European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2021:T189116.20210308 | ||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Datum der Entscheidung: | 08 März 2021 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1891/16 | ||||||||
Anmeldenummer: | 04003326.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | A61J1/20 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
Download und weitere Informationen: |
|
||||||||
Bezeichnung der Anmeldung: | Transfervorrichtung | ||||||||
Name des Anmelders: | CSL Behring GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Meissner Bolte Partnerschaft mbB | ||||||||
Kammer: | 3.2.02 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
|
||||||||
Schlagwörter: | Patentansprüche - Klarheit Patentansprüche - Hilfsantrag (nein) Spät eingereichte Hilfsanträge - Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung Spät eingereichte Hilfsanträge - zugelassen (nein) Änderung nach Ladung - stichhaltige Gründe (nein) Änderung nach Ladung - außergewöhnliche Umstände (nein) |
||||||||
Orientierungssatz: |
- |
||||||||
Angeführte Entscheidungen: |
|
||||||||
Anführungen in anderen Entscheidungen: |
|
Sachverhalt und Anträge
I. In der am 6. Juni 2016 zur Post gegebenen Zwischenentscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, dass das europäische Patent Nr. 1454609 in der Fassung gemäß dem damals geltenden vierten Hilfsantrag und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügten.
II. Gegen diese Entscheidung haben sowohl die Patentinhaberin wie die Einsprechende Beschwerde eingelegt.
III. Am 8. März 2021 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
Die Einsprechende beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents sowie die Zurückweisung der Beschwerde der Patentinhaberin.
Die Patentinhaberin hatte ursprünglich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf Grundlage des Hauptantrags eingereicht mit der Beschwerdebegründung, hilfsweise auf Grundlage der ersten bis vierten Hilfsanträge eingereicht mit der Beschwerdebegründung oder auf Grundlage des fünften Hilfsantrags eingereicht mit Schriftsatz vom 27. Januar 2021 beantragt.
Nach Erörterung des fünften Hilfsantrags zog die Patentinhaberin ihre Beschwerde am Ende der mündlichen Verhandlung zurück und beantragte die Zurückweisung der Beschwerde der Einsprechenden.
IV. Anspruch 1 gemäß dem vierten Hilfsantrag, welcher der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung entspricht, lautet wie folgt:
"Transfervorrichtung (1) und Behältnis (2), insbesondere ein im Inneren unter Unterdruck stehendes Behältnis (2), wobei das Behältnis einen mit einem elastischen Stopfen (5) verschlossenen Wulst (4) aufweist, und wobei die Transfervorrichtung (1) eine Aufnahmekappe (9) zur Aufnahme des Behältnisses (2) und einen Randabschnitt (13) zum Zentrieren des Wulstes (4) in dessen in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung und einen Deckelabschnitt (15) aufweist, mit dem Deckelabschnitt (15) ein zentraler Einstechdom (10) verbunden ist, der in den von der Aufnahmekappe (9) umschlossenen Raum (19) ragt, wobei der Einstechdorn (10) beim Einstecken des Wulstes (4) in die Aufnahmekappe (9) den Stopfen (5) durchsticht, wobei der Randabschnitt (13) der Aufnahmekappe (9) einen Rücksprung (16) zum Hintergreifen des Wulstes (4) in der in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung des Wulstes (4) aufweist, wobei der Einstechdorn (10) beim Einstecken des Wulstes (4) in die Aufnahmekappe (9) in Kontakt mit dem Stopfen (5) gelangt, bevor der eine Zentrierung herbeiführende Rücksprung (16) den Stopfen (5) kontaktiert, und wobei der Einstechdorn (10) einen diesen längs durchsetzenden Strömungskanal (17) für ein Fluid aufweist, der durch den Deckelabschnitt (15) nach außen geführt ist, und wobei der Einstechdom (10), bezogen auf dessen Einstechrichtung, einen vorderen Einstechabschnitt (20) und einen hinteren, im Durchmesser größeren Dichtabschnitt (21) aufweist,
wobei
die Länge des Dichtabschnittes (21) derart bemessen ist, dass der Dichtabschnitt (21), in der in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung des Wulstes (4), in den Stopfen (5) eindringt und dass sich der Dichtabschnitt (21) als konische Erweiterung an den Einstechabschnitt (20) anschließt."
V. Anspruch 1 gemäß dem fünften Hilfsantrag lautet wie folgt (Änderungen gegenüber Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags von der Kammer hervorgehoben):
"Transfervorrichtung (1) und Behältnis (2), insbesondere ein im Inneren unter Unterdruck stehendes Behältnis (2), wobei das Behältnis einen mit einem elastischen Stopfen (5) verschlossenen Wulst (4) aufweist, und wobei die Transfervorrichtung (1) eine Aufnahmekappe (9) zur Aufnahme des Behältnisses (2) und einen Randabschnitt (13) zum Zentrieren des Wulstes (4) in dessen in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung und einen Deckelabschnitt (15) aufweist, mit dem Deckelabschnitt (15) ein zentraler Einstechdom (10) verbunden ist, der in den von der Aufnahmekappe (9) umschlossenen Raum (19) ragt, wobei der Einstechdorn (10) beim Einstecken des Wulstes (4) in die Aufnahmekappe (9) den Stopfen (5) durchsticht, wobei der Randabschnitt (13) der Aufnahmekappe (9) einen Rücksprung (16) zum Hintergreifen des Wulstes (4) in der in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung des Wulstes (4) aufweist, wobei der Einstechdorn (10) dazu konfiguriert ist, beim Einstecken des Wulstes (4) in die Aufnahmekappe (9) in Kontakt mit dem Stopfen (5) zu [deleted: gelangt]gelangen, bevor der eine Zentrierung herbeiführende Rücksprung (16) den Stopfen (5) [deleted: kontaktiert] kontaktieren kann, und wobei der Einstechdorn (10) einen diesen längs durchsetzenden Strömungskanal (17) für ein Fluid aufweist, der durch den Deckelabschnitt (15) nach außen geführt ist, und wobei der Einstechdom (10), bezogen auf dessen Einstechrichtung, einen vorderen Einstechabschnitt (20) und einen hinteren, im Durchmesser größeren Dichtabschnitt (21) aufweist,
wobei
die Länge des Dichtabschnittes (21) derart bemessen ist, dass der Dichtabschnitt (21), in der in die Aufnahmekappe (9) eingesteckten Stellung des Wulstes (4), in den Stopfen (5) eindringt und dass sich der Dichtabschnitt (21) als konische Erweiterung an den Einstechabschnitt (20) anschließt."
VI. Die entscheidungsrelevanten Argumente der Einsprechenden lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Der spät eingereichte vierte Hilfsantrag sei nicht zuzulassen. Dieser sei unzulässig unter Artikel 123 (2) und (3) EPÜ. Darüber hinaus führe der Übergang von einem Erzeugnisanspruch zu einem Systemanspruch dazu, dass ein nicht recherchierter Gegenstand beansprucht werde. Für das Einspruchsverfahren könne nichts anderes gelten als das, was in Regel 137 (5) EPÜ fixiert sei.
Das in Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags eingeführte Merkmal, wonach "[der Einstechdorn] in Kontakt mit dem Stopfen gelangt, bevor der eine Zentrierung herbeiführende Rücksprung den Stopfen kontaktiert" sei ein Verfahrensmerkmal und führe dazu, dass der Anspruch unklar sei.
Der fünfte Hilfsantrag sei spät eingereicht worden und nicht zuzulassen. Die mangelnde Klarheit aufgrund des Verfahrensmerkmals sei bereits in der Beschwerdeerwiderung beanstandet worden, die Patentinhaberin hätte diesen Mangel daher früher ausräumen müssen. Der in der Beschwerdeerwiderung unter Zitierung des betroffenen Verfahrensmerkmals erhobene Klarheitseinwand gelte für alle Anträge, die dieses Verfahrensmerkmal unverändert enthielten.
VII. Die entscheidungsrelevanten Argumente der Patentinhaberin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Aufnahme des Behältnisses in Anspruch 1 gemäß dem vierten Hilfsantrag stelle eine Einschränkung des Schutzbereiches und somit auch des zu recherchierenden Bereichs dar. Darüber hinaus könne ein in das Verfahren eingeführter Antrag nicht wieder aus dem Verfahren genommen werden.
Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags sei klar. Das beanstandete Merkmal sei kein Verfahrensmerkmal, sondern ein funktionelles Merkmal, welches die körperlich-räumliche Erstreckung von Einstechdorn und Rücksprung definiere. Es sei dem 2. Satz im Absatz [0023] des Patents zu entnehmen, dass in der Momentaufnahme gemäß Figur 3 aufgrund der Geometrie der Transfervorrichtung der Rücksprung noch nicht in Kontakt mit dem Stopfen sei. Der Fachmann verstehe also, dass der Abstand zwischen Spitze des Einstechdorns und Deckelabschnitt größer als der Abstand zwischen Rücksprung und Deckelabschnitt sei. Dieses funktionelle Merkmal sei gerechtfertigt, da der Gegenstand anderweitig nicht genauer definiert werden könne, ohne dass der Schutzbereich des Anspruchs über Gebühr eingeschränkt werde.
Der fünfte Hilfsantrag sei zuzulassen. Bedenken hinsichtlich der Klarheit des Anspruchs 1 des 4. Hilfsantrags seien erstmals in der Mitteilung der Beschwerdekammer geäußert worden. Der fünfte Hilfsantrag sei kurz nach der Mitteilung eingereicht worden und beseitige die angeblichen Klarheitsprobleme. Weder im Einspruchsverfahren noch in der Beschwerdebegründung der Einsprechenden sei die Klarheit beanstandet worden. In der Beschwerdeerwiderung der Einsprechenden sei ein Klarheitseinwand gegen Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags erhoben worden, nicht aber gegen Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags. Die Einsprechende habe diesen Einwand nicht ausdrücklich auf den vierten Hilfsantrag übertragen, somit könne dies im Sinne eines fairen Verfahrens auch nicht von der Patentinhaberin verlangt werden. Ließe man den fünften Hilfsantrag nicht zu, so wäre der Patentinhaberin die Möglichkeit genommen, ausreichend auf den neu erhobenen Klarheitseinwand zu reagieren. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Beschwerde seit dem Jahr 2016 bei der Beschwerdekammer anhängig sei, Artikel 13 (2) VOBK 2020 aber erst seit 2020 gelte.
Entscheidungsgründe
1. Die Erfindung
Die Erfindung betrifft eine Transfervorrichtung 1 und ein Behältnis 2. Das Behältnis 2 weist einen mit einem elastischen Stopfen 5 verschlossenen Wulst 4 auf. Die Transfervorrichtung wird beispielweise verwendet, um ein Fluid in das Behältnis zu überführen.
Die Transfervorrichtung 1 umfasst eine Aufnahmekappe 9 zur Aufnahme des Wulstes 4, wobei die Aufnahmekappe 9 einen Randabschnitt 13 zum Zentrieren des Wulstes 4 in dessen in die Aufnahmekappe 9 eingesteckter Stellung und einen Deckelabschnitt 15 aufweist. Mit dem Deckelabschnitt 15 ist ein zentraler Einstechdorn 10 verbunden, der in den von der Aufnahmekappe 9 umschlossenen Raum 19 ragt, wobei der Einstechdorn 10 beim Einstecken des Wulstes 4 in die Aufnahmekappe 9 den Stopfen 5 durchsticht.
Beim außermittigen Positionieren des Stopfens 5 relativ zur Spitze des Einstechdorns 10 (Fig. 3 des Streitpatents) führt die Einsteckbewegung und damit die Führung des Wulstes 4 des Behältnisses 2 mittels des Randabschnittes 13 der Aufnahmekappe 9 dazu, dass der außermittig in den Stopfen 5 eingesteckte Einstechdorn 10 nunmehr in seine mittige Position bewegt wird. Die Folge ist ein Riss 23 im elastischen Stopfen 5, der von der Aufsetzstelle des Einstechdorns zum Zentrum des Stopfens reicht (Fig. 4 des Streitpatents).
Der Einstechdorn 10 weist zwei Abschnitte auf, einen vorderen Einstichabschnitt 20 und einen hinteren, im Durchmesser größeren Dichtabschnitt 21. Beim weiteren Einführen des Behältnisses 2 dringt auch der Dichtabschnitt 21 in den Stopfen 5 ein (Absatz [0023] und Fig. 5 des Streitpatents). Dadurch wird der Riss 23 im Stopfen 5 abgedichtet.
2. Als Folge der Rücknahme der Beschwerde der Patentinhaberin und ihrem Schlussantrag auf Zurückweisung der Beschwerde der Einsprechenden beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Anträge der Patentinhaberin (nunmehr bloße Beschwerdegegnerin) auf Aufrechterhaltung des Patents gemäß dem vierten Hilfsantrag in der von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachteten Fassung oder, hilfsweise, gemäß dem fünften Hilfsantrag.
3. Vierter Hilfsantrag
3.1 Zulassung
Die Einsprechende beantragte, den vierten Hilfsantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Der vierte Hilfsantrag wurde von der Einspruchsabteilung zugelassen und in der angefochtenen Entscheidung als gewährbar angesehen.
Ein Hilfsantrag, der im erstinstanzlichen Verfahren zugelassen wurde und der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt, kann nicht vom Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammer des Europäisches Patentamtes, 9. Auflage 2019, V.A.3.5.4). Dies würde auch dem nunmehr ausdrücklich in Artikel 12 (2) VOBK 2020 genannten vorrangigen Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtenen Entscheidung gerichtlich zu überprüfen zuwiderlaufen.
Folglich ist der vierte Hilfsantrag von der Kammer im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen.
3.2 Artikel 84 EPÜ
Anspruch 1 gemäß dem vierten Hilfsantrag enthält das (aus der Beschreibung, Absatz [0023], 2. Satz entliehene) Verfahrensmerkmal, wonach der Einstechdorn 10 in Kontakt mit dem Stopfen 5 gelangt, bevor der eine Zentrierung herbeiführende Rücksprung 16 den Stopfen 5 kontaktiert. Die Beschreibung des Streitpatents führt zwar im Absatz [0023] aus, dass dies aufgrund der Geometrie der Transfervorrichtung erfolge. Es ist jedoch unklar, welche Einschränkungen die beanspruchten Verfahrensschritte, die eine zeitliche Abfolge von Kontaktierungen definieren, für die Geometrie der Transfervorrichtung und/oder für das Behältnis gemäß Anspruch 1 darstellen.
Die Patentinhaberin machte geltend, dass dies ein funktionelles Merkmal darstelle, aus welchem der Fachmann die strukturelle Einschränkung herleiten könne, dass der Abstand zwischen Spitze des Einstechdorns und Deckelabschnitt größer als der Abstand zwischen Rücksprung und Deckelabschnitt sei.
Die Kammer ist hiervon nicht überzeugt. Zum einen ergibt sich aus dem besagten Merkmal nicht notwendigerweise eine solche strukturelle Einschränkung: falls die beanspruchten Verfahrensschritte zum Beispiel mit einem nach außen gewölbten Stopfen erfolgen, ergibt sich diese strukturelle Einschränkung nicht unbedingt. Zum anderen führt die strukturelle Einschränkung - auch in Kombination mit einem Stopfen mit einer ebenen oberen Oberfläche - nicht notwendigerweise dazu, dass beim Einstecken des Wulstes in die Aufnahmekappe der Einstechdorn in Kontakt mit dem Stopfen gelangt, bevor der Rücksprung den Stopfen kontaktiert. Die Einführbewegung spielt dabei auch eine maßgebliche Rolle, insbesondere wie schräg und zentriert das Behältnis vom Benutzer an die Transfervorrichtung heran- und eingeführt wird. Anders ausgedrückt, ob eine gegebene Kombination von Transfervorrichtung und Behältnis unter den Wortlaut des Anspruchs fällt oder nicht, kann davon abhängen, wie die Verfahrensschritte durchgeführt werden. Die Kombination von Transfervorrichtung und Behältnis gemäß Anspruch 1 ist somit nicht klar definiert.
Die Kammer vermag ebenfalls nicht zu erkennen, warum im vorliegenden Fall eine Definition des Gegenstands ohne das beanstandete Verfahrensmerkmal und mittels anderer Einschränkungen - etwa mit der besagten strukturellen Einschränkung - den Schutzbereich des Anspruchs über Gebühr einschränken würde.
Folglich ist der Gegenstand, für den Schutz begehrt wird, nicht klar und deutlich angegeben. Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags entspricht somit nicht den Erfordernissen von Artikel 84 EPÜ.
4. Fünfter Hilfsantrag, Zulassung
Die Patentinhaberin hat den fünften Hilfsantrag mit Schriftsatz vom 27. Januar 2021 eingereicht, und somit nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung, welche am 27. November 2020 zur Post gegeben wurde.
Nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
Die Patentinhaberin machte geltend, dass Bedenken hinsichtlich der Klarheit des Anspruchs 1 des vierten Hilfsantrags erstmals in der Mitteilung der Beschwerdekammer geäußert worden seien. Ließe man den fünften Hilfsantrag nicht zu, so wäre der Patentinhaberin die Möglichkeit genommen, ausreichend auf den neu erhobenen Klarheitseinwand zu reagieren.
Der Klarheitseinwand in Bezug auf das oben erwähnte Verfahrensmerkmal ist jedoch nicht erstmalig in der Mitteilung der Beschwerdekammer erhoben worden. Die Einsprechende hat nämlich bereits in ihrer Beschwerdeerwiderung vom 27. Februar 2017 (auf Seite 4, 3. Absatz) vorgebracht, dass das beanstandete - und in der Erwiderung wörtlich zitierte - Merkmal ein Verfahrensmerkmal ist, welches zu mangelnder Klarheit führt. Es stimmt zwar, dass in der Erwiderung der Einsprechenden der Klarheitseinwand explizit nur hinsichtlich Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags vorgebracht wurde. Dasselbe strittige Merkmal und die damit verbundene mangelnde Klarheit ist jedoch unverändert auch im vierten Hilfsantrag vorhanden. Dies war für die Patentinhaberin leicht erkennbar. Ein ausdrücklicher Hinweis der Einsprechenden, dass der Klarheitsmangel auch den vierten Hilfsantrag betrifft, war insofern nicht erforderlich.
Folglich hätte die Patentinhaberin den fünften Hilfsantrag unmittelbar als Antwort auf die Beschwerdeerwiderung der Einsprechenden einreichen können und sollen, und nicht erst als Antwort auf den Ladungsbescheid der Kammer.
Die Patentinhaberin machte ebenfalls geltend, dass bei der Anwendung des Artikels 13 (2) VOBK 2020 zu berücksichtigen sei, dass die vorliegende Beschwerde seit dem Jahr 2016 anhängig sei, die aktuelle VOBK jedoch erst im Jahr 2020 in Kraft getreten sei.
Die aktuelle, revidierte Fassung der VOBK trat gemäß Artikel 24 (1) VOBK 2020 zum 1. Januar 2020 in Kraft. Sie ist nach Artikel 25 (1) VOBK 2020 auf alle Beschwerden anzuwenden, die am Tag des Inkrafttretens anhängig waren. Die Ausnahmebestimmung nach Artikel 25 (3) VOBK 2020 trifft im vorliegenden Fall nicht zu, da die Ladung zur mündlichen Verhandlung nach Inkrafttreten der VOBK 2020 zugestellt wurde, sodass Artikel 13 (2) VOBK 2020 anzuwenden ist. Das Datum der Einlegung der Beschwerde ist sowohl für die Anwendbarkeit des Artikels 13 (2) VOBK 2020 als auch für die Beurteilung, ob außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK 2020 vorliegen, unerheblich (vgl. T 764/16, Gründe 3.3 bis 3.3.1).
Die Patentinhaberin hat somit keine stichhaltigen Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände im Sinne des Artikels 13 (2) VOBK vorliegen, welche eine Einreichung des fünften Hilfsantrags nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung rechtfertigen würden.
Folglich lässt die Kammer nach Artikel 13 (2) VOBK den fünften Hilfsantrag nicht in das Beschwerdeverfahren zu.
5. Nach Rücknahme der Beschwerde durch die Patentinhaberin vor Verkündung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung ist nach Regel 103 (4) a) EPÜ die von der Patentinhaberin gezahlte Beschwerdegebühr in Höhe von 25 % zurückzuzahlen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.