T 1216/12 () of 14.12.2017

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2017:T121612.20171214
Datum der Entscheidung: 14 Dezember 2017
Aktenzeichen: T 1216/12
Anmeldenummer: 04023646.5
IPC-Klasse: H01G 9/15
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 433 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Elektrolytkondensatoren mit polymerer Aussenschicht
Name des Anmelders: Heraeus Deutschland GmbH & Co. KG
Name des Einsprechenden: OSHA LIANG SARL
Kammer: 3.4.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 114(1)
European Patent Convention 1973 Art 114(2)
European Patent Convention Art 101(3)(b)
European Patent Convention Art 115
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(2)
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12(4)
Schlagwörter: Rücknahme des Einspruchs - keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Folgen
Einwendungen Dritter - Berücksichtigung anonymer Einwendungen (nein)
Einwendungen Dritter - Berücksichtigung weiterer Einwendungen (ja)
Ausreichende Offenbarung - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - nach Änderung (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0629/90
T 0327/92
T 0583/95
T 0046/10
T 0862/11
T 1756/11
T 2001/12
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0770/21

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. EP-B-1 524 678 zu widerrufen (Artikel 101 (2) und (3) b) EPÜ).

II. Der Einspruch war gegen das Patent im gesamten Umfang gerichtet und darauf gestützt, dass das Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne (Artikel 100 b) EPÜ 1973) und dass der Gegenstand des Patents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe (Artikel 100 a) EPÜ 1973 in Verbindung mit Artikel 52(1) EPÜ und Artikel 56 EPÜ 1973).

III. Folgende Dokumente wurden im Beschwerde­verfahren zitiert:

E4: US-A-6,001,281,

E5: JP 2002-25862 A,

E12: Eidesstattliche Erklärung ("affidavit") von Herrn Udo Merker, datiert vom 20. Juli 2012,

E13: Erklärung von Herrn Toshiya Sawai, datiert vom 11. Dezember 2012,

E14: Erklärung von Herrn Toshiya Sawai, datiert vom 21. Juni 2013.

IV. Die ehemalige Beschwerdegegnerin (ehemalige Ein­sprech­ende) nahm mit Schreiben vom 13. Oktober 2017 den Ein­spruch zurück und ist folglich nicht mehr am Verfahren beteiligt.

V. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragte die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin), die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1-29 des Hauptantrags, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,

- Seiten 2-19 der Beschreibung, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,

- Figuren 1-3 wie im erteilten Patent.

VI. Der Wortlaut der unabhängigen Ansprüche 1, 17 und 29 des Hauptantrags lautet wie folgt:

"1. Elektrolytkondensator enthaltend

• einen porösen Elektrodenkörper eines Elektroden­materials,

• ein Dielektrikum, das die Oberfläche dieses Elektrodenmaterials bedeckt,

• einen Feststoffelektrolyten enthaltend ein leit­fähiges Material, der die Dielektrikumsoberfläche ganz oder teilweise bedeckt,

• eine Schicht auf der ganzen oder einem Teil der äußeren Oberfläche des mit einem Dielektrikum sowie ganz oder teilweise mit einem Feststoffelektrolyten bedeckten porösen Elektrodenkörpers enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II),

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

worin

A für einen gegebenenfalls substituierten C1-C5-Alkylenrest steht,

R für einen linearen oder verzweigten, gegebenenfalls substituierten C1-C18-Alkylrest, einen gegebenenfalls substituierten C5-C12-Cycloalkylrest, einen gegebenen­falls substituierten C6-C14-Arylrest, einen gegebenen­falls substituierten C7-C18-Aralkylrest, einen gegebenenfalls substituierten C1-C4-Hydroxyalkylrest oder einen Hydroxylrest steht,

x für eine ganze Zahl von 0 bis 8 steht und

für den Fall, dass mehrere Reste R an A gebunden sind, diese gleich oder unterschiedlich sein können,

dadurch gekennzeichnet, dass die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) wenigstens einen Binder enthält, wobei der Binder ein polymerer organischer Binder ist."

"17. Verfahren zur Herstellung eines Elektrolyt­kondensators gemäß wenigstens einem der Ansprüche 1 bis 7 und 9 bis 16, dadurch gekennzeichnet, dass der Feststoffelektrolyt enthaltend wenigstens ein leitfähiges Polymer hergestellt wird, indem Vorstufen zur Herstellung leitfähiger Polymere, ein oder mehrere Oxidationsmittel und gegebenenfalls Gegenionen, zusammen oder nacheinander gegebenenfalls in Form von Lösungen, auf ein - gegebenenfalls mit weiteren Schichten belegtes - Dielektrikum eines porösen Elektrodenkörpers aufgebracht und chemisch oxidativ bei Temperaturen von -10°C bis 250°C polymerisiert werden, oder dass Vorstufen zur Herstellung leitfähiger Polymere und Gegenionen gegebenenfalls aus Lösung durch elektrochemische Polymerisation bei Temperaturen von -78°C bis 250°C auf einem - gegebenenfalls mit weiteren Schichten belegten - Dielektrikum eines porösen Elektrodenköpers polymerisiert werden, und gegebenenfalls nach Aufbringen weitere Schichten auf den Kondensatorkörper die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II)

FORMEL/TABELLE/GRAPHIK

worin

A, R und x die in Anspruch 1 oder 8 genannte Bedeutung haben, und wenigstens einem polymeren organischen Binder aus einer Dispersion enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substituiertes Polyanilin und/oder ein Polythiophen mit wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) und wenigstens einen polymeren organischen Binder aufgebracht wird."

"29. Verwendung von Elektrolytkondensatoren gemäß wenigstens einem der Ansprüche 1 bis 16 in elektronischen Schaltungen."

VII. Die Beschwerdeführerin und die ehemalige Beschwerde­gegnerin haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

a) Verfahrensbelange

Nach Ansicht der Beschwerdeführerin sollten die anonymen Einwendungen Dritter nicht in das Verfahren zugelassen werden. Zwei der zitierten Dokumente ent­sprä­chen den bereits im Einspruchsverfahren zitierten Doku­menten E4 bzw. E5 und ein weiteres Dokument sei weniger relevant als Dokument E5. Schließlich sei lediglich eine partielle Übersetzung des Dokuments E5 eingereicht worden, die nur Seiten mit ungerader Seitenzahl auf­weise.

Die ehemalige Beschwerdegegnerin trug vor, dass Doku­ment E12 lediglich zum Nachweis der Komplexität von Kon­densatoren eingereicht worden sei und für die Streit­­­punkte der Beschwerde nicht relevant sei und daher nicht in das Verfahren zugelassen werden solle.

b) Hauptantrag - Offenbarung

Die ehemalige Beschwerdegegnerin brachte vor, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht die Redu­zie­rung des Wertes des äquivaltenten Serienwiderstandes ("equi­valent series resistance" - ESR) des Kondensators gewährleiste. Dies gehe aus den mit den Ein­spruchs­grün­den eingereichten Vergleichs­versuchen her­vor, welche belegten, dass wenigstens Binder­anteile von 54%, 80% und 90% nicht zu einem nied­rigen ESR-Wert führ­ten. Gegen den Einwand, die Ver­gleichs­­ver­suche seien falsch oder unsolide, werde Dokument E13 eingereicht, welches eine Erklärung des Urhebers der Vergleichsversuche enthalte. Außerdem sei die Anwesenheit eines Binders lediglich einer der Paramter, welche den ESR-Wert beein­flussten. Dokument E12 zeige, dass der ESR-Wert auch stark durch die Formierspannung, die Größe des porösen Elektroden­körpers, die spezifische Kapazität der Tan­tal­pulver­körnchen und die Anzahl der Beschich­tungs­­vorgänge zur Herstellung der inneren leitenden Polymer­schicht beeinflusst werde. Weder in den An­sprüchen noch in der Beschreibung des Patents seien jedoch Werte oder Bereiche von Werten für diese Parameter angegeben.

Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, dass die Ver­suchs­ergebnisse, auf die sich die Beschwerdegegnerin stütze, aufgrund der Erklärung E14 des Herrn Toshiya Sawai, keine Bedeutung hätten und dass die Anwesenheit des Binders immer zu einem reduzierten ESR-Wert führe im Vergleich zu einem ansonsten baugleichen Konden­sator, welcher nicht den Binder aufweise.

c) Hauptantrag - erfinderische Tätigkeit

Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, dass die Ana­lyse der Einspruchsabteilung ex-post-facto sei, welche insbesondere die Komplexität von Kondensatoren igno­riere wie sie aus E12 hervorgehe. Die Wirkung des Bin­ders sei es, den ESR-Wert zu verringern im Vergleich zu baugleichen Kondensatoren, die den Binder nicht auf­wiesen. Dies gehe auch aus dem Testbericht E12 und aus den im Einspruchsverfahren vorgelegten Test­ergebnissen hervor, wonach der Zusatz eines Binders bei Verwendung verschiedener Binder und Konzentrationen und unter ver­schiedenen Herstellungsbedingungen des Kondensators zu einer Verringerung des ESR-Wertes führe. Die von der Beschwerdegegnerin mit den Einspruchsgründen einge­reichten experimentellen Daten seien aufgrund der Erklärung E14 des Herrn Toshiya Sawai ohne Bedeutung. Überdies seien die Testbedingungen unvollständig widergegeben. Die Aufgabe der Erfindung sei es daher, den ESR-Wert im Vergleich zu baugleichen Kondensatoren zu verringern, die den Binder nicht aufwiesen. Der Fachmann erhalte keinen Hinweis oder Vorschlag, welcher in die Richtung des Streitpatents weise. Aus Dokument E5 gehe es nicht hervor, welche Funktion der Binder in der äußeren Schicht habe; insbesondere werde nicht offenbart, dass der Binder den ESR-Wert verringere oder für das Bedecken der Eckbereiche wesentlich sei. Selbst bei Berücksichtigung des Dokuments E5 hätte der Fachmann die Polymerschicht in Dokument E4 durch die in E5 offenbarte Schicht ersetzt und sei somit nicht zum beanspruchten Gegenstand gelangt.

Die ehemalige Beschwedegegnerin trug vor, dass die mit den Einspruchsgründen vorgelegten Test­ergeb­nisse zeig­ten, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht zur Reduzierung des ESR-Wertes führe. In der Tat werde dieser Wert mit hohem Binderanteil sogar erhöht. Auch die in Dokument E12 angegebenen Werte lägen teil­weise weit über dem Wert von 51 mOmega, dem oberen Grenz­wert des im Streitpatent angeführten Bereichs des ge­wünschten ESR-Wertes (siehe Absatz [0080] des Patents). Außerdem zeige dieses Dokument nicht, dass die Reduzierung des ESR-Wertes im gesamten beanspruchten Bereich erreicht werde. Die Beigabe eines Binders stelle eine Routine­maßnahme des Fachmannes dar, der die Eigenschaften der Polymer­schicht beeinflussen wolle, z. B. die Sprödig­keit, Flexi­bili­tät, Homogenität, Uniformität, Adhäsion und Dicke der Schicht. Außerdem werde, wie aus Dokument E5 be­kannt sei, durch das Bedecken der Eckbereiche in einem Festelektrolytkondensator das Auftreten von Kurz­schlüssen verringert, was durch das Beimischen eines Binders in der äußeren Polymerschicht erreicht werden könne. Somit sei der beanspruchte Gegenstand im Lichte des Dokuments E4 allein oder in Kombination mit Doku­ment E5 nicht erfinderisch.

Entscheidungsgründe

1. Verfahrensbelange

1.1 Rücknahme des Einspruchs

Die ehemalige Einsprechende ist mit Rücknahme ihres Einspruchs nicht mehr an dem Beschwerdeverfahren beteiligt, da sich im vorliegenden Fall die Frage einer Kosten­ver­teilung nach Artikel 104 EPÜ 1973 nicht gestellt hat. Darüber hinaus hatte die Rücknahme des Einspruchs während des Beschwerdeverfahrens nach ständiger Recht­sprechung keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Folgen für das Beschwerdeverfahren, da die Ein­spre­chende im vorliegenden Fall Beschwerdegegnerin war und das Streitpatent mit der angefochtenen Entscheidung widerrufen wurde. Die Kammer hat daher die Entscheidung der Einspruchsabteilung inhaltlich zu prüfen und kann nur dann gemäß Antrag der Beschwerdeführerin diese Entscheidung aufheben und das Patent nach Artikel 101(3)(b) EPÜ aufrechterhalten, wenn das Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erforder­nissen des EPÜ genügen. Bei dieser Prüfung können Beweismittel und Argumente, die von der Beschwerde­gegnerin vor der Rücknahme des Einspruchs vorgebracht worden sind, herangezogen werden (siehe T 629/90 und T 46/10, jeweils Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe, und Rechtsprechung der Beschwerde­kammern des EPA, 8. Auf­lage 2016, Kapitel IV.C.4.3.3).

1.2 Einwendungen Dritter

1.2.1 Gemäß Artikel 115 EPÜ kann in Verfahren vor dem EPA nach Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung jeder Dritte Einwendungen gegen die Patentierbarkeit der Erfindung erheben, die Gegenstand der Anmeldung oder des Patents ist, wobei der Dritte am Verfahren nicht beteiligt ist. Diese Einwendungen können vom EPA in Ausübung des Ermessens nach Artikel 114(1) EPÜ 1973 von Amts wegen berücksichtigt und in das Verfahren eingeführt werden, insbesondere wenn die mit der Durchführung des Verfahrens befasste Stelle des EPA die Einwendungen für entscheidungserheblich hält (siehe Singer/Stauder, Europäisches Patent­überein­kommen, 7. Auflage 2016, Artikel 115 EPÜ, Randnoten 4 und 20).

Erst nach Ablauf der Einspruchs­frist vorgebrachte Ein­wendungen Dritter werden fiktiv als "verspätet" behan­delt und unterliegen den relevanten Kriterien der Ermessensausübung in Bezug auf die (Nicht-)Berück­sich­tigung von ver­spätetem Vorbringen nach Artikel 114(2) EPÜ 1973 (siehe T 1756/11, Nr. 2.3 der Entscheidungs­gründe). Insbesondere ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerde­kammern im Beschwerdeverfahren bei verspätetem Vorbringen als wesentlichem Kriterium der Frage nachzu­gehen, ob das Vorbringen prima facie hoch relevant ist, d.h. eine Änderung des Verfahrensausgangs erwarten lässt (siehe Rechtsprechung der Beschwerde­kammern des EPA, 8. Auflage 2016, Kapitel IV.C.1.3.7).

1.2.2 Im vorliegenden Fall wurden im Beschwerdeverfahren Einwendungen einer Dritten (Shin-Etsu Polymer Co. Ltd.) mit der Erklärung (E14) eines Mitarbeiters (Mr. Toshiya Sawai) eingereicht. Laut dieser Erklärung seien die in der Einspruchsschrift geltend gemachten Testergebnisse fehlerhaft und daher bedeutungslos.

In der angefochtenen Entscheidung wurden die betrof­fenen Test­ergebnisse zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstandes herangezogen (siehe Nr. 5.4 der Entscheidungsgründe). Durch die ein­gereichte Erklärung wird diese Beurteilung daher grund­sätzlich in Frage gestellt. Die Einwendungen der Drit­ten Shin-Etsu Polymer Co. Ltd. werden somit als prima facie hoch relevant angesehen und in das Ver­fahren zugelassen.

1.2.3 Darüber hinaus wurden nach der Erwiderung der ehemaligen Beschwerde­gegnerin anonyme Einwendungen Dritter einge­reicht. Dabei wurde auf Doku­mente "D1", "D2", "D2'" und "D3" Bezug genommen, welche auch eingereicht wurden.

Im Einspruchsbeschwerdeverfahren sind anonyme Einwen­dungen Dritter, insbesondere wenn sie spät eingereicht werden, im Prinzip nicht im Verfahren zuzulassen (siehe Rechtsprechung der Beschwerde­kammern des EPA, 8. Auf­lage 2016, Kapitel III.N.2.4). Abgesehen davon fehlt es diesen Einwendungen jedoch auch an prima facie Relevanz, wie im Folgenden ausgeführt wird.

Dokumente "D1" und "D2" entsprechen den bereits in der Einspruchsschrift angeführten und somit im Verfahren befindlichen Dokumenten E4 beziehungsweise E5.

Dokument "D2'" betrifft eine Übersetzung des Dokuments "D2" ins Englische. Wie von der Beschwerdeführerin angemerkt, stellt Dokument "D2'" jedoch nur eine partielle Über­setzung dar, da nur jede zweite Seite übersetzt wurde, nämlich nur die Seiten mit ungerader Seitenzahl. Ins­besondere fehlen im Dokument "D2'" die (vollständigen) Übersetzungen der Paragraphen [0012] und [0017] der Beschreibung und des Anspruchs 6 des Dokuments "D2", worauf in den Ausführungen bezüglich erfinderischer Tätigkeit in den anonymen Einwendungen Bezug genommen wurde.

Dokument D3 wurde bereits im Europäischen Recherchen­bericht erwähnt, stand aber selbst der Erteilung des damals beanspruchten, im Vergleich zum gegenwärtigen Haupt­antrag breiter formulierten, Gegenstandes nicht ent­gegen. Die Kammer sieht auch keinen Anhaltspunkt, Dokument D3 als relevanter anzusehen als die bereits im Verfahren befindlichen Dokumente E4 oder E5.

Der Vortrag in den anonymen Einwendungen Dritter bezüg­lich erfinderischer Tätigkeit geht auch nicht substan­ziell über den entsprechenden Vortrag der ehemaligen Beschwerdegegnerin hinaus.

Weder die Dokumente D2' und D3 noch der Vortrag bezüg­lich erfinderischer Tätigkeit werden daher von der Kammer als prima facie hoch relevant angesehen.

Die anonymen Einwendungen Dritter werden folglich nicht in das Verfahren zugelassen.

1.3 Zulassung der Dokumente E12 und E13

1.3.1 Die eidesstattliche Erklärung E12 wurde von der Beschwer­deführerin erstmals mit der Beschwerde­begründung eingereicht. Die Erklärung E13 wurde von der ehemaligen Beschwerdegegnerin erstmals mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung einge­reicht.

1.3.2 Die ehemalige Beschwerdegegnerin hatte vorgebracht, dass Doku­ment E12 lediglich zum Nachweis der Komplexität von Kondensatoren eingereicht worden sei und für die Streit­­punkte der Beschwerde nicht relevant sei und daher nicht in das Verfahren zugelassen werden solle.

Gegen die Zulassung des Dokuments E13 wurde kein Ein­wand erhoben.

1.3.3 Dokument E12 betrifft eine eidesstattliche Erklärung mit Testergebnissen­, welche die technische Wirkung des Unter­schieds­­merkmals belegen sollen. Dokument E13 be­trifft eine Erklärung des Chemikers, welcher die in der Ein­spruchs­schrift geltend gemachten Testversuche über die technische Wirkung der Unterschiedsmerkmale durch­ge­führt hat. Beide Dokumente betreffen daher den für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit we­sent­­lichen Punkt der technischen Wirkung der beanspruchten Erfindung.

Die Kammer sieht daher keine Veranlassung, von ihrer Befugnis unter Artikel 12(4) VOBK Gebrauch zu machen, die Dokumente E12 und E13 nicht in das Verfahren zuzu­lassen. Somit befinden sich diese, gemäß Artikel 12(2) VOBK eingereichten, Dokumente im Verfahren und werden von der Kammer berücksichtigt (Artikel 12(4) VOBK).

2. Hauptantrag

2.1 Offenbarung

2.1.1 In der angefochtenen Entscheidung entschied die Ein­spruchsabteilung, dass das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbare, dass ein Fachmann sie ausführen könne. Insbesondere sei der ESR-Parameter für die Frage der Ausführbarkeit irrelevant, da er im damaligen Anspruch 1 nicht beansprucht sei (siehe Nr. 3 der Entscheidungsgründe).

2.1.2 Die ehemalige Beschwerdegegnerin brachte vor, dass die bloße Anwesenheit eines Binders nicht die Redu­zie­rung des ESR-Wertes des Kondensators gewährleiste. Außerdem sei die Anwesenheit eines Binders lediglich einer der Parameter, welche den ESR-Wert beein­flussten. Dokument E12 zeige, dass der ESR-Wert auch stark durch andere Parameter beeinflusst werde. Weder in den Ansprüchen noch in der Beschreibung des Patents seien jedoch Werte oder Bereiche von Werten für diese Parameter angegeben.

2.1.3 Zunächst stellt die Kammer fest, dass das Verbot der reformatio in peius nicht auf alle entschiedenen Punkte einzeln anwendbar ist. Die Frage der Ausführ­barkeit unterliegt somit der Überprüfung durch die Beschwerde­kammer, obwohl diese Frage von der Ein­spruchs­abteilung in einer für die Beschwerdeführerin positiven Weise entschieden wurde (siehe T 327/92, Nr. 1 der Entschei­dungs­gründe; T 583/95, Nr. 2 der Entscheidungsgründe).

Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine technische Wirkung bei der Beurteilung der Aus­führ­barkeit nur dann zu berücksichtigen, wenn sie ex­pli­zit beansprucht wird. Wird die Wirkung nicht bean­sprucht, ist die Frage, ob die Wirkung tatsächlich er­reicht wird, für die Beurteilung der Ausführbarkeit nicht relevant. In diesem Fall wird diese Frage gege­benenfalls bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit bedeutsam, nämlich bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe (siehe T 862/11, Nr. 5 der Ent­schei­dungs­gründe; T 2001/12, Nr. 3 der Ent­scheidungs­gründe).

Im vorliegenden Fall wird die von der ehemaligen Be­schwer­degegnerin angeführte technische Wirkung, nämlich die Redu­zierung des ESR-Wertes des Kondensators, in keinem Anspruch des Haupt­antrags beansprucht. Somit ist diese Wirkung für die Beurteilung der Ausführbarkeit in der Tat nicht rele­vant. Folglich spielt es bei dieser Beurteilung auch keine Rolle, dass der ESR-Wert noch durch weitere Parameter des Kondensators beeinflusst wird und dass das Patent keine näheren Ausführungen bezüglich dieser weiteren Parameter enthält.

Eine Vielzahl von konkreten Ausführungsbeispielen des beanspruchten polymeren organischen Binders werden im Absatz [0023] der Patentschrift gemäß Hauptantrag genannt. Es besteht daher kein Zweifel, dass der Fachmann in die Lage versetzt ist, den beanspruchten Gegenstand auszuführen.

Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann (Artikel 100 b) EPÜ 1973).

2.2 Erfinderische Tätigkeit

2.2.1 Nächstliegender Stand der Technik / Unterschieds­merkmale

In der angefochtenen Entscheidung ging die Einspruchs­abteilung von Dokument E4 als dem nächstliegenden Stand der Technik aus, worin der Gegenstand der Präambel von Anspruch 1 des Hauptantrags offenbart sei (siehe Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe). Diese Punkte waren zwischen der Beschwerdeführerin und der ehemaligen Beschwerdegegnerin unstrittig.

Die Kammer sieht keinen Anlass hiervon abzuweichen. In der Tat offenbart Dokument E4 einen Gegenstand, der zum gleichen Zweck entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung, nämlich zur Bereitstellung eines Elektrolyt­kondensators. Ferner hat der aus E4 bekannte Konden­sator­ die wichtigsten technischen Merkmale mit der beanspruchten Erfindung gemein, nämlich die in der Präambel von Anspruch 1 des Hauptantrags definierten Merkmale (siehe E4, Spalte 8, Zeile 48 - Spalte 9, Zeile 26). Dokument E4 wird daher als der nächst­lie­gende Stand der Technik angesehen, von dem sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch unterscheidet, dass

a) die Schicht enthaltend wenigstens ein polymeres Anion und wenigstens ein gegebenenfalls substi­tuiertes Polyanilin und/oder wenigstens ein Poly­thiophen mit wiederkehrenden Einheiten der all­gemeinen Formel (I), (II) oder wiederkehrenden Einheiten der allgemeinen Formel (I) und (II) wenigstens einen Binder enthält, wobei der Binder ein polymerer organischer Binder ist.

2.2.2 Objektive technische Aufgabe

In der angefochtenen Entscheidung war die Einspruchs­abteilung der Auffassung, dass das gemäß erteiltem Patent beanspruchte kennzeichnende Merk­mal (polymere Außenschicht mit Binder) nicht die Auf­gabe löse, einen Kondensator mit niedrigem ESR-Wert bereit­zustellen, und stützte sich dabei insbesondere auf die von der ehe­maligen Beschwer­de­gegnerin einge­reichten Test­ergebnisse (siehe Nr. 5.4 der Entschei­dungs­gründe).

Die ehemalige Beschwedegegnerin trug vor, dass auch die in Dokument E12 angegebenen Werte teil­weise weit über dem Wert von 51 mOmega lägen, dem oberen Grenz­wert des im Streitpatent angeführten Bereichs des ge­wünschten ESR-Wertes. Außerdem zeige dieses Dokument nicht, dass die Reduzierung des ESR-Wertes im gesamten beanspruchten Bereich erreicht werde.

Die Kammer stellt zunächst fest, dass die Beschwer­de­führerin - um dem Einwand zu begegnen, dass die Redu­zierung des ESR-Wertes nicht im gesamten bean­spruchten Bereich erreicht werde - den beanspruchten Gegenstand gegenüber dem Patent in der erteilten Version auf einen polymeren organi­schen Binder eingeschränkt hat. Zur Bestimmung der objektiv zu lösenden tech­nischen Aufgabe ist nun die technische Wirkung des Unterschieds­merk­mals, d. h. der polymeren Außenschicht enthaltend einen poly­meren organi­schen Binder, zu ermitteln.

Aus der von der ehemaligen Beschwerdegegnerin einge­reichten Erklärung E13 geht hervor, dass die in der Einspruchsschrift angeführten Testversuche von Herrn Toshiya Sawai, Mitarbeiter der Shin-Etsu Polymer Co. Ltd., durch­geführt wurden. Aus der von der Dritten Shin-Etsu Polymer Co. Ltd. eingereichten weiteren Er­klärung E14 des Herrn Toshiya Sawai ergibt sich nun­, dass diese Testversuche mit defekten Konden­satoren durch­geführt wurden, so dass die entsprechenden Test­ergebnisse falsch sind. Somit können diese Test­ergeb­nisse nicht mehr zur Beantwortung der Frage heran­ge­zo­gen werden, welche technische Wirkung die Beigabe eines polymeren organischen Binders zur polymeren Außen­schicht des Kondensators hat.

Andererseits geht aus den in der eidesstattlichen Er­klärung E12 beschriebenen Testergebnissen hervor, dass die Beigabe eines Binders aus sulfoniertem Polyester zur polymeren Außenschicht eines Kondensators unter verschiedenen Bedingungen, z. B. bei unterschiedlichen Binder­anteilen, den ESR-Wert des Kondensators im Ver­gleich zu einem sonst baugleichen Kondensator ver­ringert. Aus den während des Einspruchsverfahrens vorgelegten Testergebnissen geht ferner hervor, dass auch andere polymere organische Binder diese Wirkung haben.

Die Kammer hat keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass das Unterschiedsmerkmal diese genannte Wirkung nicht hätte. Es ist für den Fachmann aber auch evident, dass durch die bloße Beigabe eines polymeren orga­nischen Binders zur polymeren Außenschicht eines Kon­den­sators nicht ein bestimmter ESR-Wert in absoluten Zahlen erreicht werden kann. Das ergibt sich schon daraus, dass der ESR-Wert invers mit der geometrischen Fläche des Kondensators korreliert (siehe Absatz [0081] der Beschreibung des Streitpatents gemäß Hauptantrag). Die Erfindung ist aber nicht auf bestimmte Konden­sa­toren beschränkt, z. B. solche einer bestimmten Größe. Vielmehr geht es um die Modifizierung von gegebenen Kondensatoren um die gewünschte Reduzierung des ESR-Wertes zu erreichen.

Es wird daher als die objektive technische Aufgabe der Erfindung angesehen, den Bau des Kondensators so zu modifizieren, dass der ESR-Wert des Kondensators im Vergleich einem ansonsten baugleichen Kondensator reduziert wird.

2.2.3 Naheliegen

Die Ein­spruchs­abteilung sah die Zugabe eines Binders bei der Herstellung der polymeren Schicht als eine Routine­maßnahme des Fachmannes an, um damit die Eigen­schaften der Schicht wie z.B. Sprödigkeit, Flexi­bili­tät, Homogenität, Uniformität, Adhäsion und Dicke der Schicht zu beeinflussen (siehe Nr. 5.1 der Gründe in der angefochtenen Entscheidung).

Die ehemalige Beschwerdegegnerin fügte hinzu, dass es aus Dokument E5 be­kannt sei, durch das Bedecken der Eckbereiche in einem Festelektrolytkondensator das Auftreten von Kurz­schlüssen zu verringern, was durch das Beimischen eines Binders in der äußeren Polymer­schicht erreicht werden könne. Somit sei der bean­spruchte Gegenstand im Lichte des Dokuments E4 allein oder in Kombination mit Doku­ment E5 nicht erfinderisch.

Dokument E5 offenbart (siehe die Zusammenfassung) einen Festelektrolytkondensator mit einer Anode 1, einer dielektrischen Oxidschicht und einer leitenden Polymer­schicht als Festelektrolytschicht, auf welcher Katho­den­schichten 8 und 9 vorgesehen sind. Die leitende Polymerschicht besteht aus einer ersten leitenden Polymerschicht 6 und einer zweiten leitenden Polymer­schicht 7, welche aus einem leitenden Polymer­pulver und einem Binder hergestellt wird.

Dokument E5 ist mit der Vermeidung von Kurzschlüssen befasst (siehe Zusammenfassung, Aufgabenstellung). Die Reduzierung des ESR-Wertes spielt in diesem Dokument jedoch keine Rolle. Daher würde der Fachmann Dokument E5 nicht zur Lösung der gestellten Aufgabe heranziehen.

Selbst eine hypothethische Kombination der Lehren der Dokumente E4 und E5 würde den Fachmann jedoch nicht zu dem beanspruchten Gegenstand führen, da in Dokument E5 lediglich generell ein Binder offenbart ist, aber nicht - wie beansprucht - ein polymerer organischer Binder. Außerdem läge es dem Fachmann fern, einen einzelnen Bestandteil (nämlich den Binder) der in E5 offenbarten zweiten leitenden Polymer­schicht 7, dessen Funktion überdies aus Dokument E5 nicht hervorgeht, der im Kon­den­sator gemäß Dokument E4 verwendeten Polymerschicht hinzuzufügen.

Nach Ansicht der Kammer würde der Fachmann auch nicht aufgrund seines Fachwissens zur beanspruchten Lösung der gestellten Aufgabe gelangen.

Daher weist der Gegenstand des Anspruchs 1 des Haupt­antrags eine erfinderische Tätigkeit auf.

Der Verfahrensanspruch 17 entspricht dem Vorrichtungs­anspruch 1. Ansprüche 2 bis 16 und 18 bis 28 des Hauptantrags sind von Anspruch 1 beziehungsweise Anspruch 17 des Hauptantrags abhängig. Anspruch 29 des Hauptantrags betrifft eine Verwendung der beanspruchten Vorrichtung.

Folglich weist der Gegenstand der Ansprüche 1 bis 29 des Hauptantrags eine erfinderische Tätigkeit auf (Artikel 52(1) EPÜ und Artikel 56 EPÜ 1973).

3. Schlussfolgerung

Aus den oben genannten Gründen stehen die von der ehemaligen Beschwerdegegnerin angeführten Einspruchs­gründe, nämlich unzureichende Offenbarung und mangelnde erfin­derische Tätigkeit, der Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form gemäß Hauptantrag nicht entgegen. Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass das Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Er­for­der­nissen des EPÜ genügen. Das Patent ist demnach gemäß Hauptantrag aufrechtzuerhalten. Die Prüfung der Hilfsanträge erübrigt sich.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das europäische Patent wie folgt aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1-29 des Hauptantrags, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,

- Seiten 2-19 der Beschreibung, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer,

- Figuren 1-3 wie im erteilten Patent.

Quick Navigation