T 0563/16 (Modellgestütztes AOD-Verfahren/Primetals) of 18.6.2019

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2019:T056316.20190618
Datum der Entscheidung: 18 Juni 2019
Aktenzeichen: T 0563/16
Anmeldenummer: 02450259.3
IPC-Klasse: C21C 5/00
C21C 5/46
F27D 19/00
F27D 21/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zur Herstellung einer Metallschmelze an Hand eines dynamischen Prozessmodells, inklusiv Korrekturmodell
Name des Anmelders: Primetals Technologies Austria GmbH
Name des Einsprechenden: SMS group GmbH
Kammer: 3.3.05
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 54(2)
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 111(1)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Neuheit - Hauptantrag (nein)
Erfinderische Tätigkeit - (nein)
Erfinderische Tätigkeit - naheliegende Alternative
Erfinderische Tätigkeit - Hilfsantrag (nein)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (nein)
Spät eingereichte Beweismittel - eingereicht mit der Beschwerdebegründung
Spät eingereichte Beweismittel - zugelassen (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 1102/00
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents EP 1 310 573 B1 in geändertem Umfang auf der Basis der Ansprüche gemäß dem damaligen ersten Hilfsantrag.

II. In der Beschwerdebegründung reichte die Einsprechende (Beschwerdeführerin) unter anderem folgendes Dokument ein:

D14|DE 692 09 622 T2|

III. Mit der Beschwerdeerwiderung reichte die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) folgendes Dokument ein:

B1|Wikipedia-Eintrag zum Begriff "Erhebung", |

Außerdem reichte sie einen Hauptantrag, der dem im Einspruchsverfahren aufrechterhaltenen ersten Hilfsantrag entspricht, sowie drei Hilfsanträge ein, jeweils mit einer korrigierten Beschreibung.

IV. Der Wortlaut von Anspruch 1 des Hauptantrags lautet (Merkmalsnummerierung in eckigen Klammern):

[1] |"1. AOD-Verfahren zum Herstellen einer Metallschmelze von legiertem, rostfreiem Stahl oder Edelstahl, |

[2] |welches Verfahren auf einer nach einem Prozessmodell ablaufenden und die hüttentechnische Anlage steuernden Rechentechnik fußt, |

[3a]|wobei das Prozessmodell das Verhalten für mindestens einen variablen Prozessparameter zwischen einer Ist-Prozessgröße, |

[4] |welche die chemische Zusammensetzung der Metallschmelze ist, |

[3b]|einer Stellgröße und einer Prozessendgröße beschreibt, |

|und das Verfahren folgende Schritte umfasst: |

[5] |- mit dem Prozessmodell wird mit zu einer bestimmten Zeit (ti) erhobenen Daten einer Ist-Prozessgröße durch Simulation mit Rechentechnik unmittelbar zum Zeitpunkt der Erhebung der Ist-Prozessgröße eine Prozessgröße für einen späteren Zeitpunkt (ti+dt) ermittelt und|

[6] |- bei Abweichungen der simulierten Prozessgröße von einem gewünschten Soll-Wert werden mittels des Prozessmodells mit Rechentechnik Korrekturmaßnahmen zur Änderung der Ist Prozessgröße errechnet und die Ist-Prozessgröße entsprechend geändert,|

[7] |- worauf zu einem späteren Zeitpunkt (ti+dt) mit weiters erhobenen Daten der Ist-Prozessgröße das Verfahren wiederholt wird." |

| |

Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags unterscheidet sich dadurch, dass die Daten der Ist-Prozessgröße in den Merkmalen [5] und [7] "durch Messung" erhoben werden.

Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags unterscheidet sich zudem dadurch, dass im Merkmal [1] präzisiert wird, dass die Metallschmelze Chrom und Nickel enthält.

Anspruch 1 des dritten Hilfsantrags unterscheidet sich weiterhin dadurch, dass die Ist-Prozessgröße in Merkmal [4] zusätzlich zur chemischen Zusammensetzung der Metallschmelze auch noch deren Temperatur umfasst.

V. In einer Mitteilung nach Artikel 15(1) VOBK teilte die Kammer den Parteien mit, dass die D14 wahrscheinlich berücksichtigt würde. Der Gegenstand von Anspruch 1 erschiene diesem Dokument gegenüber zwar neu, nicht aber erfinderisch.

VI. Die Argumente der Beschwerdeführerin, die relevant für diese Entscheidung sind, können wie folgt zusammengefasst werden:

Die D14 sei das deutschsprachige Familienmitglied der im Streitpatent in Par. [5] genannten EP 545 379 B1. Der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrages sei nicht neu gegenüber der D14, und schon gar nicht erfinderisch.

Bei der zweimal in Anspruch 1 genannten "einen Ist-Prozessgröße" müsse es sich nicht um dieselbe Ist-Prozessgröße handeln.

VII. Die Argumente der Beschwerdegegnerin, die relevant für diese Entscheidung sind, können wie folgt zusammengefasst werden:

Die D14 sei verspätet eingereicht worden, nicht relevant und daher nicht zu berücksichtigen. Sollte sie trotzdem zugelassen werden, sei das Verfahren an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen und die hierdurch verursachten Kosten seien der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.

Des weiteren offenbare die D14 weder eine Ermittlung der Prozessgröße für einen späteren Zeitpunkt unmittelbar zum Zeitpunkt der Erhebung der Ist-Prozessgröße, noch eine Wiederholung des Verfahrens.

Das Modellieren/Simulieren von Ist-Prozessgrößen könne nicht als "Erhebung" im Sinne von Anspruch 1 des Hauptantrages betrachtet werden. Ziel der D14 sei es gerade, eine Messung der Konzentration in Echtzeit entbehrlich zu machen.

Aus diesen Gründen sei der Gegenstand der Erfindung des Streitpatents erfinderisch.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt sie die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf Basis der mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1-3.

Entscheidungsgründe

1. Berücksichtigung von Dokumenten

Die D14 wurde mit der Beschwerdebegründung eingereicht und ist somit an sich Grundlage des Beschwerdeverfahrens (Artikel 12(2) VOBK). Es handelt sich um ein Familienmitglied der im Streitpatent in Abschnitt [5] genannten EP 0 545 379 B1. Da dieses Dokument bereits in der ursprünglich eingereichten Anmeldung als einer der Ausgangspunkte für die Erfindung zitiert und somit der Inhalt der Beschwerdegegnerin durchaus bekannt war und überdies aus den untengenannten Gründen zudem relevant ist, war es in Ausübung des der Kammer zustehenden Ermessens nach Artikel 12(4) VOBK zu berücksichtigen.

2. Zurückverweisung und Kostenerstattung

Im Hinblick auf das Anmeldedatum des Streitpatents und die Verfahrensökonomie war nach Artikel 111(1) EPÜ die Angelegenheit nicht an die erste Instanz zurückzuverweisen, sondern in der Sache zu entscheiden.

Aus diesem Grund tritt die Bedingung für den Antrag der Beschwerdegegnerin auf Kostenerstattung nicht ein.

3. Interpretation der Ansprüche

3.1 Laut Beschwerdegegnerin handelt es sich bei den Merkmalen 3a und 5 von Anspruch 1 des Hauptantrages um dieselbe "Ist-Prozessgröße", nämlich um die chemische Zusammensetzung der Metallschmelze.

Die Kammer teilt diese Ansicht. Dadurch, dass in den Merkmalen 3a und 5 jeweils der unbestimmte Artikel "eine[] Ist-Prozessgröße" verwendet wird, könnte es sich theoretisch auch um unterschiedliche Prozessgrößen handeln. Daher ist es nötig, auch die Beschreibung in Betracht zu ziehen. Dort gibt es zwar mehrere Möglichkeiten für die "Ist-Prozessgröße", nämlich die "chemische Zusammensetzung" oder die "Temperatur" (Paragraph [14,15]), aber es gibt keinen Hinweis, dass die "Ist-Prozessgröße" für ein gegebenes AOD-Verfahren je nach Umständen die Bedeutung wechselt, d.h. einmal die Temperatur ist und ein anderes Mal die chemische Zusammensetzung.

Daher ist kein Grund zu erkennen, warum es sich bei der "eine[n] Ist-Prozessgröße" in Merkmal 5 von Anspruch 1 nicht ebenfalls um die "chemische Zusammensetzung" handeln sollte, genau wie in Merkmal 3a.

3.2 Es besteht Übereinstimmung zwischen den Parteien, dass mit der "chemischen Zusammensetzung" in Anspruch 1 nicht nur die Konzentration einer einzigen Komponente gemeint ist, beispielsweise die Kohlenstoff-Konzentration.

3.3 Da die Kohlenstoff-Konzentration Teil der chemischen Zusammensetzung ist, liegt nach Auffassung der Beschwerdeführerin notwendigerweise eine Abweichung der "chemischen Zusammensetzung" im Sinne von Anspruch 1 vor, wenn eine Abweichung der Kohlenstoff-Konzentration auftritt.

Diese Ansicht wurde von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten, und auch die Kammer sieht keinen Grund für eine andere Sichtweise.

4. Hauptantrag

Aus den folgenden Gründen ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrages nicht neu im Sinne von Artikel 54(1) und (2) EPÜ.

4.1 Die Beschwerdegegnerin vertritt die Ansicht, dass die (wiederholte) Bestimmung der "Ist-Prozessgröße" das einzige unterscheidende Merkmal des Anspruchs 1 des Streitpatents gegenüber der D14 ist.

Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin bedeute der Begriff "Ist-Prozessgröße", dass es sich um die reelle, durch Messung ermittelte, tatsächliche Prozessgröße handele, im Gegensatz zu einer mit einem Modell berechneten Größe. Da die chemische Zusammensetzung der Metallschmelze im Regelungsverfahren der D14 abgesehen von einer möglichen Messung ganz zu Beginn (Seite 19 Zeilen 4-6) durch die neuronalen Netzwerke 3-5 berechnet werde, handele es sich in der D14 nicht um die "Ist-Prozessgröße".

Die Kammer kann dieser Interpretation nicht zustimmen. Merkmal 5 von Anspruch 1 beschreibt, dass mit "zu einer bestimmten Zeit (ti) erhobenen Daten einer Ist-Prozessgröße ... unmittelbar zum Zeitpunkt der Erhebung ... eine Prozessgröße für einen späteren Zeitpunkt (ti + dt) ermittelt" wird. Dabei lässt Anspruch 1 jedoch die Auslegung zu, dass die Bezeichnung "Ist" nicht die Art, sondern nur den Zeitpunkt der Bestimmung charakterisiert, nämlich den Zeitpunkt ti. D.h. das Wort "Ist" lässt keine Rückschlüsse darüber zu, ob die Werte gemessen oder errechnet wurden.

Da die chemische Zusammensetzung der Metallschmelze für einen späteren Zeitpunkt ti+dt, nämlich "bei Beendigung des Einblasvorgangs", durch die neuronalen Netzwerke 3-5 mit den Daten des Zeitpunkts ti, nämlich "während des Einblasens von Sauerstoff" ermittelt wird (Seite 19, Zeilen 19-26), ist die Erhebung der "Ist-Prozessgröße" kein unterscheidendes Merkmal und die Verfahrensschritte des Merkmals 5 sind aus D14 bekannt. Zur Definition von "erhoben" siehe Abschnitt 4.3.

4.2 Abgesehen davon ist es unbestritten, dass die D14 die Merkmale [1, 2, 3a, 4, 3b, 6 und 7] von Anspruch 1 offenbart.

4.3 Somit offenbart die D14 alle Merkmale von Anspruch 1, nämlich:

- ein AOD-Verfahren zum Herstellen einer Metallschmelze von legiertem, rostfreiem Stahl oder Edelstahl (Seite 1 Zeile 2),

- welches Verfahren auf einer nach einem Prozessmodell ablaufenden und die hüttentechnische Anlage steuernden Rechentechnik fußt (Seite 19, Zeile 3 - Seite 20, Zeile 23),

- wobei das Prozessmodell das Verhalten für mindestens einen variablen Prozessparameter (hier das "Verhältnis von Sauerstoff zu Verdünnungsgas") zwischen einer Ist-Prozessgröße, welche die chemische Zusammensetzung der Metallschmelze ist (Seite 19, Zeile 25), einer Stellgröße (hier der "Sauerstoffzählwert") und einer Prozessendgröße ("für den sukkessive angezielten Kohlenstoffgehalt" Seite 19, Zeile 14) beschreibt,

und das Verfahren folgende Schritte umfasst:

- mit dem Prozessmodell wird mit zu einer bestimmten Zeit (ti) erhobenen Daten einer Ist-Prozessgröße durch Simulation mit Rechentechnik unmittelbar zum Zeitpunkt der Erhebung der Ist-Prozessgröße eine Prozessgröße für einen späteren Zeitpunkt (ti+dt) ermittelt.

In der D14 wird mit der zu Beginn eines Einblasvorgangs erhobenen chemischen Zusammensetzung "unmittelbar", nämlich noch während des Einblasvorgangs, die chemische Zusammensetzung bei Beendigung des Einblasvorgangs berechnet (Seite 19, Zeilen 22-26). Nach Auffassung der Kammer kann ein "Erheben" deutlich breiter ausgelegt werden als ausschließlich ein "Messen". Nach der Definition B1 bedeutet erheben ein Sammeln und Auswerten. Dies schließt jedoch auch ein Berechnen mit ein.

- bei Abweichungen der simulierten Prozessgröße von einem gewünschten Soll-Wert werden mittels des Prozessmodells mit Rechentechnik Korrekturmaßnahmen zur Änderung der Ist-Prozessgröße errechnet und die Ist-Prozessgröße entsprechend geändert.

In der D14 werden bei Abweichungen des Kohlenstoffgehalts, und damit der "chemischen Zusammensetzung" (siehe Punkt 3.3), von einem Sollwert (Figur 5: 0.15, 0.05 und 0.03 %C) Korrekturmaßnahmen in Form von neuen Sauerstoffzählwerten errechnet (Seite 19, Zeile 22).

- worauf zu einem späteren Zeitpunkt (ti+dt) mit weiters erhobenen Daten der Ist-Prozessgröße das Verfahren wiederholt wird (Figur 5).

Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass sich die Bezeichnung "FIG. 4" im zweiten Absatz auf Seite 19 der D14 offensichtlich auf die Figur 5 bezieht.

4.4 Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin muss man in der D14 zwischen der Trainingsphase des neuronalen Netzes und der Betriebsphase unterscheiden.

Dem kann die Kammer prinzipiell zustimmen, merkt aber an, dass sich die oben zitierten Passagen der D14 (z.B. Seite 19, Figur 5) ausschließlich auf die Betriebsphase beziehen; im Gegensatz beispielsweise zu Seite 11, wo die Trainingsphase diskutiert wird.

4.5 Aus diesen Gründen ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags angesichts der D14 nicht neu im Sinne von Artikel 54(1) und (2) EPÜ.

5. Erster Hilfsantrag

Aus den folgenden Gründen ist der Gegenstand von Anspruch 1 des ersten Hilfsantrages nicht erfinderisch im Sinne von Artikel 56 EPÜ:

5.1 Die Erfindung

Die Erfindung betrifft eine modellgestützte, iterative Regelung eines Argon-Sauerstoff-Entkohlungsverfahrens (AOD-Verfahren). Aus der Messung der chemischen Zusammensetzung der Metallschmelze zu einem bestimmten Zeitpunkt wird durch Simulation die chemische Zusammensetzung zu einem späteren Zeitpunkt ermittelt. Bei Abweichungen dieser simulierten Größe von einem Soll-Wert werden Korrekturmaßnahmen errechnet.

5.2 Nächstliegender Stand der Technik

Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist die D14 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen. Da die D14 ebenfalls die modellgestützte Regelung eines AOD-Verfahrens mittels mehrerer neuronaler Netze betrifft und ebenfalls Prozessgrößen für einen späteren Zeitpunkt berechnet (siehe obigen Punkt 4.2 und insbesondere Seite 19, Zeilen 22-26 der D14), besteht kein Anlass, von dieser Wahl der D14 als nächstliegendem Stand der Technik abzurücken.

Der Gegenstand von Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags unterscheidet sich von der D14 dadurch, dass die Ist-Prozessgröße, also die "chemische Zusammensetzung der Metallschmelze", zum gegenwärtigen Zeitpunkt gemessen wird. In der D14 wird der Kohlenstoff-Gehalt dagegen durch das neuronale Netzwerk 3 berechnet und der Silizium-, Mangan-, Chrom-, Nickel- und Molybdän-Gehalt durch das Netzwerk 5 (Seite 11, Abschnitt 3).

Während der mündlichen Verhandlung behauptete die Beschwerdegegnerin, dass Vorteile auf der Tatsache beruhen, dass ein Messen der Daten der Ist-Größe wegen der inhärent in einem Prozessmodell vorhandenen Ungenauigkeiten zu genaueren Ergebnissen führt.

5.3 Zu lösende Aufgabe

Laut Streitpatent ist die zu lösende Aufgabe das Bereitstellen eines AOD-Verfahrens, welches Produktionssteigerungen, Energieeinsparung, Verkürzung der "tap-to-tap"-Zeit, eine Optimierung des Zuschlages von Stoffen sowie die höhere Haltbarkeit der eingesetzten Feuerfestmaterialien ermöglicht (Absatz [13]).

5.4 Vorgeschlagene Lösung

Es wird vorgeschlagen, diese Aufgabe mit dem AOD-Verfahren nach Anspruch 1 zu lösen, wobei die Daten der Ist-Prozessgröße durch Messung erhoben werden.

5.5 Erfolg der vorgeschlagenen Lösung

Diese Aufgabe kann jedoch nicht als gelöst angesehen werden.

Im Gegensatz zu einer Berechnung ermöglicht es eine Messung der Ist-Prozessgröße zwar, auf einem zwangsläufig unvollständigen Modell beruhende Abweichungen der Prozessgröße auszuschließen (kein Modell kann alle Details eines AOD-Prozesses vollständig abbilden), aber dafür können Ungenauigkeiten durch Pannen und Probleme innerhalb der Messkette (Sensor etc.) auftreten.

Es ist daher nicht plausibel, dass die Messung der Daten der Ist-Prozessgröße - anstelle der Berechnung in der D14 - die Aufgabe löst. Somit ist der Unterschied nicht mit einem Effekt verbunden, zumindest wurde kein diesbezüglicher Effekt nachgewiesen.

5.6 Neuformulierung der Aufgabe

Die zu lösende Aufgabe ist aus diesen Gründen lediglich das Bereitstellen einer Alternative.

Dieser Definition der Aufgabe schloss sich die Beschwerdegegnerin letztlich auch an.

5.7 Naheliegen

Die chemische Zusammensetzung zu messen, anstatt sie zu berechnen, wie in D14 offenbart, ist jedoch eine naheliegende Alternative.

Prinzipiell gibt es nur diese beiden Möglichkeiten, und der Fachperson sind die jeweiligen Vor- und Nachteile bekannt. Sie weiß, dass eine Messung die übliche Praxis darstellt. Sie weiß aber auch, dass beispielsweise Defekte an den Sensoren auftreten können. Andererseits stellen die neuronale Netze der D14 ein komplexes Prozessmodell dar. Aus diesem Grund scheint die Messung sogar die zugänglichere Alternative zu sein.

In der D14 wird die Messung von Konzentrationen in der Metallschmelze an mehreren Stellen angesprochen: Die Messung des Kohlenstoffgehalts auf Seite 2, letzter Abschnitt, die Messung der Metallkonzentrationen auf Seite 6, Abschnitt 1, auf Seite 19, Abschnitt 2, und auf Seite 20, letzter Absatz.

Daher kann das Messen der chemischen Zusammensetzung keine erfinderische Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ rechtfertigen.

5.8 Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass die Fachperson, ausgehend von der D14, die neuronalen Netze durch eine Messung ersetzen würde, da sie keine Veranlassung dazu hätte.

Dazu wird jedoch angemerkt, dass es für das Naheliegen einer Alternative keiner speziellen Motivation bedarf (siehe beispielsweise die T 1102/00, Entscheidungsgründe 14).

5.9 Die Beschwerdegegnerin ist außerdem der Auffassung, dass eine Messung eine lange Zeit in Anspruch nehmen würde, und dass die Fachperson sie deswegen nicht in Betracht ziehen würde.

Dieses Argument ist ebenfalls nicht überzeugend, denn Messungen der Zusammensetzung (oder auch der Temperatur) sind nicht zwingend langwierig. Selbst im Streitpatent werden Messmethoden als bekannt angesehen, die die Ergebnisse unmittelbar zum Zeitpunkt der Erhebung bereitstellen (Abschnitt [16]). Die Fachperson würde daher eine den Umständen angemessene Messmethode auswählen.

6. Hilfsantrag 2

Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags enthält als zusätzliches Merkmal die Präzisierung, dass die Metallschmelze für das AOD-Verfahren Chrom und Nickel enthält.

Da dieses Merkmal jedoch in der D14 bereits offenbart ist (beispielsweise auf Seite 6, Abschnitt 1), gilt die Argumentation bzgl. der erfinderischen Tätigkeit des ersten Hilfsantrags analog auch für den zweiten Hilfsantrag, welcher somit ebenfalls nicht die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ erfüllt.

7. Hilfsantrag 3

Anspruch 1 des dritten Hilfsantrag enthält als weiteres Merkmal die Präzisierung, dass die Ist-Prozessgröße zusätzlich zur chemischen Zusammensetzung die Temperatur der Metallschmelze beinhaltet.

Doch auch dieses neue Merkmal ist in der D14 bereits offenbart: Die "Ist"-Temperatur und der "Ist"-Kohlenstoffgehalt werden zur Grundlage für die Entscheidung über weitere Schritte beschrieben (Seite 19, Zeilen 17 ff.; Seite 20, zweiter Abschnitt). Während des Einblasens berechnet das neuronale Netzwerk 4 die Badtemperatur nach Beendigung des Einblasens in Abhängigkeit von, unter anderem, der Badtemperatur zu Beginn des Einblasvorgangs (Seite 19 Abschnitt 3, insbesondere Zeilen 6-10).

Daher gilt die Argumentation bzgl. der erfinderischen Tätigkeit des ersten Hilfsantrages entsprechend auch für den dritten Hilfsantrag, welcher somit ebenfalls nicht die Erfordernisse von Artikel 56 EPÜ erfüllt.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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