T 1349/15 () of 13.12.2017

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2017:T134915.20171213
Datum der Entscheidung: 13 Dezember 2017
Aktenzeichen: T 1349/15
Anmeldenummer: 07820724.8
IPC-Klasse: B60J 1/20
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: ANTRIEBSVORRICHTUNG ZUM BEWEGEN EINES ABDECKELEMENTES, TÜRBAUGRUPPE UND VERFAHREN ZUR MONTAGE DER ANTRIEBSVORRICHTUNG
Name des Anmelders: Macauto Industrial Co., Ltd.
Name des Einsprechenden: Küster Automotive Door Systems GmbH
BOS GmbH & Co. KG Worldwide Headquarters Stuttgart
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54(1)
European Patent Convention Art 56
European Patent Convention Art 123(2)
European Patent Convention Art 84
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13(1)
Schlagwörter: Spät eingereichter Antrag - zugelassen (ja)
Klarheit (ja)
Unzulässige Erweiterung (nein)
Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Verspätetes Vorbringen - zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden 02 (BOS GmbH & Co KG) richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1979182 in geändertem Umfang, zur Post gegeben am 22. April 2015.

II. Dabei hat die Einspruchsabteilung im Wesentlichen festgestellt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu ist und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

Dabei hat sie sich unter anderem auf die folgenden Dokumente bezogen:

DE 20 2004 014 652 U1 (E4)

DE 10 2005 021 399 A1 (E10)

EP 1182066 A2 (E12)

III. Am 13. Dezember 2017 wurde vor der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mündlich verhandelt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende 02) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage der folgenden Unterlagen (einziger Antrag):

Ansprüche 1 bis 17 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 1;

Beschreibung Spalten 1 bis 39 wie als Anlage der angefochtenen Entscheidung beigefügt;

Figuren 1 bis 29 wie im erteilten Patent.

Der bisherige Hauptantrag wurde nicht weiter verfolgt.

IV. Anspruch 1 gemäß dem einzigen Antrag, vorgelegt als Hilfsantrag 1 während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer, lautet wie folgt (die Hervorhebung im Fettdruck kennzeichnet das im Beschwerdeverfahren hinzugefügte Merkmal, Hervorhebung durch die Kammer):

Antriebsvorrichtung (3) zum Bewegen eines Abdeckelements (2) zum Abdecken einer Öffnung (4) in einem Kraftfahrzeug, insbesondere eines Sonnenrollos, einer Kofferraumabdeckung oder einer Schiebedachabdeckung, mit

- einem Antrieb (33),

- einem Führungsmittel (31),

- einem mit dem Antrieb (33) gekoppelten Schubelement (32), das in dem Führungsmittel (31) geführt und zum Bewegen des Abdeckelementes (2) mit dem Abdeckelement (2) verbindbar ist,

wobei der Antrieb (33) zum Antreiben des Schubelements (32) über ein Übertragungsmittel (38) mit dem Schubelement (32) gekoppelt ist, wobei das Übertragungsmittel (38) sich zumindest abschnittsweise in dem Führungsmittel (31) erstreckt,

dadurch gekennzeichnet,

dass das Übertragungsmittel (38) als flexibles, ausschließlich auf Zug belastetes Seil (38) ausgebildet ist und das Schubelement (32) ausgebildet ist, das Abdeckelement (2) in eine Schließrichtung (ZU) zum Schließen der Öffnung oder in eine der Schließrichtung (ZU) entgegen gesetzten Öffnungsrichtung (AUF) zum Freigeben der Öffnung (4) des Kraftfahrzeugs zu bewegen, wobei das Schubelement (32) stangenförmig ausgebildet ist und sich im Wesentlichen parallel zur Öffnungsrichtung (AUF) und Schließrichtung (ZU) erstreckt, wobei

- das Führungsmittel (31) als in eine Erstreckungsrichtung (Z) im Wesentlichen parallel zur Öffnungsrichtung (AUF) und Schließrichtung (ZU) erstreckter Führungskanal oder als in eine Erstreckungsrichtung (Z) im Wesentlichen parallel zur Öffnungsrichtung (AUF) und Schließrichtung (ZU) erstrecktes Führungsrohr ausgebildet ist, in dem das als Stange ausgebildete Schubelement (32) geführt ist und

- das Führungsmittel (31) derart am Fahrzeug oder einem Teil (1) des Fahrzeugs anzuordnen ist, dass sich das Führungsmittel (31) im Wesentlichen außerhalb der abzudeckenden Öffnung (4) des Fahrzeugs erstreckt und das Führungsmittel (31) das mit dem Abdeckelement (2) gekoppelte Schubelement (32) zum Abdecken der Öffnung (4) in den Bereich der Öffnung (4) führt, indem das stangenförmig ausgeführte Schubelement (32) aus dem Führungsmittel (31) heraus geschoben wird.

V. Die Einsprechende 02/Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen die folgenden Argumente vor:

Der in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag 1 dürfe nicht in das Verfahren zugelassen werden, da er verspätet sei, neue Fragen aufwerfe und die bereits diskutierten Probleme der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit nicht behebe.

Schließlich habe der Gegenstand der Änderung, nämlich dass das Seil ausschließlich auf Zug belastet werde, schon seit Anfang des Einspruchsverfahrens zur Diskussion gestanden. Somit sei ausreichend Gelegenheit gewesen, einen angepassten Antrag vorzulegen. Es würden ebenfalls neue Probleme aufgeworfen werden in Zusammenhang mit einer unzulässigen Erweiterung und einem Mangel an Klarheit.

Dabei sei insbesondere unklar, in welchen Betriebssituationen das Seil als ausschließlich auf Zug belastet angesehen werden könne, insbesondere, ob dies auch in einem Zustand, in dem der Antrieb in Ruhe sei, der Fall sei. Auch könne die Änderung nicht der Beschreibung oder den Figuren entnommen werden. So gebe es keinen Hinweis darauf, dass das Seil in der Tat nur auf Zug belastet werde.

Der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 werde durch das Dokument E12 neuheitsschädlich vorweggenommen. Dasselbe gelte für das Dokument E10.

Dabei werde die SU-Flexwelle, also die technische Einheit aus einer Litze in der Mitte und einer spiralförmigen Ummantelung als Seil im Sinne des Streitpatents angesehen. Diese SU-Flexwelle werde gemäß E12 unstrittig in einem Betriebszustand ausschließlich auf Zug belastet. Somit sei der Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich getroffen.

Weiterhin definiere der Wortlaut des Anspruchs 1 zwei Ausführungsvarianten im zweiten Merkmal des Kennzeichens, nämlich einmal eine Ausbildung eines Schubelements für die AUF Bewegung und einmal eine Ausbildung eines Schubelements für die ZU Bewegung. Dies sei der Verwendung des Verknüpfungsterms ,,oder" zu entnehmen. Die Anspruchsvariante ,,Ausbildung des Schubelements für die AUF Bewegung" würde durch E12, deren SU-Flexwellen in der AUF Bewegung auf Zug belastet werden, getroffen.

Ebenso beruhe es auf einem naheliegenden fachmännischen Handeln, die SU-Flexwellen durch ein umlaufendes nur auf Zug belastetes Seil, ähnlich der in E4 gezeigten Konstruktion, zu ersetzen. Die SU-Flexwellen seien bekannt für eine erhebliche Geräuschentwicklung, so dass der Fachmann, der genau dieses Problem beheben wolle, zwangsläufig zu der genannten Lösung komme, vgl. dazu die Zeichnung in der Anlage A1 der Beschwerdebegründung.

Daher sei der Gegenstand des Anspruchs 1 auch ausgehend von E4 nahegelegt.

E4 offenbare einen Fensterheber mit einem Antrieb, der nur auf Zug belastete Seile aufweise. Das einzige Merkmal, das E4 aus dem strittigen Gegenstand nicht offenbare, sei das Merkmal, dass sich das Übertragungs­mittel, nämlich das Seil, nicht - zumindest abschnittsweise - im Führungselement erstreckt.

Es ergebe sich zwangsläufig aus der Offenbarung der E4, dass die jeweiligen Mitnehmer (42, 52) nicht einfach auf einer Führungsschiene aufgesteckt sein könnten, da sie dann mechanisch nicht fixiert seien. Es müsse also C oder T förmige Führungsflächen geben, die dann - formschlüssig - die jeweiligen Mitnehmer in ihrer Lagerung fixierten. Nun sei es eine vom mehreren gleichwertigen Möglichkeiten, das Antriebsseil ebenfalls in der sich dadurch ergebenden Führungsnut zu verlegen. Daher läge dieses Ergebnis im Bereich des naheliegenden fachmännischen Handelns, wenn der Fachmann die in Figur 5 der E4 gezeigte Darstellung in die Realität umsetzen wollte.

Schließlich wurde bemängelt, dass die im Verfahren vor der Einspruchsabteilung durchgeführte Änderung des erteilten Anspruchs 1, der dann die Grundlage bildete für die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in geänderter Fassung aufrechtzuerhalten, gegen den Artikel 123(3) EPÜ verstoße, da sich der Schutzbereich des erteilten Anspruchs durch die Änderung verschoben habe. So seien nicht alle Merkmale des erteilten abhängigen Anspruchs 4 in den geänderten Anspruch 1 aufgenommen worden.

Ebenfalls habe sich der Schutzbereich durch die Aufnahme von Verfahrensmerkmalen in den Vorrichtungsanspruch erheblich verändert.

Dieser Einwand müsse in das Verfahren zugelassen werden, da die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung darauf Bezug genommen habe.

VI. Die Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin erwiderte die Argumente wie folgt:

Der zunächst als Hilfsantrag 1 während der mündlichen vorgelegte - nunmehr einzige - Antrag müsse in das Verfahren zugelassen werden, da er lediglich das sprachlich präzisiere, was während des gesamten Verfahrens Teil der Diskussion gewesen sei.

Somit ergebe sich durch die Änderung des Anspruchs 1 kein neuer Sachverhalt. Auch sei der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht unzulässig erweitert oder seine Darstellung unklar. Für den Fachmann sei zwangsläufig aus der gesamten Beschreibung und durch die Darstellung in den Figuren erkennbar, dass das Seil nur auf Zug belastet werde. Die Betriebssituationen, in denen das mindestens der Fall sei, seien im Anspruch 1 aufgeführt, nämlich in der AUF und in der ZU Bewegung.

Daher sei die Situation im Ruhezustand unerheblich, es sei aber dem Fachmann klar, dass auch dort das Seil gespannt sein müsse; folglich sei es auch dann auf Zug belastet.

Ebenfalls sei der Anspruch 1 gegenüber der in E12 (oder E10) offenbarten Vorrichtung neu. Die SU-Flexwelle gemäß E12 werde nämlich auch auf Druck belastet, wenn der Antrieb eine ZU-Bewegung erzeuge, vgl. Figur 3.

Aus dem Anspruchswortlaut gehe eindeutig hervor, dass es genau zwei Bewegungsrichtungen gebe und für beide Bewegungsrichtungen gelte das eingefügte Merkmal, nämlich dass das Seil ,,ausschließlich auf Zug" belastet sei.

Dass im zweiten Merkmal des Kennzeichens beide aufgeführten Bewegungsrichtungen mit einem ,,oder" verknüpft seien, liege daran, dass der Antrieb nicht beide Bewegungsrichtungen gleichzeitig ausführen könne. Es gebe auch keinen Hinweis in der gesamten Patentschrift, dass das Schubelement erfindungsgemäß eine spezielle Ausgestaltung für eine der genannten Bewegungsrichtungen AUF oder ZU erfahre und sich damit zwei Ausführungsvarianten der erfinderischen Vorrichtung ergäben.

Es sei nicht sinnvoll und damit auch nicht nahegelegt, die Vorrichtung gemäß E12 (oder E10) in eine Vorrichtung mit Seilzügen gemäß der Anlage A1 (vgl. Beschwerdebegründung) umzugestalten. Diese Überlegung beruhe auf einer rückschauenden Betrachtungsweise. So sei der Platzbedarf durch die freilaufenden Seile im Bereich der Holme erheblich, auch müsse der Antrieb anders gestaltet und platziert werden. Letztlich bedeute dies eine völlige Neukonstruktion.

Ebenfalls könne das Dokument E4 nicht den Gegenstand des Anspruchs 1 nahelegen. Die Figur 5 der E4 offenbare lediglich eine Prinzipzeichnung, aus der weder entnommen werden könne, wie die jeweiligen Mitnehmer mit der Führungsschiene verbunden seien, noch ob die Führungsschiene ein Führungsmittel gemäß dem strittigen Anspruch 1 sei, in dem dann zumindest abschnittweise ein Seil geführt werden könne. Die Überlegung, dass in E4 ein Seil in einem durch ein C oder T Profil erzeugten Hohlraum geführt werde und sich damit ein anspruchsgemäßes Führungsmittel ergäbe, beruhe auf dem Wissen der Erfindung. Aber auch wenn ein C- oder T- Profil vorhanden sei, um die Mitnehmer zu führen, würde der Fachmann das Seil nicht in diesem Kanal führen. Gemäß E4 sollen Rollo und Fenster unabhängig voneinander bedient werden können, so dass - sollten deren Profile in derselben Schiene laufen - das Seil, welches ja mit den Fensterheber-Mitnehmern fest verbunden sei, die freie Betätigung der Rollomitnehmer verhindere. Um diesen Fall zu verhindern, müssten also weitere Maßnahmen ergriffen werden.

Die nun von der Beschwerdeführerin/Einsprechenden erstmals vorgebrachte Behauptung unzulässiger Erweiterung des Schutzbereichs gemäß Artikel 123(3) EPÜ sei nicht begründet.

So sei der Schutzbereich des erteilten Patents nicht etwa durch den abhängigen Anspruch 4 definiert, sondern durch den unabhängigen Anspruch 1. Da der im Einspruchsverfahren geänderte Anspruch 1 weitere Merkmale enthalte, könne dieser schon prinzipiell keinen weiteren Schutzbereich aufweisen, als der Anspruch 1 des erteilten Patents.

Es sei auch durchaus üblich, in Vorrichtungsansprüche Verfahrensmerkmale dann zu integrieren, wenn diese eine Auswirkung auf die fertige Vorrichtung hätten. Dies sei vorliegend der Fall. Daher könne auch dies zu keiner Verschiebung des Schutzbereiches führen.

Des Weiteren solle der Einwand nicht in das Verfahren zugelassen werden. Schließlich habe die Einspruchsabteilung ohne einen Einwand der Einsprechenden seinerzeit lediglich festgestellt, dass der geänderte Anspruch 1 im Einklang mit Artikel 123 (3) EPÜ sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Der in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer zunächst als Hilfsantrag 1 vorgelegte Antrag (einziger Antrag) wird in das Verfahren zugelassen, Artikel 13 (1) VOBK.

2.1 Gemäß Artikel 13 (1) VOBK steht es im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt.

2.2 Die in den Anspruch 1, den die Einspruchsabteilung als gewährbar erachtet hat, aufgenommene Ergänzung definiert, dass das Übertragungsmittel als flexibles, ,,ausschließlich auf Zug belastetes" Seil ausgebildet ist.

Mit dieser Ergänzung soll gemäß der Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin eine Abgrenzung dieses Merkmals zum Stand der Technik gemäß E12 erreicht werden.

Die Kammer ist der Auffassung, dass die Änderung dazu in der Lage ist, die Eigenschaften des Seils gegenüber den Druck-/Schubelementen der E12 (SU-Flexwellen) klarzustellen. Letztlich entsteht durch diese Ergänzung keine neue Situation für die Prüfung des strittigen Anspruchs 1, da die Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin in ihrer Argumentation immer auf diesen Punkt hingewiesen hat und eine entsprechende einschränkende Auslegung des Merkmals "dass das Übertragungsmittel (38) als flexibles Seil (38) ausgebildet ist" in der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugunsten der Patentinhaberin auch berücksichtigt wurde. Die Hinzufügung der Ergänzung ", ausschließlich auf Zug belastetes" beschreibt daher nur einen Aspekt des Merkmals erstmals explizit, der von der angegriffenen Entscheidung bereits als impliziter Bestandteil des Merkmals angenommen worden war.

2.3 Im Gegensatz zu dem Vorbringen der Einsprechenden/Beschwerdeführerin kann die Kammer auch keine neuen Probleme erkennen, die durch die Änderung des Anspruchs 1 entstehen sollen. So ist es prima facie nicht erkennbar, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 mit dieser Ergänzung unzulässig erweitert würde, noch dass der Wortlaut des Anspruchs 1 unangemessen unklar sei, wie es die Einsprechende/Beschwerdeführerin vorträgt.

Von daher sieht die Kammer keine Beeinträchtigung der Verfahrensökonomie, gemessen am Stand des Verfahrens, so dass sie ihr Ermessen dahingehend ausübt, den als Hilfsantrag 1 in der mündlichen Verhandlung vorgelegten einzigen Antrag in das Verfahren zuzulassen.

3. Der Anspruch 1 ist in Bezug auf die durchgeführte Ergänzung nicht unzulässig erweitert, Artikel 123(2) EPÜ; des Weiteren ist er klar im Sinne des Artikels 84 EPÜ.

3.1 Hierbei folgt die Kammer nicht dem Vortrag der Einsprechenden/Beschwerdeführerin, dass der ursprünglichen Offenbarung nicht die in den Anspruch 1 aufgenommenen Ergänzung, dass das flexible Seil ,,ausschließlich auf Zug" belastet ist, zu entnehmen sei.

Auch wenn es keine Stelle mit dem expliziten Wortlaut des eingefügten Teilmerkmals in der Beschreibung gibt, lässt die gesamte Offenbarung des Streitpatents keinen Zweifel daran, dass die Seile lediglich auf Zug belastet werden. So konnte die Einsprechende/Beschwerdeführerin auch keine zusätzliche technische Information benennen, die mit der strittigen Ergänzung dem Fachmann gegeben würde.

3.2 Die Kammer ist ebenfalls nicht der Meinung, dass unklar sei, in welchen Betriebssituationen das Seil ausschließlich auf Zug belastet werde und ob der Ruhezustand diesbezüglich anders zu betrachten sei, als die Bewegungszustände.

Der Anspruch 1 definiert unzweifelhaft und klar, dass der Antrieb zwei Betätigungsrichtungen aufweist, nämlich AUF und ZU. Das Übertragungsmittel, welches ein ausschließlich auf Zug belastetes Seil ist, ist dazu vorgesehen, in diesen Bewegungszuständen den Antrieb an das Schubelement zu koppeln (siehe vorletztes Merkmal des Oberbegriffs). Von daher ist es aus Sicht der Kammer klar im Sinne des Artikels 84 EPÜ, dass das Seil mindestens in diesen Betriebszuständen der AUF oder ZU Bewegung ausschließlich auf Zug belastet ist. Auf den Umstand, dass das Seil ersichtlich auch im Ruhezustand vorgespannt ist, um bei Betätigung in eine der Richtungen die zur Mitnahme nötige Reibung zu erzeugen, kommt es daher gar nicht mehr an.

4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist neu und beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Hinblick auf die Dokumente D12 und D10, Artikel 54 (1) und 56 EPÜ.

4.1 Insbesondere offenbart das Dokument D12 nicht das Merkmal, wonach das Übertragungsmittel als flexibles, ausschließlich auf Zug belastetes Seil ausgebildet ist.

4.2 Selbst wenn man der Ansicht der Einsprechenden/Be­schwerdeführerin folgte und die SU-Flexwelle als ein Seil im Sinne des Streitpatents ansähe, so ist dieses Seil nicht ausschließlich auf Zug belastet. Die SU-Flexwellen 44, 45 werden sowohl in Zug- als auch in Druckrichtung verwendet, siehe in E12 Paragraphen [0047] ff., Figuren 2 und 3 sowie die Entscheidung der Einspruchsabteilung, Seite 12, letzter Absatz.

4.3 Die Einsprechende/Beschwerdeführerin behauptet nun weiter, dass der Wortlaut des Anspruchs 1 zumindest für den Fall erfüllt sei, in dem das Rollo gemäß E12 durch Antrieb der SU-Flexwellen im Zugbetrieb das Rollo öffne. Daher treffe die Offenbarung von E12 den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich. Schließlich sehe der Anspruch 1 zwei Varianten in der Ausgestaltung des Schubelements vor, nämlich eine Ausbildung für die Bewegung in Schließrichtung oder eine Ausbildung zum Öffnen. Durch die Oder-Kombination im zweiten Merkmal des kennzeichnenden Teils seien zwei Ausführungsalternativen der Erfindung genannt. Mindestens aber könnte dieser Anspruch so verstanden werden.

Die Kammer sieht indes in der Formulierung des strittigen Merkmals keine Ausführungsalternativen einer Erfindung; vielmehr handelt es sich hierbei um zwei Betriebszustände ein und derselben Ausführung, nämlich das Öffnen des Rollos und den Schließvorgang. Da der Antrieb nicht gleichzeitig eine Öffnungs- und eine Schließbewegung auszuführen in der Lage ist, ist die Aufzählung der möglichen Bewegungsrichtungen des Antriebs und deren Verknüpfung mit ,,oder" semantisch korrekt formuliert. Für die Interpretation der Einsprechenden, nämlich dass der Anspruch zwei Ausführungsvarianten beinhalte, gibt es auch in der Beschreibung oder den Figuren keinen Anhaltspunkt. Es ist auch - zumindest im dargestellten Zusammenhang - technisch nicht sinnvoll, ein Schubelement für eine bestimmte Bewegungsrichtung auszubilden.

Somit aber ist der Anspruch derart auszulegen, dass das Übertragungsmittel in der Lage sein muss,alle Bewegungsvorgänge, die im Anspruch 1 als vom Antrieb (33) auszuführen definiert sind, mit einem ausschließlich auf Zug belasteten flexiblen Seil zu bewirken. Dies ist aber in E12 nicht der Fall.

4.4 Die Einsprechende/Beschwerdeführerin führt an, dass es im Rahmen des fachmännischen Handelns liege, die SU-Flexwelle gegen einen Seilzug auszutauschen, und deshalb der Gegenstand des Anspruchs 1 nahegelegt sei. Damit würde die Aufgabe gelöst, zu den geräusch­intensiven SU-Flexwellen eine Alternative zu finden, vgl. Anlage A1 der Beschwerdebegründung. Diese Möglichkeit sei aber durch Dokument E4 nahegelegt.

Dieser Auffassung folgt die Kammer nicht. Insbesondere führt die von der Einsprechenden/Beschwerdeführerin vorgeschlagene Alternativlösung zu einem erheblichen Platzverbrauch, da der Bereich der über Kreuz laufenden Seilzüge nicht für andere Bauelemente benutzt werden kann. Des Weiteren ist auch die Lage der sich überkreuzenden Seilzüge durch deren Endpositionen an den Umlenkrollen vorgegeben und diese können somit nicht einfach platzsparend in vorhandene Freiräume verlegt werden. Des Weiteren muss für eine derartige Gestaltung die Lage des Antriebs verändert werden. Letztlich ist festzustellen, dass der Aufwand an Umgestaltung derart umfangreich ist, dass der Fachmann - ausgehend von E12 - eine derartige Veränderung nicht in Betracht zöge.

Die Argumentation der Einsprechenden/Beschwerdeführerin beruht daher im Ergebnis auf einer rückschauenden Betrachtungs­weise.

4.5 Aus denselben Gründen kann auch das Dokument E10 nicht den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich vorwegnehmen oder nahelegen.

5. Auch ausgehend von Dokument E4 beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.

5.1 Die Einsprechende/Beschwerdeführerin argumentiert, dass das einzige unterscheidende Merkmal zwischen der Vorrichtung gemäß E4 und der erfindungsgemäße Antriebsvorrichtung darin bestehe, dass das Übertragungsmittel sich zumindest abschnittweise in dem Führungsmittel erstrecke. So stelle das Führungsmittel die Führungsschiene 41 dar mit deren nicht dargestellten Führungsflächen. Sowohl die Fensterhebermitnehmer 42 als auch die Fensterrollomitnehmer müssten aber in einer formschlüssigen Verbindung mit der Führungsschiene stehen, so dass es für den Fachmann eine der naheliegenden Lösungen sei, bei der Umsetzung der in Figur 5 der E4 gezeigten Ausführung in die Realität die Seilzüge ebenfalls nahe den Führungsflächen innerhalb der formschlussgebenden Umfassung zu führen.

5.2 Zunächst ist festzustellen, dass das Dokument E4 keinerlei Hinweise enthält, auf welche Art und Weise die Mitnehmer (42, 52) an (oder auf oder in) der Führungsschiene gelagert oder geführt werden.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass es einen Kanal in den Mitnehmern oder der Führungsschiene gibt, derart, dass ein Hohlraum zur formschlüssigen Stabilisierung der Mitnehmer beim Bewegen entsteht, wie es die Einsprechende/Beschwerdeführerin behauptet, so beruht es auf einer rückschauenden Betrachtungsweise davon auszugehen, dass in diesem Hohlraum auch das Seil geführt werden könne.

Es ist indes so, dass - wenn ein solcher Hohlraum vom Fensterheber-Mitnehmer, dem Rollo-Mitnehmer und dem Seil genutzt würde, der Rollo-Mitnehmer mit dem Seil in Konflikt käme und somit sich das Rollo nicht mehr unabhängig vom Fenster bedienen ließe. Dies aber soll in E4 gewährleistet sein, so dass zur Vermeidung dieses Problems weitere Maßnahmen vonnöten wären.

6. Der von der Einsprechenden/Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 4. Oktober 2017 vorgebrachter Einwand der angeblichen Ausweitung des Schutzbereichs des im Einspruchsverfahren geänderten Anspruchs 1 gemäß Artikel 123(3) EPÜ wird nicht in das Verfahren zugelassen, Artikel 13 (1) in Verbindung mit Artikel 12(4) VOBK.

6.1 Mit dem o.g. Schreiben beanstandet die Einsprechende/Beschwerdeführerin, dass der Anspruch 1 gemäß Hauptantrag im Einspruchsverfahren eine Erweiterung des Schutzbereichs erfahren habe, da ein Teilmerkmal des abhängigen Anspruchs 4 wie erteilt nicht in den im Einspruchsverfahren geänderten Anspruch 1, der u.a. Teilmerkmale des erteilten abhängigen Anspruchs 4 enthält, aufgenommen wurde.

Des Weiteren moniert sie, dass der Anspruch 1 nunmehr eine Fülle von Verfahrensmerkmalen aufweise, und sich somit der Fokus des Anspruch 1 gegenüber der erteilten Version verschoben habe.

6.2 Wie oben unter 2.1 ausgeführt, steht die Zulassung dieses Vorbringens gemäß Artikel 13 (1) VOBK im Ermessen der Kammer.

6.3 Die Kammer stellt fest, dass eine vermeintliche unzulässige Veränderung des Schutzbereichs gemäß Artikel 123 (3) EPÜ erstmals im gesamten Verfahren mit o.g. Schreiben - welches nach der Beschwerdebegründung und nach der Ladung der Kammer zur mündlichen Verhandlung eingegangen ist, beanstandet wurde.

Der der Zwischenentscheidung zugrundeliegende Antrag, dessen Anspruch 1 nunmehr beanstandet wird, ist am 12. Mai 2014, also mehr als ein halbes Jahr vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden. Somit hätte die Einsprechende/Beschwerdeführerin bereits im Verfahren vor der Einspruchsabteilung genügend Zeit gehabt, ihre Beanstandung in Bezug auf Artikel 123(3) EPÜ vorzubringen.

Dies ist nicht geschehen. Die Einsprechende hat es damit ohne Grund unterlassen, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung hierüber herbeizuführen, Art. 12(4) VOBK. Somit sieht die Kammer keine Veranlassung sich nun in diesem späten Verfahrensstadium erstmals mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen. Darüber hinaus, aus den von der Beschwerdegegnerin angegebenen Gründen (siehe Punkt VI oben), scheinen diese Argumente nicht offensichtlich überzeugend, also nicht prima facie hochrelevant zu sein.

Aus Gründen der Verfahrensökonomie kann daher der o.g. Einwand der Einsprechenden nicht in das Verfahren zugelassen werden.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geändertem Umfang aufrecht zu erhalten auf der Grundlage der folgenden Unterlagen:

Ansprüche 1 bis 17 wie eingereicht in der mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 1;

Beschreibung Spalten 1 bis 39 wie als Anlage der angefochtenen Entscheidung beigefügt;

Figuren 1 bis 29 wie im erteilten Patent.

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