European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2014:T186312.20140716 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 16 Juli 2014 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1863/12 | ||||||||
Anmeldenummer: | 07702889.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | G01P 3/40 A61F 9/02 G02C 7/10 G02F 1/15 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | SICHTSYSTEM MIT STROBOSKOPEFFEKT | ||||||||
Name des Anmelders: | Von Gencsy, Alexander Becker, Hans-Peter |
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Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.4.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Ausreichende Offenbarung - (ja) Neuheit - (ja) Erfinderische Tätigkeit - (nein) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die am 17. April 2012 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung mit der die europäische Patentanmeldung Nr. 07 702 889.2 zurückgewiesen worden ist.
II. In der angefochtenen Entscheidung vertrat die Prüfungsabteilung die Auffassung, die Patentanmeldung sei im laufe des Verfahrens so geändert worden, dass ihr Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe und damit gegen die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ verstoße. Ferner hat die Prüfungsabteilung einen Antrag der Anmelder auf Berichtigung der Anmeldung gemäß Regel 139 EPÜ verworfen.
Selbst wenn die Anmelder die unzulässigen Änderungen der Anmeldungsunterlagen rückgängig gemacht hätten, so die Prüfungsabteilung (siehe weitere Anmerkungen), hätte die Anmeldung wegen Verstößen gegen Artikel 83, 84 und 56 EPÜ zurückgewiesen werden müssen. Bezüglich der erfinderischen Tätigkeit wies die Prüfungsabteilung auf die im internationalen Recherchenbericht zitierten Dokumente hin.
III. Mit Telefax vom 23. Mai 2012 wurde gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde eingelegt, die Beschwerdegebühr am 31. Mai 2012 entrichtet und die schriftliche Begründung am 13. August 2012 eingereicht.
Mit der Beschwerdeschrift beantragten die Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines Patents. Mit der Beschwerdebegründung haben sie die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Anmeldungsunterlagen nicht geändert.
Die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung wurde hilfsweise für den Fall beantragt, dass die Beschwerdekammer die Erteilung eines Patents nicht beabsichtige.
IV. Am 13. März 2014 wurden die Beschwerdeführer zur mündlichen Verhandlung geladen.
In einer Stellungnahme vom 1. April 2014 gemäß Artikel 15(1) VOBK hat die Beschwerdekammer die Beschwerdeführer über ihre vorläufige unverbindliche Einschätzung des Falles unterrichtet und insbesondere auf Verstöße gegen die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ 1973 und des Artikels 123(2) EPÜ hingewiesen. Ferner hat sie die Frage der Offenbarung der Erfindung (Artikel 83 EPÜ 1973) erörtert und schließlich bezüglich der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit darauf hingewiesen, dass diese Fragen -falls notwendig- in der mündlichen Verhandlung zu diskutieren sind.
V. Mit einem Schreiben vom 2. Juni 2014 reichten die Beschwerdeführer geänderte Ansprüche 1-8 und Beschreibungsseiten 1-10 ein, um die Bedenken der Beschwerdekammer hinsichtlich der Erfordernissen des Artikels 123(2) EPÜ und des Artikels 84 EPÜ 1973 auszuräumen.
VI. Die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer fand am 16. Juli 2014 in Anwesenheit der Beschwerdeführer und ihres Vertreters statt.
Die Beschwerdeführer beantragten, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und ein Patent zu erteilen mit den Ansprüchen 1-8 und den Beschreibungsseiten 1-10, eingereicht mit dem Schreiben vom 2. Juni 2014, und den Figuren 1-5 der veröffentlichten Anmeldung.
Zum Beleg des allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag führte die Kammer den Artikel "PLZT electrooptic shutters: applications" in Applied Optics, Band 14, Nr. 8, August 1975, Seiten 1866-1873, als Dokument D2 bezeichnet, in das Verfahren ein. Dieses Dokument ist in der im Recherchenbericht zitierten französischen Patentanmeldung FR-A-2 391 484 (D1) erwähnt und wurde im Rahmen der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung von der Kammer ermittelt.
VII. Der Patentanspruch 1 lautet wie folgt:
"Sichtsystem (1) mit Stroboskopeffekt, umfassend eine in ihrer Schaltzeit einstellbare Durchsichteinheit (3), dadurch gekennzeichnet, dass
das Sichtsystem (1) eine Verdunkelungseinrichtung (4) aufweist, die so ausgebildet ist, dass mit dem Sichtsystem (1) ein Bilderfassungsorgan (9) eines Betrachters (2) oder eines Bilderfassungssystems (9) abgedunkelt wird, indem die Verdunkelungseinrichtung (4) jeglichen Lichteinfall außer durch die Durchsichteinheit (3) verhindert, wobei eine Steuereinrichtung (6) vorgesehen ist, die in ihrer Schaltzeit einstellbare Durchsichteinheit (3) wechselweise auf verdunkelt oder durchsieht schaltet, so dass bei einer kontinuierlichen Beleuchtung ein Stroboskopeffekt für einen Betrachter (2) oder ein Bilderfassungssystem (9) erzeugt wird."
Die Ansprüche 2-8 sind abhängige Ansprüche.
Entscheidungsgründe
1. In dieser Entscheidung werden zitierte Artikel und Regeln mit dem Zusatz "1973" versehen, wenn auf Vorschriften des EPÜ Bezug genommen wird, die bis zum 13. Dezember 2007 gegolten haben. Im Übrigen werden Artikel und Regeln ohne Zusatz zitiert.
2. Die Beschwerde ist zulässig.
3. Offenbarung der Erfindung (Artikel 83 EPÜ 1973)
3.1 Trotz wiederholtem fehlerhaftem Hinweis auf "elektrochrome Durchsichteinheiten" oder "elektrochrome Sichtgläser" in der ursprünglichen Fassung der Patentanmeldung wäre der Fachmann nach Ansicht der Kammer am Anmeldetag in der Lage gewesen, die beanspruchte Erfindung auszuführen.
Wie die Beschwerdeführer unterstrichen haben, sind die Eingaben in der ursprünglichen Offenbarung, wonach elektrochrome Gläser für die Herstellung der im anmeldungsgemäßen System vorgesehenen Durchsichteinheiten verwendet werden, offensichtlich falsch und in fachlicher Hinsicht nicht nachvollziehbar. Dies ergibt sich aus der dem Fachmann wohl bekannten Tatsache, dass elektrochrome Durchsichteinheiten keine ausreichend schnelle Schaltzeiten (im Millisekundenbereich) aufweisen können, so dass solche Gläser für die zu erfüllende erfindungsgemäße Aufgabe ungeeignet sind. Im vorliegenden Fall kann als "zuständiger Fachmann" ein Forschungs- oder Produktionsteam verstanden werden, das aus Personen besteht, die über Sachkenntnisse auf dem Gebiet der Stroboskopie bzw. der Elektrooptik verfügen (vgl. T 141/87, T 99/89). Auf dem Gebiet der Elektrooptik gehören insbesondere Sichtgläser mit den einschlägigen Eigenschaften zum allgemeinen Fachwissen (vgl. D2, Abschnitte I "Introduction" und II "Eye Protection Devices"), so dass unter den bestehenden Umständen zumindest der Fachmann für Elektrooptik die irreführenden Angaben hinsichtlich "elektrochrome Gläser" nicht nur erkannt, sondern auch bei der Ausführung der Erfindung durch entsprechende geeignete Mittel hätte ersetzen können.
3.2 Abgesehen von den fehlerhaften Angaben in der ursprünglichen Anmeldung und der Tatsache, dass es unmöglich ist, diese Angaben zu korrigieren, ohne gegen die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ zu verstoßen, fehlt in der Beschreibung jegliches Ausführungsbeispiel zur Durchführung der Erfindung (Regel 27(1)(e) EPÜ 1973).
In der Entscheidung T 990/07 wurde jedoch festgestellt, dass Beispiele nur dann unverzichtbar sind, wenn die Beschreibung dem Erfordernis des Artikels 83 EPÜ 1973 ansonsten nicht genügt. Somit verstoßen fehlerhafte Beispiele sowie fehlende vollständige Ausführungsbeispiele nicht gegen Regel 27(1)(e) EPÜ 1973, solange das Erfordernis des Artikels 83 EPÜ 1973 wie im vorliegenden Fall erfüllt ist.
4. Neuheit (Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973)
4.1 Aus der französischen Druckschrift FR-A-2 391 484 (D1) ist ein Sichtsystem (27) mit Stroboskopeffekt mit einer in ihrer Schaltzeit einstellbaren Durchsichteinheit (3) bekannt (vgl. Seite 1, Z. 1-4; Seite 3, Z. 5-10; Seite 4, Z. 5-16; Seite 5, Z. 19-30; Seite 6, Z. 8-10).
Eine Steuereinrichtung (1) ist dort ebenfalls vorgesehen. Sie schaltet die in ihrer Schaltzeit einstellbare Durchsichteinheit (3) wechselweise auf verdunkelt oder durchsichtig, so dass bei einer kontinuierlichen Beleuchtung ein Stroboskopeffekt für einen Betrachter erzeugt wird (vgl. Seite 6, Z. 8-22; Seite 7, Z. 14 und 15).
Aus der Kombination der Hinweise auf Seite 5, Z. 31 und 32, nach der die Durchsichteinheit meistens lichtundurchlässig ist ("Le cache 3 est généralement opaque"), und auf Seite 6, Z. 15 und 16, wonach die Durchsichteinheit als Brille ausgebildet ist, ergibt sich, dass das Bilderfassungsorgan eines Beobachters (das Auge) abwechselnd abgedunkelt und von dem die Durchsichteinheit durchdringende Licht beleuchtet wird. Auch wenn diese Zustände auf das Vorhandensein einer Verdunkelungseinrichtung hinweisen, würde eine solche Verdunkelungseinrichtung nicht dem Merkmal des vorliegenden Anspruchs 1 entsprechen, wonach "die Verdunkelungseinheit jeglichen Lichteinfall außer durch die Durchsichteinheit verhindert". Denn der Wortlaut des Anspruchs verlangt de facto, dass die Verdunkelungseinheit und die Durchsichteinheit zwei verschiedenen Gegenstände definieren, was das oben beschriebene Ausführungsbeispiel ausschließt.
4.2 Dementsprechend unterscheidet sich der beanspruchte Gegenstand von dem aus D1 bekannten Sichtsystem dadurch, dass eine Verdunkelungseinrichtung vorgesehen ist, bei der das Bilderfassungsorgan eines Betrachters derart abgedunkelt wird, dass jeglicher Lichteinfall außer durch die Durchsichteinheit verhindert wird.
4.3 Daraus folgt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 neu im Sinne des Artikels 54 (1) und (2) EPÜ 1973 gegenüber D1 ist.
5. Erfinderische Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ 1973)
5.1 Dokument D1 stammt aus dem gleichen Gebiet wie die beanspruchte Erfindung und bezieht sich auf einen ähnlichen Zweck, nämlich die Durchführung stroboskopischer Untersuchungen ohne weitergehende Verdunkelung des Umfelds des zu untersuchenden Objektes (vgl. D1, Seite 2, Z. 30-32). Darüber hinaus, wie unter Punkt 4 dargelegt, sind die wichtigsten technischen Merkmale des beanspruchten Gegenstandes aus D1 bekannt, so dass D1 als nächstliegender Stand der Technik anzusehen ist.
5.2 Die von der Verdunkelungseinrichtung erzielte Wirkung besteht somit darin, jeglichen Lichteinfall außer durch die Durchsichteinheit zu verhindern (vgl. Anspruch 1, Seite 4, Z. 19-22 der veröffentlichten Anmeldung).
5.3 Die Beschwerdeführer schlossen sich der von der Beschwerdekammer formulierten Definition der zu lösenden technischen Aufgabe an, wonach ausgehend vom Dokument D1 die Qualität des Stroboskopeffekts wegen der von seitlichen Lichteinfällen verursachten Störeffekte nicht beeinträchtigt wird.
5.4 Aus der US-Patentschrift US-A-2 887 928 (D5) ist ein Sichtsystem mit Stroboskopeffekt bekannt (vgl. Spalte 1, Z. 15-19). Wie aus den Figuren 1, 2, 4 und 5 in D5 ersichtlich, ist ein Brillengestell mit einem umlaufenden Gehäuse vorgesehen, das direkt an einem menschlichen Beobachter angelegt wird. In einem Ausführungsbeispiel besteht dieses Gehäuse aus Metall (vgl. Spalte 2, Z. 42, 43), so dass es die Funktion erfüllt, jeglichen seitlichen Lichteinfall zu verhindern.
Dokument D5 stammt aus dem gleichen Gebiet wie die beanspruchte Erfindung, d.h. Sichtsysteme mit Stroboskopeffekt. Darüber hinaus werden in D5 ebenfalls die Nachteile des konventionellen stroboskopischen Verfahrens, das nur in einer abgedunkelten Umgebung durchgeführt werden kann, angesprochen (vgl. Spalte 1, Z. 20-29). Aus diesen Gründen hätte der Fachmann auf der Suche nach einer Lösung der gestellten Aufgabe die Lehre von D5 berücksichtigt.
Dabei hätte er die Vorteile des beschriebenen Gehäuses ohne weiteres erkannt und das Sichtsystem gemäß D1 entsprechend angepasst, und zwar indem das Sichtsystem (Brille 27) mit einem solchen Gehäuse ausgerüstet wird, um den Stroboskopeffet durch seitliche Lichteinfälle nicht zu beeinträchtigen.
5.5 Der Einwand der Beschwerdeführer, wonach die Erfindung nicht nur in der Verwendung einer Verdunkelungseinrichtung, sondern in der Kombination aller beanspruchten Merkmale liege, ist in dieser Hinsicht irrelevant. Insbesondere ist die Feststellung, dass das Dokument D5 keine Steuerung im Sinne der vorliegenden Erfindung offenbart, ohne Bedeutung, da eine solche Steuerung im Sichtsystem des Dokuments D1 vorhanden ist (vgl D1, Seite 5, Z. 19-30; Seite 6, Z. 8-13). Im Hinblick auf die oben gestellte Aufgabe würde der Fachmann das System von D1 nur derart anpassen, dass das Merkmal des Gehäuses, wie aus D5 bekannt, in das Sichtsystem (Brille 27) von D1 integriert wird. Die Grundgestaltung des Sichtsystems von D1 bleibt bei dieser Anpassung erhalten.
5.6 Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 im Hinblick auf die Kombination von D1 und D5 nicht erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ 1973.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.