungsgründe 3.4.1.) weisen explizit darauf hin, dass eine Ausnahme eines bestimmten Verfahrens von der Patentierbarkeit nicht davon abhängen kann, wer dieses Verfahren ausführt. Die Delegierbarkeit eines Verfahrens kann somit für die Beurteilung, ob ein bestimmtes Verfahren von der Patentierbarkeit auszunehmen ist, nicht allein entscheidend sein. Sie mag allenfalls einen Hinweis darstellen, ob ein bestimmtes Verfahren zur "Kerntätigkeit des Arztberufs" zu rechnen ist.

Gemäß G 1/07 soll nämlich die Definition des Begriffs "chirurgische Behandlung" die Arten von Eingriffen abdecken, die "die Kerntätigkeit des Arztberufs ausmachen, d.h. Eingriffe, für die der Berufstand der Ärzte speziell ausgebildet wird und für die Ärzte besondere Verantwortung übernehmen (Punkt 3.4.2.3 der Entscheidungsgründe)".

Die Sulkusretraktion ist jedoch lediglich ein vorbereitender Schritt zur Herstellung einer Abformung, typischerweise zur Herstellung einer Krone. Das Verfahren gehört damit in den Bereich der Herstellung von Zahnersatz und nicht zum eigentlichen Kernbereich der zahnärztlichen Tätigkeit.

Auch erfordert die beanspruchte Verwendung nicht mehr als das Aufbringen des expandierenden Materials auf den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand, nicht aber eine Injektion in den Sulkus. Die eigentliche Retraktion erfolgt selbst-regulierend, bestimmt durch die Expansion des Materials und den von der gegenüberliegenden Zahnreihe des Patienten gehaltenen Abdruck als Begrenzung. Die durchführende Person greift weder aktiv in den Retraktionsvorgang ein, noch kann sie überhaupt beurteilen, wie die Expansion und die durch sie bewirkte Retraktion vonstattengehen, da sich das expandierende Material im Inneren des die Expansion begrenzenden Abdrucks befindet. Es handelt sich somit nicht um einen der Eingriffe, "für die der Berufsstand der Ärzte speziell ausgebildet wird und für die Ärzte besondere Verantwortung übernehmen".

Im Übrigen sind gemäß G 1/07, Entscheidungsgründe 3.4.2.3 zweiter Absatz mit "Eingriffen, die die Kerntätigkeit des Arztberufs ausmachen" gerade "physische Eingriffe am Körper" gemeint, "deren Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und die, selbst wenn sie mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werden, mit einem Gesundheitsrisiko verbunden sind". Eine solche engere Auslegung "schließt Verfahren vom Anwendungsbereich der Ausnahmebestimmung aus, die unkritisch sind und nur einen minimalen Eingriff und kein wesentliches Gesundheitsrisiko umfassen, wenn sie mit der erforderlichen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werden".

Aus dem Kontext in Punkt 3.4.2.4 der G 1/07 ergibt sich somit, dass das Kriterium "Eingriffe, die die Kerntätigkeit des Arztberufs ausmachen" nicht als eigenständiges, unabhängiges Kriterium für einen Ausschluss von der Patentierbarkeit als chirurgisches Verfahren zu verstehen ist. Um einen solchen Ausschluss zu rechtfertigen muss der Eingriff, auch wenn er zu der Art von Eingriffen zu rechnen ist, die die Kerntätigkeit des Arztberufs ausmachen, mit einem wesentlichen Gesundheitsrisiko verbunden sein. Anders ausgedrückt, er muss noch immer einen "chirurgischen Charakter" aufweisen um ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers im Sinne des Artikels 53(c) EPÜ zu sein. Eingriffe die unkritisch sind und nur einen minimalen Eingriff und kein wesentliches Gesundheitsrisiko umfassen, wenn sie mit der erforderlichen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werden, sollen gemäß G 1/07 gerade nicht davon umfasst sein.

Nachdem für das beanspruchte Verfahren in D8 und den dort zitierten Arbeiten D8.1- 8.4 belegt wird, dass kein wesentliches Gesundheitsrisiko gegeben ist, ist das Verfahren nicht als chirurgisches Verfahren von der Patentierbarkeit auszuschließen.

Als lediglich vorbereitender Schritt zu Herstellung einer Abformung ist das Verfahren auch nicht als Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers anzusehen.

4. Neuheit

4.1 D1 offenbart das Herstellen einer Abformung und das Aufbringen von Silikonmaterial in den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand, mit Wiederaufsetzen des hergestellten Gebiss-Abdrucks auf die Zähne.

Allerdings wird der Gebissabdruck vorher so bearbeitet, dass seitlich im Abdruck Platz geschaffen wird und beim Wiederaufsetzen keine Kräfte durch die Abformung auf den Sulkus ausgeübt werden (D1a Seite 2, vorletzter Absatz, insbesondere Zeile 20). Das Silikonmaterial expandiert nach der Bearbeitung der Abformung auch bei dem in D1 beschriebenen Verfahren, es kann aber - im Gegensatz zur Erfindung - nicht nur in Richtung des Sulkus expandieren, sondern auch in die vorher geschaffene Aussparung der Abformung. Dabei wird durch die Expansion des Silikonmaterials explizit keine Retraktion des Sulkus bewirkt (D1, Übersetzung eingereicht am 18. März 2008, Seite 2, Zeilen 18-21: "...during its volumetric expansion, it [i.e. the polymerizing Gengifoam material] exerts a small thrust onto tissues, though not to a sufficient extent to cause an appreciable shift of gingival margins"). Die Retraktion des Sulkus wird vielmehr erst nach dem Expandieren und des Silikonmaterials durch Zubeißen erzeugt (das Expandieren schafft nur eine möglichst gut passende Abformung), siehe D1, Übersetzung eingereicht am 18. März 2008, Seite 8, Zeile 21- Seite 9, Zeile 13).

Das Verfahren nach D1 unterscheidet sich daher von dem beanspruchten Verfahren, bei dem der Abdruck eine einseitige Begrenzung für die Expansion des Silikonmaterials bildet, so dass die Expansion des Silikonmaterials nur in Richtung des Sulkus erfolgen kann und dieser vom Zahnhals abgelöst wird.

4.2 Das Verfahren gemäß D2 benutzt ebenfalls eine expandierende Silikonverbindung ("foam", Figure 6, 7, No. 9), allerdings ohne dass zuerst mit einer härtbaren Abformmasse ein Gebiss-Abdruck hergestellt wird, welcher zunächst entnommen und erst nach Auftragen des expandierenden Materials wieder auf die Zähne aufgesetzt wird, um dann als einseitige Begrenzung für die Expansion zu wirken. Stattdessen wird eine "appliance" (Spalte 6, Zeilen 30ff), ein "dental spatula" (Spalte 6, letzter Satz) oder "carrier 20" (Spalte 7, 2. Absatz bzw. Spalte 2, Zeilen 56-65), verwendet um das expandierende Material am Ort zu halten und mittels Finger oder gegenüberliegender Zahnreihe Gegendruck zu erzeugen, was dann zu der gewünschten Sulkusretraktion führt (Spalte 7, Zeilen 19-27).

4.3 Das Verfahren zur Sulkusretraktion gemäß D3 verwendet eine Abformung und ein "flowable material". Im Gegensatz zur Erfindung wird das "flowable material", z.B. Vinyl Polysiloxan nicht auf den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand aufgetragen sondern in die Abformung. Außerdem ist zwar ein Aushärten des "flowable materials" offenbart, nicht jedoch eine Volumenexpansion des Materials von mindestens 20%. Vielmehr ist das genannte Beispielmaterial Vinyl Polysiloxan für eine minimale Dimensionsveränderung während der Polymerisation bekannt (s. D9, Seite 428, rechte Spalte, zweiter Absatz: "There is minimal dimensional change during this polymerization...."). Die Sulkusretraktion kommt im wesentlich durch im "flowable material" vorhandenes Adstringens zu Stande, das durch Gewebskontraktion zu einem Zurückziehen des Sulkus vom Zahnhals führt.

4.4 Somit ist keines der Dokumente D1 bis D3 neuheitsschädlich für das beanspruchte Verfahren.

5. Erfinderische Tätigkeit

5.1 D3 als nächstliegender Stand der Technik in Verbindung mit der Lehre der D2 (vgl. Einspruchsschrift, Punkt 4)

Dokument D3 wird im Patent selbst (Paragraph [0003]) als nächstliegender Stand der Technik gewürdigt.

Wie unter Punkt 4.3 diskutiert unterscheidet sich das beanspruchte Verfahren von dem in D3 offenbarten darin, dass das härtbare Material zwar aushärtet, aber nicht wie beansprucht eine Volumenexpansion von mindestens 20% gegenüber dem ursprünglichen Volumen aufweist, und zudem in die Abformung eingebracht wird und nicht auf den Grenzbereich zwischen Zahn und Zahnfleischrand aufgetragen wird.

Gemäß Paragraph [0004] der Patentschrift vermeidet das direkte Auftragen des härtbaren Materials ein Verschmieren beim Einsetzen der Abformung und das Material lässt sich am Grenzbereich besser mengenmäßig dosieren als in einer Abformung.

Die Aufgabe der Erfindung kann daher - in Anlehnung an die im Patent, Paragraph [0005] formulierte Aufgabe - darin gesehen werden, die Nachteile der Auftragung des härtbaren Materials in der Abformung zu vermeiden und eine alternative Methode zur Freilegung des Zahnhalses bereitzustellen.

D2 offenbart in der Tat eine alternative Methode zur Freilegung des Zahnhalses, für die ein expandierendes Material Verwendung findet. Aufgrund der großen Expansionsrate von mindestens 150% gibt es jedoch keinen Grund das Material wie in D3 durch eine zuvor umständlich herzustellende Abformung der Zahnreihe in seiner Ausdehnung zu begrenzen. Ein "spatula" oder "carrier" wie in D2 beschrieben genügt. Der Fachmann würde daher auf der Suche nach einer alternativen Methode zur Freilegung des Zahnhalses möglicherweise die Lehre der D2 anwenden, gelangte allerdings so zu einer Methode ohne Verwendung einer vorher mittels einer härtbaren Abformmasse erstellten Abformung. Die gegenteilige Argumentation in der Einspruchsschrift beruht auf einer rückschauenden Betrachtungsweise.

5.2 D1 als nächstliegender Stand der Technik

Das in Punkt 4.1 genannte Unterscheidungsmerkmal, wonach der Gebiss-Abdruck eine einseitige Begrenzung für die Expansion des Silikonmaterials bildet, so dass die Expansion des Silikonmaterials nur in Richtung des Sulkus erfolgen kann und dieser vom Zahnhals abgelöst wird, findet sich weder in D2 noch in D3.

Wie in Punkt 5.1 diskutiert findet in D2 kein Abdruck als Begrenzung des expandierenden Materials Verwendung sondern ein "carrier" oder eine "appliance". Eine Kombination mit der Lehre der D2 kann daher nicht zur Erfindung gemäß Anspruch 1 führen. Genauso führt eine Kombination mit der Lehre der D3 nicht zur Erfindung, da dort keine härtbare Silikonverbindung mit einer Volumenexpansion von mindestens 20% offenbart ist.

Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher auch auf einer erfinderischen Tätigkeit über die Kombination der Lehre der D1 mit der D2 oder der D3.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

Ansprüche: Anspruch 1-4 gemäß Hauptantrag, eingereicht als Hilfsantrag 2 mit der Beschwerdeschrift datiert 26. Januar 2017 [sic], eingegangen am 30. Januar 2018;

Beschreibung: Paragraphen [0002]-[0005], [0007], [0008], [0010]-[0012], [0014]-[0022] wie erteilt;

Paragraphen [0001], [0006], [0009] and [0013] eingereicht mit Schreiben datiert 29. Januar 2020.

Abbildungen: 1a) - 1d), wie erteilt.

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