T 0646/17 () of 21.7.2021

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2021:T064617.20210721
Datum der Entscheidung: 21 Juli 2021
Aktenzeichen: T 0646/17
Anmeldenummer: 09777131.5
IPC-Klasse: B43K 19/02
B43K 19/16
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Schreib-, Zeichen-, Mal- oder Kosmetikstift
Name des Anmelders: STAEDTLER Mars GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: Société BIC
Kammer: 3.2.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 123(2)
RPBA2020 Art 013(2)
Schlagwörter: Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Änderungen - Zwischenverallgemeinerung
Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein)
Änderung nach Ladung - berücksichtigt (nein)
Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0711/90
T 0390/08
T 0136/16
T 1187/16
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende hat gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, dass das europäische Patent Nr. 2 313 282 (nachfolgend als "das Patent" bezeichnet) in der Fassung des der Einspruchsabteilung vorliegenden Hilfsantrags 2 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) genügen, Beschwerde eingelegt.

II. Erstmals im Beschwerdeverfahren wurden von der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) die folgenden Dokumente P1 bis P5 vorgelegt:

P1: Auszug aus Römpp Chemie Lexikon, 9. Auflage 1990, zum Begriff "Inkompatibilität"

P2: "Ein mehrschichtiger Ansatz", Online-Broschüre der Raumedic AG, veröffentlicht auf Raumedic.com

P3: Auszug aus "Duden", 2. Auflage 1985, zum Begriff "koppeln"

P4: Auszug aus "Dictionnaire Moderne Français-Allemand", zum französischen Begriff "incompatible"

P5: Auszug aus "Pons Wörterbuch Englisch-Deutsch", 1. Auflage 1983, zum englischen Begriff "incompatible"

III. Am 25. Januar 2021 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung.

IV. Die Kammer erließ am 5. März 2021 eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) der am 1. Januar 2020 in Kraft getretenen Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020, ABl. EPA 2021, A35).

V. Mit Schreiben vom 10. Juni 2021 reichte die Beschwerdegegnerin geänderte Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen 1 und 2 ein.

VI. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 21. Juli 2021 als Videokonferenz statt.

VII. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents. Sie beantragte auch, die mit Schreiben vom 10. Juni 2021 von der Beschwerdegegnerin eingereichten Hilfsanträge 1 und 2 und die Dokumente P1 bis P5 nicht in das Verfahren zuzulassen

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und hilfsweise die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des europäischen Patents in geänderter Fassung gemäß einem der Hilfsanträge 1 oder 2, eingereicht mit Schreiben vom 10. Juni 2021.

VIII. Anspruchsfassungen

Der Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 lautet wie folgt (die von der Kammer verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern angegeben):

"Schreib-, Zeichen-, Mal- oder Kosmetikstift [Merkmal 1], umfassend eine farbabgebende polymergebundene Mine [Merkmal 2] und einen polymergebundenen Holzersatzwerkstoff [Merkmal 3], wobei der Holzersatzwerkstoff die Mine der Länge nach zumindest teilweise bedeckt oder umgibt [Merkmal 4], wobei der Holzersatzwerkstoff

15 - 30 Gew.-% mindestens eines Polyolefins,

50 - 80 Gew.-% mindestens eines organischen Füllstoffs,0,5 - 5 Gew.-% mindestens einen [sic] Haftvermittlers und 1 - 30 Gew.-% mindestens eines Waches [sic] umfasst [Merkmal 5], und wobei zwischen der Mine und dem Holzersatzwerkstoff mindestens eine Haftvermittlerschicht angeordnet ist [Merkmal 6], wobei die Mine und der Holzersatzwerkstoff jeweils mindestens ein Polymer aufweisen [Merkmal 7], wobei das mindestens eine Polymer in der Mine zu dem mindestens einen weiteren Polymer im Holzersatzwerkstoff inkompatibel ist [Merkmal 8] derart, dass das mindestens eine Polymer der Mine und das mindestens eine weitere Polymer des Holzersatzwerkstoffs keine Verbindung miteinander eingehen [Merkmal 9], und dass die mindestens eine Haftvermittlerschicht einerseits an das mindestens eine Polymer in der Mine und andererseits an das mindestens eine weitere Polymer im Holzersatzwerkstoff ankoppelt [Merkmal 10] derart, dass die mindestens eine Haftvermittlerschicht einerseits mit dem mindestens einen Polymer der Mine und andererseits mit dem mindestens einen weiteren Polymer des Holzersatzwerkstoffs eine feste und permanente Verbindung eingeht [Merkmal 11], und wobei die mindestens eine Haftvermittlerschicht aus einem Styrol-Butadien-Copolymer und/oder einem Styrol/Ethenbuten/Styrol-Block-Copolymerisat ausgebildet ist [Merkmal 12]."

Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich von Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 im Wesentlichen dadurch, dass das Merkmal 5 durch folgendes Merkmal ersetzt ist:

"wobei der Holzersatzwerkstoff aus

15 - 30 Gew.-% mindestens eines Polyolefins,

50 - 80 Gew.-% mindestens eines organischen Füllstoffs,0 - 20 Gew.-% mindestens eines anorganischen Füllstoffs,

0,5 - 5 Gew.-% mindestens eines Haftvermittlers,

1 - 30 Gew.-% mindestens eines Wachses,

0 - 10 Gew.-% mindestens eines Farbpigments, und

0 - 10 Gew.-% mindestens eines Additivs besteht".

Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 im Wesentlichen dadurch, dass das mindestens eine Polymer in der Mine aus Polystyrol oder SAN gebildet ist.

IX. Die Beteiligten haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

a) Der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende Hilfsantrag 2

i) Beschwerdeführerin

Der Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 erfülle nach Ansicht der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Merkmals 5 nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ. Zwar sei in Anspruch 6 und auf Seite 6, dritter Absatz, der veröffentlichten ursprünglichen Anmeldung, auf welcher das Patent beruhe, die Zusammensetzung des Holzersatzwerkstoffs erwähnt. Dort seien aber zusätzlich zu den in Merkmal 5 angeführten Bestandteilen auch ein anorganischer Füllstoff, ein Farbpigment und ein Additiv sowie entsprechende Mengenangaben genannt, die nicht in den Anspruch 1 aufgenommen worden seien. Darüber hinaus sei an den zitierten Stellen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung angegeben, dass der Holzersatzwerkstoff aus den dort genannten Bestandteilen bestehe, so dass die Beimischung anderer Bestandteile ausgeschlossen sei. Im Gegensatz hierzu werde in Merkmal 5 der Begriff "umfassen" verwendet, so dass der Holzersatzwerkstoff noch weitere Inhaltsstoffe beinhalten könne. Das Merkmal 5 sei den genannten Passagen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung daher nicht zu entnehmen gewesen.

Die Beschwerdeführerin macht ferner geltend, dass der Anspruch 1 auch hinsichtlich der Merkmale 9 und 11 nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle. Ihrer Ansicht nach seien hinsichtlich dieses Anspruchs ferner Artikel 84, 83, 52 (1) und 56 EPÜ verletzt.

ii) Beschwerdegegnerin

Die Beschwerdegegnerin sieht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ hingegen als erfüllt an. Sie führt bezüglich des Merkmals 5 aus, dass die Zusammensetzung des Holzersatzes gemäß ursprünglicher Beschreibung und ursprünglichem Anspruch 4 [sic] vier zwingend vorhandene Bestandteile (Polyolefin, organischer Füllstoff, Haftvermittler und Wachs) sowie fakultativ vorhandene Bestandteile (organischer Füllstoff, Farbpigmente und Additive) beinhalte. Die nicht in Merkmal 5 aufgenommenen Bestandteile seien somit keine zwingend vorhandenen Bestandteile, so dass ihre Aufnahme in den Anspruch 1 im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erforderlich sei.

Ferner stelle die diesbezüglich von der Einspruchsabteilung (siehe Punkt VII der Entscheidungsgründe) zitierte Textstelle auf Seite 6, dritter Absatz, der veröffentlichten ursprünglichen Anmeldung eine Auflistung von Merkmalen und keine Beschreibung einer spezifischen Ausführungsform dar.

Die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ seien auch hinsichtlich der Merkmale 9 und 11 des Anspruchs 1 erfüllt. Es lägen auch keine Verletzungen der Artikel 84, 83, 52 (1) und 56 EPÜ vor.

b) Hilfsanträge 1 und 2

i) Beschwerdeführerin

Die Hilfsanträge 1 und 2 seien von der Beschwerdegegnerin verspätet vorgelegt worden. Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 blieben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte habe stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorlägen. Im vorliegenden Fall lägen jedoch keine außergewöhnlichen Umstände vor. Die Einwände nach Artikel 123 (2), 83 und 56 EPÜ seien bereits im Einspruchsverfahren und in der Beschwerdebegründung vom 24. April 2017 erhoben worden. Die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 enthalte keine darüber hinausgehenden Einwände oder Argumente.

Nach regelmäßiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern könne eine Mitteilung der Kammer, die lediglich die Argumente der Beschwerdeführerin wiederhole, nicht die Vorlage neuer Anträge rechtfertigen und begründe insbesondere keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne von Artikel 13 (2) VOBK 2020. Die Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 habe auf Argumenten beruht, die bereits in der Beschwerdebegründung enthalten gewesen seien. Die Beschwerdegegnerin hätte damit rechnen müssen, dass die Kammer eine andere Auffassung als die Einspruchsabteilung vertreten könne (siehe T 42/17).

Schließlich seien die Hilfsanträge 1 und 2 auch nicht frühzeitig nach Erhalt der vorläufigen Stellungnahme der Beschwerdekammer vorgelegt worden. Tatsächlich sei die vorläufige Stellungnahme der Beschwerdekammer am 5. März 2021 versendet worden, während die Hilfsanträge 1 und 2 erst am 10. Juni 2021, also mehr als drei Monate nach Erhalt der vorläufigen Stellungnahme und nur etwa einen Monat vor der mündlichen Verhandlung, eingereicht worden seien. Die Beschwerdegegnerin habe auch nicht ausgeführt, auf welche konkreten Einwände sie mit der Vorlage des Hilfsantrags 2 reagiere.

ii) Beschwerdegegnerin

Die Einspruchsabteilung habe die Auffassung vertreten, dass der ihr vorliegende Hilfsantrag 2 die Erfordernisse des EPÜ hinsichtlich Neuheit, erfinderischer Tätigkeit, Ausführbarkeit und Artikel 123 (2) EPÜ erfülle. Die Beschwerdegegnerin habe auf die Richtigkeit dieser Entscheidung vertraut, so dass es für sie weder während des Einspruchsverfahrens noch im Beschwerdeverfahren bis zum Erhalt der Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 eine Veranlassung gegeben habe, von der Nichtgewährbarkeit dieses Antrags auszugehen. Erst durch die Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020, mit der die vorläufige Meinung der Kammer übersandt worden sei, habe die Beschwerdegegnerin die Information erhalten, dass die Kammer Bedenken hinsichtlich des im Einspruchsverfahren aufrechterhaltenen Anspruchssatzes habe. Um diesen Bedenken Rechnung zu tragen, werde die Zulassung der Hilfsanträge 1 und 2 in das Verfahren beantragt. Durch die Entwicklungen während des Verfahrens, insbesondere durch den Erhalt der vorläufigen Meinung der Beschwerdekammer, die von der Auffassung der Einspruchsabteilung abweiche, gebe es daher stichhaltige Gründe für die Einreichung dieser Anträge.

Es sei auch die Entscheidung T 136/16 beachtlich, in welcher zwar entschieden worden sei, die vorgelegten Hilfsanträge nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen. Allerdings seien die Hilfsanträge dort in Reaktion auf eine Anspruchsinterpretation eingereicht worden, die bereits von der Einspruchsabteilung vertreten worden sei. Der vorliegende Fall unterscheide sich jedoch hiervon, da die Kammer in ihrer Mitteilung zu einer anderen Auffassung als die Einspruchsabteilung gelangt sei.

Die Hilfsanträge 1 und 2 dehnten auch den durch die Beschwerdebegründung und die Beschwerdeerwiderung abgesteckten Diskussionsrahmen nicht aus. Beide Hilfsanträge schienen ferner offensichtlich gewährbar, das heißt, es sei ohne großen Aufwand sofort ersichtlich, dass die vorgenommenen Änderungen den aufgeworfenen Fragen erfolgreich Rechnung trügen, ohne ihrerseits zu neuen Fragen Anlass zu geben. Die Änderungen der Hilfsanträge sollten es somit grundsätzlich ermöglichen, auf dieser Grundlage ein Patent zu erteilen. Darüber hinaus habe die Beschwerdeführerin offensichtlich genügend Zeit gehabt, um sich schriftlich umfassend zu den Hilfsanträgen zu äußern, so dass eine Zulassung dieser Hilfsanträge die Verfahrensökonomie nicht beeinträchtige. Auch die Erfordernisse des Artikels 13 (1) VOBK 2020 seien somit erfüllt.

Entscheidungsgründe

1. Der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende Hilfsantrag 2 - Unzulässige Änderung

1.1 In dem ursprünglichen Anspruch 1 der Anmeldung, auf der das Patent beruht, war das Merkmal 5 nicht enthalten. In den Gründen der angegriffenen Entscheidung sah die Einspruchsabteilung offensichtlich eine Grundlage für die Anspruchsänderung im ursprünglichen Anspruch 6 sowie in der Textstelle auf Seite 6, dritter Absatz, der Veröffentlichung WO 2010/006744 A1 der Patentanmeldung, auf welcher das Patent beruht (siehe Punkt VII der Entscheidungsgründe).

1.2 Die Beschwerdegegnerin verweist diesbezüglich auf den "ursprünglichen Anspruch 4" (siehe Seite 1, letzter Absatz, der Beschwerdeerwiderung). Der Anspruch 4 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung steht jedoch in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Merkmal 5. Die Kammer geht daher davon aus, dass sich die Beschwerdegegnerin hier auf den Anspruch 4 des erteilten Patents bezieht, dessen zusätzliche Merkmale denjenigen des ursprünglichen Anspruchs 6 der Anmeldung zu entsprechen scheinen.

1.3 Der ursprüngliche Anspruch 6 der Anmeldung, auf welcher das Patent beruht, lautet:

"6. Schreib-, Zeichen-, Mal oder Kosmetikstift nach einem der Ansprüche 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, dass der mindestens eine polymergebundene Holzersatzwerkstoff aus

15 - 30 Gew.-% mindestens eines Polyolefins,

50 - 80 Gew.-% mindestens eines organischen Füllstoffs,

0 - 20 Gew.-% mindestens eines anorganischen Füllstoffs,

0,5 - 5 Gew.-% mindestens eines Haftvermittlers,

1 - 30 Gew.-% mindestens eines Wachses,

0 - 10 Gew.-% mindestens eines Farbpigments, und

0 - 10 Gew.-% mindestens eines Additivs

besteht."

Die von der Einspruchsabteilung zitierte Textstelle der ursprünglich eingereichten Beschreibung der Anmeldung nennt entsprechende Merkmale.

1.4 Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass im ursprünglichen Anspruch 6 im Gegensatz zum Merkmal 5 des vorliegenden Anspruchs 1 einerseits das Verb "besteht" im Gegensatz zu "umfasst" verwendet wird, und dass dort andererseits Obergrenzen für die Anteile der Komponenten anorganischer Füllstoff, Farbpigment und Additiv definiert werden.

1.5 Die Einspruchsabteilung befand diese Abwandlungen gegenüber den Angaben im ursprünglichen Anspruch 6 bzw. in der zitierten Textstelle der ursprünglichen Beschreibung offensichtlich als unproblematisch, da hierin "kein spezifisches Ausführungsbeispiel oder eine bevorzugte Rezeptur, sondern eine Auflistung der Bestandteile des Holzersatzwerkstoffs mit den jeweiligen Bereichen für ihren prozentualen Anteil in Gew.-% offenbart sei" (siehe Punkt VII der Entscheidungsgründe). Ein "Weglassen" der optionalen Bestandteile werde daher nicht als Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ angesehen.

Die Beschwerdegegnerin hat sich dieser Auffassung offenbar angeschlossen.

1.6 Die Kammer folgt dieser Ansicht jedoch nicht. In der Spruchpraxis der Kammern wird der Ausdruck "bestehen aus" in der Regel dahingehend verstanden, dass andere als die genannten Komponenten nicht enthalten sind (siehe z.B. T 390/08, Punkt 2 der Entscheidungsgründe; T 711/90, Punkt 2 der Entscheidungsgründe; siehe auch Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Neunte Auflage 2019, II.A.6.2). Eine solche Interpretation kommt dem Ausdruck "umfassen" hingegen in der Regel nicht zu, so dass eine damit beschriebene Auflistung im Allgemeinen nicht als abschließend zu betrachten ist.

Daher ist die Anspruchsänderung hinsichtlich des Merkmals 5 in der Tat problematisch. Während der ursprüngliche Anspruch 6 nach der oben erläuterten Interpretation des Begriffs "bestehen aus" ausschließt, dass der Holzersatzwerkstoff andere als die dort genannten sieben Komponenten aufweist, sind nach der Definition des vorliegenden Anspruchs 1 gemäß dem Merkmal 5 auch Holzersatzwerkstoffe möglich, die eine beliebige Anzahl weiterer Komponenten aufweisen.

1.7 Ferner ist auch das Argument nicht überzeugend, dass es sich bei dem "Weglassen" der im ursprünglichen Anspruch 6 enthaltenen Angaben hinsichtlich des anorganischen Füllstoffs, des Farbpigments und des Additivs um eine nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässige Änderung handle. Unter die Definition des ursprünglichen Anspruchs 6 der Anmeldung fällt zwar auch ein Holzersatzwerkstoff, der eine oder mehrere dieser drei Komponenten (anorganischer Füllstoff, Farbpigment, Additiv) nicht enthält. In diesem Sinne mögen diese drei Komponenten als "optional" angesehen werden können. Aber falls eine dieser drei Komponenten vorhanden ist, wird ihr Gewichtsanteil laut dem ursprünglichen Anspruch 6 zwingend durch die dort genannten Obergrenzen eingeschränkt. Beispielweise ist ein Holzersatzwerkstoff mit 15 Gew.-% eines Farbpigments durch die Definition des ursprünglichen Anspruchs 6 zwingend ausgeschlossen. Nach Merkmal 5 des vorliegenden Anspruchs 1 ist die Verwendung eines solchen Holzersatzwerkstoffs jedoch durchaus vom Anspruch umfasst. Die Definition des Holzersatzwerkstoffs in Merkmal 5 ist daher breiter als diejenige im ursprünglichen Anspruch 6 der Anmeldung.

Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammern ist es im Hinblick auf eine sogenannte Zwischenverallgemeinerung in der Regel nicht zulässig, bei der Änderung eines Anspruchs isolierte Merkmale aus einer Reihe von Merkmalen herauszugreifen, die ursprünglich nur in Kombination miteinander offenbart waren (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Neunte Auflage 2019, II.E.1.9). Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin gibt jedoch weder Anspruch 6 noch der dritte Absatz auf Seite 6 der veröffentlichten Anmeldung eine Auflistung möglicher Bestandteile an, die isoliert und unabhängig voneinander im Holzersatzwerkstoffs vorhanden oder nicht vorhanden sein können. Vielmehr ist den zitierten Passagen für den Fachmann unmittelbar und eindeutig zu entnehmen, dass der Holzersatzwerkstoff aus einer Kombination der dort genannten Bestandteile gemäß den dort genannten Mengenanteilen besteht.

1.8 Der Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 erfüllt somit nicht die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.

1.9 Auf die weiteren von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände hinsichtlich der Merkmale 9 und 11 des Anspruchs 1 sowie die von ihr geltend gemachten Einwände nach Artikel 84, 83, 52 (1) und 56 EPÜ kommt es daher im Ergebnis nicht an.

1.10 Die Druckschriften P1 bis P5 wurden von der Beschwerdegegnerin vorgelegt, um den Einwänden der Beschwerdeführerin hinsichtlich einer unzulässigen Änderung bzw. eines Klarheitsmangels bezüglich der Merkmale 9 und 11 entgegenzutreten (siehe Punkte C und D der Beschwerdeerwiderung und Punkt 1.b) des Schreibens der Beschwerdegegnerin datiert vom 2. Juli 2018, eingegangen am 3. Juli 2018). Da es, wie oben ausgeführt, im Ergebnis nicht auf diese weiteren Einwände ankommt, erübrigt sich eine Entscheidung der Kammer über eine Zulassung der Druckschriften P1 bis P5 in das Beschwerdeverfahren.

2. Hilfsanträge 1 und 2 - Zulassung in das Beschwerdeverfahren

2.1 Die Hilfsanträge 1 und 2 sind unbestritten erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereicht worden und stellen daher eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin dar.

Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020, der aufgrund der Übergangsbestimmungen nach Artikel 25 (1) und (3) VOBK 2020 vorliegend anzuwenden ist, bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

2.2 Die Beschwerdegegnerin sieht außergewöhnliche Umstände dadurch begründet, dass die Kammer in ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 in einigen Gesichtspunkten von der Auffassung der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung abgewichen ist.

2.3 Die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 enthielt jedoch unwidersprochen keine neuen Gesichtspunkte oder Einwände bezüglich des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2. Die in der Mitteilung diskutierten Einwände stützen sich vielmehr vollständig auf den in der Beschwerdebegründung enthaltenen Vortrag der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdegegnerin hätte daher bereits mit der Beschwerdeerwiderung, jedenfalls aber vor Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer Veranlassung und Gelegenheit gehabt, in Reaktion auf die in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwände der Beschwerdeführerin entsprechende Hilfsanträge als mögliche Rückzugspositionen einzureichen. Es liegt ferner in der Natur des Beschwerdeverfahrens, dass die Kammer eine angefochtene Entscheidung überprüft, so dass die Beschwerdegegnerin damit hätte rechnen müssen, dass die Kammer im Zuge der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung möglicherweise dem Vortrag der Beschwerdeführerin folgt und somit zu einer anderen Auffassung als die Einspruchsabteilung gelangt.

Die Kammer folgt somit der Auffassung der Beschwerdeführerin, dass die Tatsache, dass die Kammer in der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020 eine von der Einspruchsabteilung abweichende vorläufige Meinung vertreten hat, für sich genommen keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 begründet, welche die späte Einreichung der vorliegenden Hilfsanträge rechtfertigen könnten (siehe auch T 1187/16, Punkt 3.2 der Entscheidungsgründe, und T 42/17, Punkt 4.4 der Entscheidungsgründe).

Die von der Beschwerdegegnerin diesbezüglich angeführte Entscheidung T 136/16 befasst sich ferner nicht mit dem Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020, sondern mit der Nichtzulassung von Hilfsanträgen in Anwendung des Artikels 13 (1) VOBK 2020. Sie ist daher für die hier zu diskutierende Frage weniger relevant.

2.4 Außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 liegen daher nicht vor. Bei dieser Sachlage spielen die in Artikel 13 (1) VOBK 2020 genannten Erfordernisse bzw. Kriterien keine Rolle.

2.5 In Anbetracht dessen übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, dass sie die Hilfsanträge 1 und 2 nicht in das Beschwerdeverfahren zuließ.

3. Schlussbemerkung

Da der Anspruch 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Hilfsantrags 2 gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt und die mit Schreiben vom 10. Juni 2021 eingereichten Hilfsanträge 1 und 2 nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen wurden, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu widerrufen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das europäische Patent wird widerrufen.

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