T 2204/12 () of 1.4.2014

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2014:T220412.20140401
Datum der Entscheidung: 01 April 2014
Aktenzeichen: T 2204/12
Anmeldenummer: 03400030.7
IPC-Klasse: A61F 2/30
A61F 2/38
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Künstliches Gelenk
Name des Anmelders: LIMACORPORATE S.p.A.
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.08
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 84
Schlagwörter: Patentansprüche - Klarheit (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Mit der am 14. Mai 2012 zur Post gegebenen Entscheidung hat die Prüfungsabteilung die europäische Patentanmeldung Nr. 03400030.7 zurückgewiesen.

II. Die Prüfungsabteilung war zu der Auffassung gekommen, dass die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ nicht erfüllt seien.

III. Gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung hat die Beschwerdeführerin (Patentanmelderin) am 19. Juli 2012 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die vorgeschriebene Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung wurde am 19. September 2012 eingereicht.

IV. Am 1. April 2014 fand eine mündliche Verhandlung vor der Kammer statt. Die Beschwerdeführerin ist, obgleich ordnungsgemäß geladen, nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen. Gemäß Regel 115(2) und Artikel 15(3) VOBK wurde das Verfahren in Abwesenheit der Beschwerdeführerin fortgesetzt.

V. Die Beschwerdeführerin beantragte im schriftlichen Verfahren, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Beschwerdeverfahren die am 16. August 2010 eingereichten Patentansprüche 1 bis 5 zugrunde zu legen.

VI. Anspruch 1 dieses Anspruchssatzes lautet:

"Ein als Endoprothese für das menschliche Kniegelenk bestimmtes künstliches Gelenk (1), umfassend ein erstes durch einen ersten Gelenkkopf (3) und eine erste Gelenkpfanne (4) gebildetes Gelenk­kompartiment (2) und ein zweites durch einen zweiten Gelenkkopf (6) und eine zweite Gelenkpfanne (7) gebildetes Gelenkkompartiment (5), wobei die Kontaktflächen (C) der beiden Gelenkkompartimente (2,5) geneigt angeordnet sind, dadurch gekennzeichnet, dass zwei Kontaktflächen (C) der jeweiligen Gelenkkompartimente (2,5) in der Hauptfunktionsebene einen Versatz aufweisen und die Kontaktflächen (C) der beiden Gelenkkompartimente (2,5) in Abhängigkeit des Flexionswinkels derart geneigt angeordnet sind, dass die Flächennormale der medialen Kontaktfläche (C) und die Flächennormale der lateralen Kontaktfläche (C) bei jedem Flexionswinkel einen gemeinsamen Schnittpunkt aufweisen."

VII. Zur Stützung ihres Antrags hat die Beschwerdeführerin im schriftlichen Verfahren im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Klarheit, Artikel 84 EPÜ

Die Anspruchsfassung sei deutlich und knapp gefasst und von der Beschreibung gestützt. So sei dem Fachmann die Lage der Hauptfunktionsebene des Kniegelenks als Bewegungsebene des von äußeren Kräften unbeeinflussten Gelenks ohne weiteres verständlich. Damit sei auch der Begriff eines "Versatz" der Kontaktflächen in dieser Hauptfunktionsebene dem Fachmann geläufig. Insbesondere könne der Begriff "Versatz" bei der Beschreibung eines Gelenkssystems mit Ebenen, Kontaktflächen etc. nur geometrisch interpretiert werden. Dabei sei dem Fachmann das dem derzeitigen Verständnis des Funktionsprinzips des Kniegelenks entsprechende Prinzip der Vierglenkkette bekannt, für das der Versatz der Kontaktflächen in der Hauptfunktionsebene als ursächlich angesehen werde.

Auch die erfindungswesentliche Neigung der Kontaktflächen beider Gelenkkompartimente relativ zueinander werde dadurch deutlich und knapp definiert, dass die Flächennormale der medialen Kontaktfläche und die Flächennormale der lateralen Kontaktfläche einen gemeinsamen Schnittpunkt aufweisen. Dabei werde die Orientierung der jeweiligen Kontaktfläche durch die Flächennormale mathematisch eindeutig bestimmt, auch für sehr kleine konvexe oder konkav gewölbte Flächen, da die Flächennormale jeweils senkrecht auf der Kontaktfläche stehe. Die Kontaktflächen lägen bei jeder Winkelstellung des Gelenks an einem anderen Ort auf Gelenkkopf und Gelenkpfanne, was im Anspruch dadurch zum Ausdruck komme, dass die Kontaktflächen als in Abhängigkeit des Flexionswinkels derart geneigt angeordnet definiert sind, dass die Flächennormalen bei jedem Flexionswinkel einen gemeinsamen Schnittpunkt aufweisen. Durch die Verwendung des Begriffs "gemeinsamer Schnittpunkt" werde lediglich klargestellt, dass der Schnittpunkt der (gemeinsame) Schnittpunkt der beiden Flächennormalen sei und nicht etwa ein Schnittpunkt der Flächennormalen mit anderen, nicht näher bestimmten Achsen. Wie auch aus der Darstellung mehrerer Schnittpunkte in der Abbildung zu erkennen sei, enthalte der Anspruch keinerlei Beschränkung, dass jedem Flexionswinkel ausschließlich ein einziger gemeinsamer Schnittpunkt zugeordnet sei.

Die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ seien daher erfüllt.

Auf die Mitteilung der Beschwerdekammer vom 22. Juli 2013, in der u.a. die vorläufige Meinung der Kammer zur Frage der Klarheit dargelegt wurde, hat die Beschwerdeführerin nicht geantwortet.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Artikel 84 EPÜ

2.1 Das Merkmal "zwei Kontaktflächen der jeweiligen Gelenkkompartimente weisen in der Hauptfunktionsebene einen Versatz auf"

Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin dahingehend zu, dass es sich bei der Hauptfunktionsebene des Kniegelenks um die durch die Flexions- Extensions Bewegung des Kniegelenks aufgespannte Ebene, d.h. um die Sagittalebene handelt. Auch ist der Begriff "Versatz" in der Tat geometrisch zu interpretieren. Jedoch kann das Merkmal, wonach die "zwei Kontaktflächen der jeweiligen Gelenkkompartimente in der Hauptfunktionsebene einen Versatz aufweisen" nicht als klar angesehen werden, da dieses Merkmal mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulässt:

a) zwei sich bei unterschiedlichen Flexionswinkeln einstellende Kontaktflächen des jeweiligen selben Kompartiments, d.h. zum einen des lateralen Kompartiments und zum anderen des medialen Kompartiments, d.h. der jeweiligen (beiden) Gelenkkompartimente weisen jeweils einen Versatz auf.

b) zwei sich bei einer bestimmten Gelenkstellung im medialen und lateralen Kompartiment einstellende Kontaktflächen, i.e. die mediale Kontaktfläche und die bei der gleichen Gelenkstellung auftretende laterale Kontaktfläche, weisen einen Versatz auf

Es scheint, dass die Beschwerdeführerin die zweite Interpretation als gültig ansieht (s. Seite 9, zweiter Absatz der Beschwerdeschrift). Diese Interpretation steht auch in Einklang mit dem in Paragraph [0003] der Patentanmeldung genannten Stand der Technik gemäß EP-A-0 734 700, welcher ein künstliches Kniegelenk mit in der Längsebene versetzten Gelenkkompartimenten offenbart und auf den die Beschwerdeführerin auf Seite 3, Absatz 4 der Beschwerdeschrift explizit Bezug nimmt. Allerdings stützt die an dieser Stelle der Beschwerdeschrift vorgebrachte Argumentation auf der Basis einer Roll-Gleitbewegung auch einen Versatz gemäß Interpretation a), da bei einer Roll-Bewegung die Kontaktflächen sowohl im medialen als auch im lateralen Kompartiment bei unterschiedlicher Flexionsstellung notwendigerweise dorsal-ventral versetzt sind.

Bereits aufgrund der Mehrdeutigkeit des Merkmals "Versatz in der Hauptfunktionsebene" kann der unabhängige Anspruch nicht als klar angesehen werden.

2.2 Widerspruch zwischen dem unabhängigen Anspruch und der einzigen Abbildung

2.2.1 Folgt man der von der Beschwerdeführerin favorisierten Interpretation b), d.h. geht man davon aus, dass die jeweilige mediale und laterale Kontaktfläche eines zu einer bestimmten Gelenkstellung gehörenden Paares von Kontaktflächen einen dorsal-ventralen Versatz aufweisen, so dürften diese Kontaktflächen nicht gemeinsam in einer Ebene quer zur durch die Flexions-Extensionsbewegung des Gelenks aufgespannten Hauptfunktionsebene sichtbar sein. Dies liegt daran, dass bei dem als Viergelenk ausgeführten Ausführungsbeispiel ("Funktionsviergelenk": Anmeldung, Spalte 3, Zeile 58 - Spalte 4, Zeile 7) der Kontakt entweder durch konvex-konvexe oder durch konvex-konkave Flächenpaarungen mit unterschiedlichem Krümmungsradius realisiert wird, so dass sich eine sehr kleine, fast punktförmige Kontaktfläche ergibt. Das in der Abbildung gezeigte Ausführungsbeispiel weist daher keinen Versatz der Kontaktflächen in dorsal-ventraler Richtung auf. Damit ergibt sich ein Widerspruch zur Definition im unabhängigen Anspruch, der ja (in Leseart b)) gerade einen solchen Versatz erfordert. Dieser Widerspruch zwischen Beschreibung und Figur auf der einen Seite und dem unabhängigen Anspruch auf der anderen Seite bedingt ebenfalls einen Klarheitsmangel.

2.2.2 Ein weiterer Widerspruch zwischen dem Anspruchswortlaut und dem einzigen Ausführungsbeispiel ergibt sich für das Merkmal, wonach "die Kontaktflächen der beiden Gelenkkompartimente in Abhängigkeit des Flexionswinkels derart geneigt angeordnet sind, dass die Flächennormale der medialen Kontaktfläche (C) und die Flächennormale der lateralen Kontaktfläche (C) bei jedem Flexionswinkel einen gemeinsamen Schnittpunkt aufweisen".

Wie der Zeichnung entnommen werden kann, existiert bei entsprechender Rotation (delta) der Tibia für ein und denselben Flexionswinkel nicht die eine mediale Kontaktfläche oder die eine laterale Kontaktfläche, sondern es gibt eine Vielzahl verschiedener Paare aus medialer und lateraler Kontaktfläche mit entsprechend verschiedenen Paaren von Flächennormalen. Obwohl sich diese Flächennormalen gemäß der Definition im unabhängigen Anspruch jeweils schneiden, d.h. obwohl es für jedes Paar von Flächennormalen einen Schnittpunkt gibt, ist dieser Schnittpunkt im allgemeinen verschieden von dem Schnittpunkt der Flächennormalen eines anderen Paares medialer und lateraler Kontaktflächen (siehe Punkt 1 und 2 in der einzigen Abbildung der Anmeldung). Es gibt daher im Falle des einzigen Ausführungsbeispiels nicht bei jedem Flexionswinkel einen gemeinsamen Schnittpunkt, sondern für jeden Flexionswinkel gibt es eine Vielzahl von Schnittpunkten, deren Lage von der Rotation der Tibia (auch von der axialen Rotation der Tibia, siehe die Anmeldung, Spalte 3, Zeilen 49-58) abhängig ist.

Auch hier liegt ein Widerspruch zwischen dem einzigen Ausführungsbeispiel und dem unabhängigen Anspruch und damit ein Klarheitsproblem vor.

Selbst wenn man zu Gunsten der Beschwerdeführerin annimmt, dass das strittige Merkmal auch so interpretiert werden könnte, dass nicht jedem Flexionswinkel ausschließlich ein einziger gemeinsamer Schnittpunkt zugeordnet ist, so bleibt doch die Tatsache, dass beide Interpretationen möglich sind und das Merkmal schon aus diesem Grund als mehrdeutig und somit als unklar angesehen werden muss.

3. Zusammenfassend kommt die Kammer zu der Auffassung, dass die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ nicht erfüllt sind. Eine Behandlung der weiteren, im Obiter dictum der Entscheidung aufgeführten Einwände ist bei dieser Sachlage nicht erforderlich.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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