T 1942/15 (Automatische Bestimmung des Hörerwunsches/SIVANTOS) of 30.1.2020

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2020:T194215.20200130
Datum der Entscheidung: 30 Januar 2020
Aktenzeichen: T 1942/15
Anmeldenummer: 07117099.7
IPC-Klasse: H04R 25/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum zeitgesteuerten Einstellen einer Hörvorrichtung und entsprechende Hörvorrichtung
Name des Anmelders: Sivantos GmbH
Name des Einsprechenden: Oticon A/S / GN ReSound A/S
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - (ja): glaubhafter technischer Effekt
Zulassung ins Verfahren - spät eingereichter Stand der Technik (nein): keine angemessene Reaktion und nicht prima facie relevant
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0010/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der gemeinsamen Einsprechenden (Beschwerdeführerinnen) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zurückweisung des Einspruchs gegen das Streitpatent. Der gemeinsame Einspruch war auf den in Artikel 100(a) EPÜ genannten Einspruchsgrund fehlender Patentierbarkeit gestützt.

II. Im Einspruch wurde unter anderem auf die folgenden Druckschriften verwiesen:

E1: EP 1 576 852 B1,

E2: EP 1 453 357 A2.

Da E1 als "B1"-Fassung nicht zum Stand der Technik nach Artikel 54(2) EPÜ gehört, wird stattdessen im Folgenden die "A2"-Fassung herangezogen, nämlich

E1': WO 2004/056154 A2.

Nach Ablauf der Einspruchsfrist wurde zudem das folgende Dokument eingereicht:

E5: EP 1 845 751 A1.

E5 stellt Stand der Technik gemäß Artikel 54(3) EPÜ dar und wurde im Einspruchsverfahren nach Artikel 114(2) EPÜ nicht berücksichtigt.

III. Im Beschwerdeverfahren stützten sich die Beschwerdeführerinnen erstmals auch auf zwei weitere Einspruchsgründe, nämlich Gründe gemäß Artikel 100(b) und (c) EPÜ.

IV. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragt als Hauptantrag, die Beschwerde zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt sie, das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß einem der Hilfsanträge 1 bis 3 aufrechtzuerhalten.

V. Am Ende der mündlichen Verhandlung am 30. Januar 2020 wurde die Entscheidung der Kammer verkündet.

VI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet:

"Verfahren zum Einstellen einer Hörvorrichtung

durch

- automatisches Klassifizieren (S2) einer Hörsituation,

- Einstellen eines Parameters einer Signalverarbeitungseinrichtung der Hörvorrichtung,

- automatisches Lernen (S5) des eingestellten

Parameters für die aktuelle Hörsituation und

- zeitliches Überwachen (S4) der Schritte "Klassifizieren" und "Einstellen",

gekennzeichnet durch

- Auslösen des automatischen Lernens (S5) erst

dann, wenn sich die klassifizierte Hörsituation

und der eingestellte Parameter eine vorgegebene

Zeitdauer nicht geändert haben."

Anspruch 4 des Hauptantrags lautet:

"Hörvorrichtung mit

- einer Klassifikationseinrichtung zum Klassifizieren (S2) einer Hörsituation,

- einer Signalverarbeitungseinrichtung, die an

die Klassifikationseinrichtung angeschlossen

ist,

- einer Einstelleinrichtung zum Einstellen eines

Parameters der Signalverarbeitungseinrichtung,

- einer Lerneinrichtung zum automatischen Lernen (S5) des eingestellten Parameters für die

aktuelle Hörsituation und

- einer Zeitüberwachungseinrichtung zum zeitlichen

Überwachen (S4) der Klassifikationseinrichtung

und der Einstelleinrichtung

dadurch gekennzeichnet, dass

- die Zeitüberwachungseinrichtung dazu ausgebildet

ist, ein automatisches Lernen (S5) der

Lerneinrichtung auszulösen, sobald sich die

klassifizierte Hörsituation und die Einstellung eine

vorgegebene Zeitdauer nicht geändert haben."

Entscheidungsgründe

1. Hauptantrag: Merkmale Anspruch 1

Anspruch 1 des Hauptantrags umfasst folgende einschränkenden Merkmale (Merkmalsgliederung durch die Kammer):

a) Verfahren zum Einstellen einer Hörvorrichtung durch

b) automatisches Klassifizieren einer Hörsituation,

c) Einstellen eines Parameters einer Signalverarbeitungseinrichtung der Hörvorrichtung,

d) automatisches Lernen des eingestellten Parameters für die aktuelle Hörsituation,

e) zeitliches Überwachen der Schritte "Klassifizieren" und "Einstellen",

f) Auslösen des automatischen Lernens erst dann, wenn sich die klassifizierte Hörsituation und der eingestellte Parameter eine vorgegebene Zeitdauer nicht geändert haben.

2. Hauptantrag: Einspruchsgründe nach Artikel 100(b) und 100(c) EPÜ

In der Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer nach Artikel 15(1) VOBK 2007 haben die Beschwerdeführerinnen zum ersten Mal Einwände bezüglich mangelnder Ausführbarkeit und unzulässiger Erweiterung im Hinblick auf das Streitpatent geltend gemacht.

Solche neuen Einspruchsgründe dürfen gemäß G 10/91, ABl. 1993, 420 (Leitsatz, Punkt 3) im Einspruchsbeschwerdeverfahren nur mit dem Einverständnis der Patentinhaberin geprüft werden. Ein solches Einverständnis hat die Beschwerdegegnerin ausdrücklich nicht erteilt.

3. Hauptantrag: Einspruchsgründe nach Artikel 100(a) EPÜ

3.1 Zulassung von Dokument E5 in das Verfahren

3.1.1 Dokument E5 wurde durch die Einspruchsabteilung nicht berücksichtigt, da es verspätet eingereicht worden sei und prima facie der Aufrechterhaltung des Streitpatents nicht entgegenstünde.

3.1.2 Dem treten die Beschwerdeführerinnen mit dem Argument entgegen, dieses Dokument sei prima facie neuheitsschädlich nach Artikel 54(3) EPÜ und daher sehr wohl zu berücksichtigen.

3.1.3 Für die Entscheidung über die Berücksichtigung eines Dokuments im Verfahren, das durch die Vorinstanz nicht zugelassen wurde, sind verschiedene Kriterien heranzuziehen.

Erstens impliziert nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern das durch Artikel 114(2) EPÜ eingeräumte Ermessen notwendigerweise, dass das erstinstanzliche Organ des EPA bei der Ermessensausübung einen gewissen Freiraum hat. Nach ständiger Rechtsprechung sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat.

Zweitens kann nach dem Ermessen einer Beschwerdekammer nach Artikel 12(4) VOBK 2007 i.V.m. Artikel 25(2) VOBK 2020 ein von der ersten Instanz nicht berücksichtigtes Dokument dennoch in das Verfahren zugelassen werden, wenn es z.B. als angemessene Reaktion auf Verfahrensschritte anderer Verfahrensbeteiligter oder der Kammer eingereicht wurde.

3.1.4 Im vorliegenden Fall besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Vorinstanz ihr Ermessen nicht im Einklang mit den gängigen Kriterien ausgeübt hat. Eine unrichtige Ermessensausübung im Sinne der angeführten Grundsätze haben die Beschwerdeführerinnen auch nicht einmal behauptet. Des Weiteren ist die Vorlage der E5 weder eine angemessene Reaktion noch ist dieses Dokument als prima facie relevant anzusehen.

3.1.5 Hinsichtlich des vorinstanzlich ausgeübten Ermessens und des Artikels 12(4) VOBK 2007 argumentierten die Beschwerdeführerinnen, dass das Einreichen der E5 eine angemessene Reaktion auf eine überraschende Auslegung des Anspruchs 1 seitens der Einspruchsabteilung war. Insbesondere sei die Einspruchsabteilung der Auffassung der Beschwerdegegnerin gefolgt, wonach Anspruch 1 gemäß Merkmal b) und e) zwei Klassifikationen umfassen würde. Die Beschwerdeführerinnen betonten, dass eine solche Auslegung vom expliziten Wortlaut des Anspruchs abweiche und nicht in den Abbildungen gezeigt werde. Dadurch sei eine zusätzliche Recherche erforderlich gewesen. Somit habe die Einspruchsabteilung ihr Ermessen falsch ausgeübt.

3.1.6 Dem kann nicht gefolgt werden. Aus der Begründung der angefochtenen Entscheidung betreffend die Zulassung der E5 in das Verfahren geht die oben genannte Auslegung bezüglich der zwei Klassifikationen nicht hervor. Des Weiteren wäre eine solche Auslegung weder abwegig noch überraschend.

3.1.7 Hinsichtlich der prima facie Relevanz argumentierten die Beschwerdeführerinnen, dass Absatz [0003], insbesondere Spalte 4, vorletzter Absatz und Absatz [0006] der E5 im Hinblick auf die Begriffe "Hörgeräteeinstellung", "Schallklassen" und "Nutzereinstellung" die Merkmale a) bis c) offenbarten. Das Merkmal f) werde ebenso in Absatz [0006] offenbart und zwar in Spalte 7, Zeilen 41-45, wonach eine Überprüfung stattfinde, ob der Nutzer die Einstellungen geändert habe. Bezüglich der Änderung der jeweiligen Hörsituation wurde auf den in Spalte 7, Zeile 28 der E5 erwähnten Logging-Takt, womit die aktuellen Einstellungen erfasst werden und auf die ersten zwei Sätze des Absatzes [0003] verwiesen. Laut diesen zwei Sätzen könne das Zeitintervall, nach dessen Ablauf automatisch eine Erfassung der aktuellen Nutzereinstellung erfolge, schallspezifisch, d.h. je nach Schallklasse, gewählt werden. So entstünden für unterschiedliche Hörsituationen entsprechend unterschiedliche Zeitintervalle, in denen die Einstellungen den jeweiligen Hörsituationen zugeordnet werden würden. Das Ende eines solchen Intervalls könne lediglich dann erreicht werden, wenn sich die Hörsituation nicht ändere. Somit würden zwei Fragen auf einmal beantwortet werden, nämlich ob die vorgegebene Zeit abgelaufen sei und ob die Hörsituation sich geändert habe. Das Erfassen der aktuellen Nutzereinstellungen finde zusammenfassend statt, d.h. dass ein automatisches Lernen ausgelöst werde, wenn sich die Nutzereinstellungen in E5 nicht geändert haben und das Ende eines Zeitintervalls erreicht wurde (d.h. wenn eine konstante Hörsituation aufgetreten sei).

3.1.8 Hierzu hält die Kammer fest, dass es sich bei E5 um Stand der Technik nach Artikel 54(3) EPÜ handelt, während die von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachte Auslegung nicht lückenlos auf unmittelbare und eindeutige Weise aus E5 hervorgeht, da sie mehrere Annahmen voraussetzt, die für die Fachperson nicht ohne Schwierigkeit ersichtlich sind. So kann die Kammer zum einen keinen eindeutigen Hinweis darauf finden, was in E5 geschieht, wenn sich die Hörsituation ändert. Insbesondere ist aufgrund der von den Beschwerdeführerinnen genannten Passagen unklar, ob das Zeitintervall bei einem Wechsel der Hörsituation wieder von Neuem anfängt oder ob die Zeitintervalle immer in Abhängigkeit der Hörsituation gewählt werden und zwar so, dass ein Wechsel in der Praxis nicht stattfindet. Zum anderen ist es für die Fachperson nicht unmittelbar ersichtlich, ob und gegebenenfalls wie die von den Beschwerdeführerinnen angesprochene und in Spalte 7, Zeile 41 der E5 erwähnte Überprüfung, ob eine Veränderung der Einstellungen vorliegt, mit der in Absatz [0003] genannten Erfassung der Nutzereinstellungen zusammenhängt. Insbesondere gehören die Erfassung und die Überprüfung, wie von der Beschwerdegegnerin angeführt, nicht notwendigerweise zum selben Ausführungsbeispiel, da in den Absätzen [0003] bis [0007] verschiedene Änderungen der in Absatz [0003] anfänglich genannten Ausführungsvariante vorgeschlagen werden, siehe z.B. die von der Beschwerdegegnerin herangezogenen Textstellen in Spalte 5, Zeilen 27-34 und Spalte 6, Zeilen 15-21 (das Wort "beispielsweise" deutet auf eine Änderung hin), oder den Wortlaut "Gemäss einem Vorschlag" auf Spalte 6, Zeile 5 und "Wiederum gemäss einer weiteren Ausführungsvariante" in Spalte 6, Zeilen 22-23 der E5.

Auch wenn die Kammer den Beschwerdeführerinnen darin zustimmt, dass eine Argumentation bezüglich der

prima facie Relevanz eines Stands der Technik tatsächlich auf mehreren Absätzen des Dokuments beruhen kann, ist sie jedoch der Ansicht, dass im Allgemeinen die Zusammenhänge zwischen den Absätzen für die Fachperson zumindest nachvollziehbar, im vorliegenden Fall sogar ohne Schwierigkeiten ersichtlich sein sollten.

3.1.9 Daher hat die Kammer das Dokument E5 aufgrund mangelnder prima facie Relevanz nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen.

3.2 Hauptantrag: Anspruch 1 - Erfinderische Tätigkeit

3.2.1 Ausgehend von E1' als nächstliegendem Stand der Technik

Das Dokument E1' offenbart die folgenden Merkmale von Anspruch 1:

a) ein Verfahren zum Einstellen einer Hörvorrichtung (Abbildung 1) durch

b) automatisches Klassifizieren einer Hörsituation (Seite 3, Zeilen 11-18; Seite 7, Zeilen 15-29);

c) Einstellen eines Parameters einer Signalverarbeitungseinrichtung der Hörvorrichtung (Seite 9, Zeilen 10-16: "user chosen PPS" in einem Lernmodus "manual mode"; Seite 10, Zeile 27 - Seite 11, Zeile 8: "the user may also be given control of the gain through a further user input possibility" im Automatikmodus "automatic mode");

d) automatisches Lernen des eingestellten Parameters für die aktuelle Hörsituation (Seite 9, Zeilen 10-16: Verknüpfung zwischen charakteristischen akustischen Werten "CAV" und Parametersätzen "PPS"; Seite 10, Zeile 27 - Seite 11, Zeile 8: Anpassung der eingestellten Lautstärke im manuellen Lernmodus "learning mode" und im Automatik-Modus).

3.2.2 Folglich unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 vom aus der E1' bekannten Verfahren dadurch, dass er zusätzlich folgende Schritte aufweist (Hervorhebung durch die Kammer):

e) zeitliches Überwachen der Schritte "Klassifizieren" und "Einstellen";

f) Auslösen des automatischen Lernens erst dann, wenn sich die klassifizierte Hörsituation und der eingestellte Parameter eine vorgegebene Zeitdauer nicht geändert haben.

3.2.3 Laut der Patentschrift (siehe Absatz [0014]) ließe sich aufgrund der obigen Maßnahmen eine schnelle und unkomplizierte Anpassung des Hörgeräts an den "individuellen Höreindruck" des Nutzers erzielen. Dadurch, dass das Gerät lernt und dabei seine Einstellungen verbessert, ohne dass dies manuell getan werden müsste, würde sich die Handhabung des Geräts vereinfachen. Diese Anpassung an den "Hörerwunsch" ist scheinbar der Annahme geschuldet, dass die Ermittlung dieses Hörerwunsches wohl zuverlässiger erfolgt, wenn ein Nutzer die mit einer ganz bestimmten Hörsituation einhergehende Parametereinstellung (wie z.B. die Lautstärke in einem öffentlichen Gebäude) über eine (längere) Zeitspanne konstant hält, so dass man davon ausgehen kann, dass diese Einstellung dem Hörerwunsch entspricht und nicht zufällig bzw. versehentlich gewählt wurde.

3.2.4 Der Ausdruck "vorgegebene Zeitdauer" in Merkmal f) wird nun in Anspruch 1 im Zusammenhang mit einer Überprüfung einer potentiellen Änderung der Hörsituation und/oder der Nutzereinstellungen verwendet. Dies setzt wiederum voraus, dass die Überprüfung eine Zeitspanne umfasst, in der sich die Hörsituation und die Nutzereinstellungen üblicherweise ändern. Die Kammer ist der Ansicht, dass dieser Zeitraum für Hörsituationen im Sekunden- bis Stunden-Bereich liegt, wobei typischerweise innerhalb von einer halben Minute bis einigen Minuten nach Auftreten einer bestimmten Hörsituation eine geeignete Einstellung ausgewählt wird.

Der Wortlaut eines Anspruchs sollte bekanntlich so ausgelegt werden, wie eine Fachperson ihn üblicherweise verstehen würde. Im aktuellen Fall ist es für die Fachperson aufgrund ihres allgemeinen Fachwissens unmittelbar ersichtlich, dass die vorgegebene Zeitspanne nicht "beliebig kurz" gewählt werden kann. Es sollte nämlich für die Erfassung und Auswertung einer ausreichenden Menge von Schalldaten und deren Zuordnung zur aktuell vorliegenden Hörsituation in einer Klasse genügend Zeit zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sollte eine solche Zeitspanne angemessen sein, um eine Änderung der Hörsituation oder der Nutzereinstellungen sinnvoll überprüfen zu können. Die "vorgegebene Zeitdauer" sollte demnach größer sein als jene wenigen (Bruchteile von) Sekunden, die ein Prozessor braucht, um eine Hörsituation zu klassifizieren und insbesondere eine typische Zeitspanne (z.B. Minuten oder Stunden) umfassen, die ein Nutzer in einer bestimmten Hörsituation verbringt. Andernfalls hätte es wenig Sinn, überhaupt zu überprüfen, ob Änderungen der Hörsituation und/oder der Nutzereinstellungen aufgetreten sind.

Die Beschwerdeführerinnen verwiesen in Bezug auf die Merkmale e) und f) auf Seite 9, Zeilen 10-16 der E1', insbesondere auf den Wortlaut "the capture and storing of environment data or characterizing acoustic values (CAV) is not commenced before some time has lapsed without changes in the choice of PPS" und argumentierten, dass E1' diese Merkmale, insbesondere den Wortlaut "erst dann, wenn", neuheitsschädlich vorwegnehme, und zwar auch dann, wenn dieser Wortlaut als eine Bedingung interpretiert werden würde. Sie betonten, dass die dort gezeigte Verknüpfung ("PPS-CAV Pairing") zwischen der Hörklasse (CAV) und dem Parametersatz (PPS) die Grundlage für das automatische Lernen gemäß Seite 10, Zeilen 4-19 der E1' darstelle und dass alle CAVs, die während der Zeit auftreten, in der sich die PPS nicht geändert hätten, in ein Klassifikationsschema passen müssten, um diese Verknüpfung zu ermöglichen.

Es ist zwar nicht zu bezweifeln, dass das "Erlernen" der Zuordnung eines eingestellten Parametersatzes (PPS) für eine Hörsituation (CAV) wie in E1' als ein "automatisches Lernen" anzusehen ist, doch erfordert die obige Passage von E1' lediglich, dass sich die Parametereinstellung nicht geändert hat und nicht, wie für Merkmal f) erforderlich, dass sich die klassifizierte Hörsituation (CAV) ebenfalls nicht geändert hat. Insbesondere wies die Beschwerdegegnerin zutreffend darauf hin, dass der zweite Satz des zweiten Absatzes der Seite 9 der E1' zeigt, dass das Erfassen von Schalldaten an sich schon unterbunden wird. Demzufolge liegt nicht einmal eine Hörsituation als zweite Komponente der in Merkmal f) enthaltenen Bedingung vor. Des Weiteren ist der Beschwerdegegnerin darin zuzustimmen, dass die Beschwerdeführerinnen das Ausführungsbeispiel für den Lernmodus gemäß Seite 9, Zeilen 10-16 mit demjenigen für den Automatikmodus gemäß Seite 10, Zeilen 4-19 unzulässigerweise kombinierten.

3.2.5 Objektive technische Aufgabe

Zur Frage, ob durch die Unterscheidungsmerkmale e) und f) tatsächlich ein technischer Effekt über die gesamte Breite des Anspruchs erzielt wird, führten die Beschwerdeführerinnen an, dass die "vorgegebene Zeitdauer" nach Absatz [0020] der Patentschrift "beliebig kurz" gewählt und demnach die besagten Fehler beim Ermitteln des Hörerwunsches nicht für eine beliebige Zeitdauer vermieden werden könnten. Somit könnte ein solcher technischer Effekt nicht über die gesamte Breite des Anspruchs, d.h. für jedwede "Zeitdauer" der Überwachung glaubhaft erzielt werden.

Der eigentliche technische Effekt sei daher bloß darin zu sehen, dass eine Alternative an sich zur Verfügung gestellt werde. Im Hinblick darauf, dass der Nutzer in E1' wissen müsste, wann eine bestimmte Situation geeignet sei, um den Lernmodus einzuschalten, wäre es eine plausible objektive technische Aufgabe, "eine Alternative zur Erleichterung der Bedienung in E1' bereitzustellen".

Die Kammer kann diese Ansicht nicht teilen, da die Fachperson den Ausdruck "vorgegebene Zeitdauer" - wie oben unter Punkt 3.2.4 ausgeführt - sinnvoll auslegen würde. Der den Unterscheidungsmerkmalen innewohnende technische Effekt ist vielmehr darin zu sehen, wie von der Beschwerdegegnerin zutreffend vorgebracht, dass auf alternative Weise Fehler beim Ermitteln des Hörerwunsches vermieden werden. Die entsprechende zu lösende objektive technische Aufgabe ist mithin "die Bereitstellung eines alternativen Verfahrens, wodurch Fehler in der Ermittlung des Hörerwunsches im System gemäß E1' vermieden werden können".

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Einspruchsabteilung zur Frage des tatsächlich erzielten technischen Effekts bzw. der zu lösenden objektiven Aufgabe nicht Stellung genommen und demnach nicht den Aufgabe-Lösungs-Ansatz bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angewandt hat (siehe Gründe 11 und 12 der angefochtenen Entscheidung).

3.2.6 Naheliegen

Es ist nicht zu erkennen, wie die Fachperson aufgrund ihres allgemeinen Fachwissens oder eines Hinweises im vorhandenen Stand der Technik und ohne rückschauende Betrachtung zu einer Ausführungsform gelangen würde, die dem beanspruchten Gegenstand entspricht.

In E1' wird auf Seite 10, Zeile 21 bis Seite 11, Zeile 8 beschrieben, dass ein Nutzer sowohl im "manuellen Lernmodus" als auch im "Automatik-Modus" die durch das Hörgerät vorgenommene Parameterauswahl, z.B. die Lautstärke, ändern kann. Der gespeicherte Verstärkungswert wird demnach in Schritten von 1dB geändert. Durch die schrittweise Anpassung wird in E1' eine gewisse Toleranz gegen Fehleinstellungen eingebaut. Ferner zeigt E1' im zweiten Absatz der Seite 9, dass mit dem Erfassen und Speichern von

CAV-Werten im Lernmodus erst dann angefangen wird, wenn über einen gewissen Zeitraum keine Einstellungsänderungen seitens des Nutzers vorliegt. Auch dies beugt Fehleinstellungen vor.

Die Beschwerdeführerinnen argumentierten, dass der zweite Absatz der Seite 9 in E1' zeige, dass das Erfassen und Speichern von Umgebungsdaten nicht beginne, bevor sich die Nutzereinstellungen für eine gewisse Zeit nicht geändert haben. Darin sei umfasst, dass ebenfalls darauf gewartet werde, dass sich die Hörsituation nicht ändere, da der Nutzer automatisch die Einstellungen ändern würde, sobald eine neue Hörsituation vorliege. Zumindest wäre es - falls die Nutzereinstellungen als erste Komponente konstant bleiben sollten - für die Fachperson aufgrund des zweiten Absatzes der Seite 9 naheliegend, auch die Hörsituation als zweite Komponente zu überwachen.

Dies vermag nicht zu überzeugen: Unterschiedliche Hörsituationen können - je nachdem wie viele Parameter für diese Hörsituation in Betracht gezogen werden - durchaus einen gleichen Wert der relevanten Einstellungen aufweisen. Wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, trägt in E1' der Nutzer die Verantwortung, im Lernmodus beim Lernen der Parametereinstellungen innerhalb einer gewissen Hörsituation zu bleiben. Falls es versehentlich doch zu einer Fehleinstellung kommen sollte, so kann der gespeicherte Wert, wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt, nach dem auf Seite 10, Zeile 27 bis Seite 10, Zeile 8 von E1' beschriebenen Verfahren korrigiert werden.

Alternativ könnte eine Gewichtung gemäß Absatz [0020] der E2 herangezogen werden, welche den Effekt einer Fehleinstellung reduziert. Als eine weitere Alternative könnte die Fachperson zusätzlich zu der im zweiten Absatz der Seite 9 angegebenen Zeitspanne pauschal eine weitere, gegebenenfalls von der Hörsituation abhängige, Wartezeit zum Erfassen der Nutzereinstellungen einbauen, um sicherzustellen, dass die Hörsituation stabil geblieben ist. Dieses Vorgehen wäre weniger prozessorlastig und somit stromsparender als die in Merkmal f) vorgesehene zeitliche Überwachung. Die Fachperson würde daher, wenn überhaupt, zur Lösung der oben genannten objektiven technischen Aufgabe vielmehr eine zusätzliche pauschale Wartezeit als eine weitere zeitliche Überwachung eines zusätzlichen Parameters einbauen.

3.2.7 Ausgehend von E2 als nächstliegendem Stand der Technik

Das Dokument E2 offenbart die folgenden Merkmale von Anspruch 1:

a) ein Verfahren zum Einstellen einer Hörvorrichtung (Absatz [0001]) durch

b) automatisches Klassifizieren einer Hörsituation (Absatz [0017]: "charakteristischer Schallgrößen"; Absatz [0018]; Absatz [0019]: "einer für denselben Zeitraum vorliegenden physikalischen Analyse der akustischen Situation");

c) Einstellen eines Parameters einer Signalverarbeitungseinrichtung der Hörvorrichtung (Absatz [0015]: "Verstärkung");

d) automatisches Lernen des eingestellten Parameters für die aktuelle Hörsituation (Absatz [0018]: "automatisches Erlernen"; Absatz [0019], erster Satz: der Nutzer teilt die gewünschte Verstärkung für die vorliegende Hörsituation mit).

3.2.8 Folglich unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 vom aus der E2 bekannten Verfahren ebenfalls durch die Merkmale e) und f).

3.2.9 Bezüglich des Merkmals e) verwiesen die Beschwerdeführerinnen auf Absatz [0019] der E2 und argumentierten, dass die dort angegebene Bedingung "für denselben Zeitraum" (Spalte 3, Zeile 43) irgendwie überwacht werden müsste.

Die Kammer bezweifelt jedoch, dass der Ausdruck "für denselben Zeitraum" in E2 eindeutig eine Bedingung darstellt. Vielmehr könnte dieser "Zeitraum" eine unmittelbare Konsequenz der konkreten Ausführung der Vorrichtung gemäß E2 sein. Darüber hinaus könnten eine vorgegebene Verstärkung und eine vorliegende physikalische Analyse der Hörsituation durch geeignetes Speichern der Verstärkung und der Analyse auf einfache Weise zeitlich abgestimmt werden, ohne dass dies einer Überprüfung oder Überwachung bedürfte. Diese zeitliche Abstimmung könnte in diesem Fall auch dann erfolgen, wenn die Hörsituation, wie im letzten Satz von Absatz [0015] der E2 erwähnt, erst nach dem Auslösen des Einstellens akustisch erkannt wird, z.B. durch Einführen eines Zeitstempels für die erfassten Umgebungsdaten. Zudem ist die Kammer der Ansicht, dass in E2 eine korrekte Zuordnung des eingestellten Parametersatzes zur klassifizierten Hörsituation in offensichtlicher Weise bereits gewährleistet wird, z.B. durch ein zeitlich abgestimmtes Speichern der Verstärkung und der die vorliegende Hörsituation charakterisierenden Analysewerte. Wäre dies nicht in offensichtlicher Weise gegeben, sondern z.B. mittels einer Überwachung ausgeführt, so hätte die E2 dies mit mehr Einzelheiten zum Ausdruck gebracht.

3.2.10 Im Hinblick auf Merkmal f) verwiesen die Beschwerdeführerinnen auf Absatz [0015] von E2 und insbesondere auf die dort erwähnte manuell oder zeitlich gesteuerte Auslösung eines Justiervorgangs.

Es ist jedoch nicht erkennbar, dass diese Auslösung erst dann stattfinden würde, wenn sich die klassifizierte Hörsituation und der eingestellte Parameter eine vorgegebene Zeitdauer nicht geändert haben.

3.2.11 Objektive technische Aufgabe

Die oben in Punkt 3.2.5 angegebene technische Wirkung und die zugehörige objektive Aufgabe gilt auch hier. Im Zusammenhang mit der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zogen die Beschwerdeführerinnen die Absätze [0015], [0018] und [0019] der E2 heran und argumentierten, dass der Nutzer in E2 den Justiervorgang auslösen könnte, falls er erkennen sollte, dass eine bestimmte akustische Situation für ihn charakteristisch sei. Sie betonten im Hinblick auf Absatz [0019], dass eine akustische Situation nicht nur dann charakteristisch sein könne, wenn sie besonders laut sei, sondern vor allem wenn sie eine gewisse Zeit vorliege. Außerdem zeige Absatz [0015], dass der Justiervorgang "auf andere Weise automatisch" ausgelöst werden könne. Die Beschwerdeführerinnen sahen die objektive Aufgabe darin, "eine praktikable Lösung für dieses automatische Auslösen bereitzustellen". Sie argumentierten ferner, dass die Fachperson zur Lösung dieser Aufgabe den zweiten Absatz der Seite 9 der E1' heranziehen und warten würde, bis der Nutzer die Einstellungen nicht mehr ändert.

3.2.12 Naheliegen

Ungeachtet dessen, ob die Fachperson eine Kombination von E2 mit E1' überhaupt in Betracht ziehen würde, offenbart E1' aus den oben genannten Gründen die Merkmale e) und f) nicht. Die von den Beschwerdeführerinnen angegebene Kombination kann demnach nicht zum Gegenstand von Anspruch 1 führen.

3.3 Die Beschwerdeführerinnen haben in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer keinen weiteren Stand der Technik als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit geltend gemacht.

3.4 Da zudem die strukturellen Merkmale von Anspruch 4 den Verfahrensschritten von Anspruch 1 entsprechen (siehe Punkt VI oben), gelangt die Kammer zum Schluss, dass der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 4 des Patents wie erteilt neu und erfinderisch gegenüber dem berücksichtigten Stand der Technik ist (Artikel 54 und 56 EPÜ).

4. Schlussfolgerung

Die von den Beschwerdeführerinnen geltend gemachten Einspruchsgründe sind entweder nicht in das Verfahren zuzulassen (siehe Punkt 2 oben) oder stehen der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen (siehe Punkt 3 oben). Mithin ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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