T 0405/12 () of 5.6.2014

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2014:T040512.20140605
Datum der Entscheidung: 05 Juni 2014
Aktenzeichen: T 0405/12
Anmeldenummer: 07765532.2
IPC-Klasse: B62D 5/04
F16C 27/06
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: SERVOLENKUNG
Name des Anmelders: ZF-Lenksysteme GmbH
Name des Einsprechenden: ThyssenKrupp Presta SteerTec GmbH
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention R 111(1)
European Patent Convention 1973 R 67 Sent 1
European Patent Convention R 111(2) (2007) Sent 1
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 11
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
Schlagwörter: Zurückverweisung an die erste Instanz - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja) - Antragslage nicht eindeutig
Rückzahlung der Beschwerdegebühr (ja)
Orientierungssatz:

Das Erfordernis der Entscheidungsbegründung gemäß Regel 111 (2) Satz 1 EPÜ ist nicht erfüllt, wenn aus der angefochtenen Entscheidung, ggf. unter Heranziehung anderer Bestandteile der Akte, nicht klar und unmissverständlich (d. h. nicht eindeutig) hervorgeht, auf der Grundlage welchen Antrags bzw. welcher Anträge (einschließlich der ggf. dazugehörigen Unterlagen wie Ansprüche, Beschreibungsseiten und Zeichnungen) diese Entscheidung ergangen ist. Siehe Entscheidungsgründe 6 bis 16.

Angeführte Entscheidungen:
T 0292/90
T 0278/00
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 0177/15
T 0184/15
T 0008/16
T 0602/18

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 07 765 532.2 mit dem 21. Juni 2007 als Anmeldetag wurde das europäische Patent Nr. 2 049 383 mit den Ansprüchen 1 bis 13 erteilt.

II. Gegen dieses Patent legte die Einsprechende am 16. September 2010 fristgerecht Einspruch ein und beantragte den Widerruf des Patents in vollem Umfang. Sie stützte ihren Einspruch auf den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gemäß Artikel 100 a) in Verbindung mit den Artikeln 52 (1) und 56 EPÜ.

III. Mit Schreiben vom 22. Dezember 2010 nahm die Patentinhaberin zu dem eingelegten Einspruch Stellung und beantragte, den Einspruch zurückzuweisen und das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten.

IV. Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung reichte die Patentinhaberin mit Schreiben vom 8. Dezember 2011 einen geänderten Anspruch 1 gemäß Hauptantrag und gemäß ersten bis vierten Hilfsantrag ein. Diese Anträge enthielten jeweils nur Anspruch 1. In diesem Schreiben führte die Patentinhaberin aus, dass ihrer Meinung nach der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags bzw. der vier Hilfsanträge erfinderisch sei. Zu weiteren Ansprüchen machte sie keine Ausführungen.

Sie beantragte, "den Einspruch zurückzuweisen und das Streitpatent in vollem Umfang gemäß dem beigefügten Hauptantrag aufrecht zu erhalten". Des Weiteren beantragte sie: "Sollte die Einspruchsabteilung zu einer Ansicht gelangen, die der Aufrechterhaltung des Streitpatents in vollem Umfang entgegensteht, so wird darum gebeten, die beigefügten Hilfsanträge in der Reihenfolge ihrer Nummerierung einer Sachprüfung gemäß den Vorschriften des EPÜ zu unterziehen."

V. Am 12. Dezember 2011 fand die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung in Anwesenheit der Vertreter beider Beteiligten statt.

VI. Aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung (im Folgenden "Niederschrift") ist Folgendes zu entnehmen:

a) Hinsichtlich der Anträge der Patentinhaberin steht auf der Seite 1 der Niederschrift:

"Der Vertreter der Patentinhaberin stellt den Antrag, den am 08.12.2011 eingereichten Hauptantrag zurückzuziehen und stellt einen neuen Hauptantrag, wobei der Anspruch 1 unverändert wie erteilt formuliert ist. Des Weiteren werden die Hilfsanträge 1 bis 9 eingereicht. Ferner beantragt die Patentinhaberin, den Einspruch aufgrund Artikel 102 (2) EPÜ zurückzuweisen und das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten.

Die Einspruchsabteilung entspricht dem Antrag den neuen Hauptantrag zuzulassen [,] da dieser auf die ursprüngliche Version des Anspruchs 1 zurückgreift. Die Zulassung der Hilfsanträge 1 bis 9 behält sich die Einspruchsabteilung bis zur detaillierten Prüfung dieser Anträge vor." (Hervorhebung durch die Kammer)

b) Der Niederschrift sind keine Kopien von Anträgen beigefügt.

c) In der mündlichen Verhandlung wurde diskutiert, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 des neuen Hauptantrags im Hinblick auf die Dokumente E1 bis E7 erfinderisch ist (siehe Seiten 1 und 2 der Niederschrift).

d) Nach der Beratung der Einspruchsabteilung verkündete der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung folgenden Beschluss:

"Das Europäische Patent wird in vollem Umfang, gemäß des Hauptantrages, aufrecht erhalten da es den Erfordernissen des EPÜ genügt." (Seite 3 der Niederschrift).

VII. Blatt 2/1 des vom Protokollführer und vom Vorsitzenden unterschriebenen und der Niederschrift beigefügten Formblatts "EPA Form 2309.2 12.07TRI" enthält folgenden Wortlaut:

"Nach Beratung der Einspruchsabteilung verkündete die/der Vorsitzende folgende Entscheidung:

"Der Einspruch wird zurückgewiesen."

VIII. Das am 16. Dezember 2011 von allen drei Mitgliedern der Einspruchsabteilung unterschriebene Formblatt "EPA Form 2339 (Blatt 1) 12.07TRI" enthält folgenden Text:

"Zurückweisung des Einspruchs (Art. 101 (2) EPÜ)

Die Einspruchsabteilung hat - in der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2011 - entschieden:

Der Einspruch/Die Einsprüche gegen das Europäische Patent Nr. EP-B-2 049 383 wird/werden zurückgewiesen.

Der Einspruch des/der Einsprechenden ThyssenKrupp Presta SteerTec GmbH wird als unzulässig verworfen.

Die Entscheidungsgründe (Formblatt 2916) sind beigefügt."

IX. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde am 23. Dezember 2011 zur Post gegeben.

X. Das Deckblatt dieser Entscheidung (Seite 1 des Formblatts "EPA Form 2330 12.07TRI") enthält folgenden Wortlaut:

"Entscheidung über die Zurückweisung des Einspruchs (Art. 101 (2) EPÜ)

Die Einspruchsabteilung hat - in der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2011 - entschieden:

Der Einspruch/die Einsprüche gegen das Europäische Patent Nr. EP-B-2 049 383 wird/werden zurückgewiesen.

Zusätzliche Entscheidung:

Der Einspruch des/der Einsprechenden ThyssenKrupp Presta SteerTec GmbH wird als unzulässig verworfen.

Die Entscheidungsgründe sind beigefügt.

Rechtsmittelbelehrung

...."

XI. Den Entscheidungsgründen dieser Entscheidung ist Folgendes zu entnehmen:

a) Unter dem Abschnitt Sachverhalt und Anträge ist Folgendes angegeben:

"I.3 Anträge

Die Patentinhaberin beantragte mit der Einspruchserwiderung vom 28-10-2010 die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt und die Zurückweisung des Einspruches.

Die Patentinhaberin reichte am 08-12-2011 einen neuen Hauptantrag und vier Hilfsanträge ein, sowie zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 12.12.2011 einen anderen Hauptantrag (entsprechend dem Anspruch 1 des erteilten Patents, wie ursprünglich beantragt) sowie neun Hilfsanträge."

b) Unter dem Abschnitt "III. Wortlaut des erteilten Hauptanspruches" der Entscheidungsgründe wird nur der Wortlaut des Anspruchs 1 des erteilten Patents zitiert.

c) Unter dem Abschnitt "IV. Mündliche Verhandlung" wird die Auffassung der Einsprechenden, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents durch E1 und E7 nahegelegt sei, zusammengefasst und die Gründe angegeben, warum die Einspruchsabteilung diese Auffassung nicht teilt.

d) In den Entscheidungsgründen gibt es keine Ausführungen zu abhängigen Ansprüchen.

e) Die Entscheidungsgründe enthalten auf Seite 5 folgenden Wortlaut:

"V. Entscheidung

Die Einspruchsabteilung ist de [sic] Auffassung, dass der Gegenstand des Streitpatentes auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

Der Einspruch wird daher zurückgewiesen, das Patent wird unverändert aufrechterhalten (Artikel 101(2) EPÜ).

Eine Beschwerde gegen diese Entscheidung kann innerhalb der vorgesehenen Frist eingereicht werden."

XII. Am 22. Februar 2012 legte die Einsprechende (Beschwerdeführerin) gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und entrichtete die Beschwerdegebühr.

XIII. In ihrer am 20. April 2012 eingereichten Beschwerdebegründung machte die Beschwerdeführerin geltend, dass die angefochtene Entscheidung fehlerhaft sei, da sie neben der Entscheidung über die Zurückweisung des Einspruchs als zusätzliche Entscheidung die Verwerfung des Einspruchs als unzulässig enthielte. Die Zulässigkeit des Einspruchs sei jedoch weder im schriftlichen Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung thematisiert worden und deshalb sei die Beschwerdeführerin dazu auch nicht gehört worden. Damit sei ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt worden, da gemäß Artikel 113 (1) EPÜ Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden dürften, zu denen die Beteiligten sich haben äußern können. Außerdem könne ein Einspruch nicht gleichzeitig nach Artikel 101 (2) EPÜ zurückgewiesen und als unzulässig verworfen werden.

Des Weiteren führte sie aus, aus welchen Gründen der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nicht erfinderisch und der Gegenstand der abhängigen Ansprüche 2 bis 13 nicht patentfähig sei, auch im Hinblick auf die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Dokumente E8 bis E10.

Die Beschwerdeführerin beantragte hilfsweise mündliche Verhandlung, sollte das Patent nicht im schriftlichen Verfahren widerrufen werde können.

XIV. In ihrer Beschwerdeerwiderung vom 31. August 2012 nahm die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) zu der Frage der Patentfähigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Streitpatents Stellung. Sie machte jedoch keine Ausführungen zu der behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin.

Hilfsweise und für den Fall, dass die Kammer zu einer Ansicht gelangen sollte, die der Aufrechterhaltung des Patents im vollen oder eingeschränkten Umfang entgegenstehe, wurde mündliche Verhandlung beantragt.

XV. In einer Mitteilung vom 9. Juli 2013 teilte die Kammer den Beteiligten mit, dass ihrer vorläufigen Auffassung nach das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweise, die eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz nach Artikel 11 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536 ff.) rechtfertigen würden.

Zum einen sei es der Kammer im vorliegenden Fall nicht möglich, anhand der angefochtenen Entscheidung und der Niederschrift sowie der Schriftsätze der Parteien festzustellen, über welchen Hauptantrag die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung entschieden habe, da es mehrere Widersprüchlichkeiten bzw. Unklarheiten in den Aktenunterlagen gebe. Damit sei es der Kammer nicht möglich, die angegriffene Entscheidung zu überprüfen und allein deshalb sei die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

Zum anderen enthalte das Deckblatt der ausgefertigten Entscheidung, die am 23. Dezember 2011 zur Post gegeben wurde, die zusätzliche Entscheidung, dass der Einspruch der Einsprechenden als unzulässig verworfen worden sei. Diese Entscheidung stehe im Widerspruch zu der Entscheidung, dass der Einspruch zurückgewiesen worden sei, und sei auch weder der Niederschrift noch den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Für eine ausreichende Begründung gemäß Regel 111 (2) Satz 1 EPÜ sei es jedoch erforderlich, dass die Entscheidungs-formel als solche klar und unmissverständlich und insbesondere nicht in sich widersprüchlich sei. Außerdem enthalte die angefochtene Entscheidung keinerlei Begründung zu einer Unzulässigkeit des Einspruchs, was für sich gesehen ebenfalls gegen die Begründungspflicht gemäß Regel 111 (2) Satz 1 EPÜ verstoße. Darüber hinaus liege ein Widerspruch vor zwischen der mündlich verkündeten Entscheidung und den Entscheidungsformeln, die in dem von allen drei Mitgliedern der Einspruchsabteilung unterschriebenen Formblatt "EPA Form 2339 (Blatt 1) 12.07TRI" und in dem Deckblatt (Formblatt "EPA Form 2330 12.07.TRI") der schriftlich abgefassten Entscheidung enthalten seien. Dies verstoße gegen die Bestimmungen der Regel 111 (1) EPÜ.

Die Beteiligten wurden auch aufgefordert, der Kammer innerhalb einer Frist von vier Monaten nach Zustellung der Mitteilung mitzuteilen, ob aus ihrer Sicht besondere Gründe gegen eine Zurückverweisung nach Artikel 11 VOBK sprechen würden, und ob sie im Falle einer Zurückverweisung ihren jeweiligen Antrag auf mündliche Verhandlung aufrechterhalten würden.

XVI. In ihrem Antwortschreiben vom 9. Oktober 2013 teilte die Beschwerdeführerin mit, dass sie keine Einwände gegen eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung habe und dass sie im Falle einer Zurückverweisung ihren Antrag auf mündliche Verhandlung aufrechterhalte. Sie hat darüber hinaus inhaltlich nicht Stellung genommen.

Die Beschwerdegegnerin sprach sich in ihrem Antwortschreiben vom 5. November 2013 jedoch gegen eine Zurückverweisung an die erste Instanz aus und gab Gründe dafür an. Des Weiteren beantragte sie die Zurückweisung der Beschwerde und hilfsweise eine mündliche Verhandlung.

XVII. In ihrer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK verwies die Kammer auf ihre Ausführungen in ihrer Mitteilung vom 9. Juli 2013. Darüber hinaus vertrat sie die vorläufige Auffassung, dass das Vorbringen der Beschwerdegegnerin in Zusammenschau mit der Niederschrift, der angefochtenen Entscheidung und der Tatsache, dass weder der in der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 eingereichte neue Hauptantrag noch (zumindest) die ebenfalls in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 9 der Niederschrift beigefügt worden seien, die Frage aufwerfe, welche weiteren Ansprüche dieser neue Hauptantrag umfasse bzw. ob dieser Antrag auch (und nur) die weiteren Ansprüche des Streitpatents umfasse.

Die Kammer wies des Weiteren daraufhin, dass in der mündlichen Verhandlung zu klären sei, ob die Ansicht der Beschwerdegegnerin, dass nur auf die Entscheidungsformeln in der Niederschrift und in der angefochtenen Entscheidung abzustellen sei, gerechtfertigt sei und wenn ja, ob die einzelnen Entscheidungsformeln in Zusammenschau den Rückschluss auf eine eindeutige Antragslage zulassen würden.

XVIII. Mit Schreiben vom 20. Mai 2014 reichte die Beschwerdeführerin als Anlage eine Kopie eines einzigen Anspruchs gemäß Hauptantrag ein, den die Beschwerdegegnerin in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 vorgelegt hatte. Die Beschwerdegegnerin bestritt nicht, dass sie diesen Anspruch gemäß der vorgelegten Kopie in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht hat.

XIX. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 5. Juni 2014 statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz. Des Weiteren beantragte sie die Rückerstattung der Beschwerdegebühr.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde und hilfsweise die Nichtzulassung der Dokumente E8 bis E10, insbesondere bei Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz.

XX. Die Beschwerdeführerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

Im Lichte des neuen Hauptantrags, der in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden sei, stelle sich die Frage, warum ein neuer Hauptantrag mit nur einem Anspruch überhaupt vorgelegt worden sei, wenn es beim Hauptantrag angeblich um das Streitpatent wie erteilt gegangen sei. Da der neue Hauptantrag nur einen Anspruch 1 und keine abhängigen Ansprüche enthalten habe, seien abhängige Ansprüche nicht Gegenstand dieses Hauptantrags gewesen, sondern nur der vorgelegte Anspruch 1.

In ihrer Beschwerdebegründung müsse die beschwerdeführende Einsprechende zu allen Ansprüchen des Streitpatents etwas sagen, und zwar unabhängig davon, welche Ansprüche der neue Hauptantrag gehabt habe.

Da die Antragslage in der ersten Instanz, wie von der Kammer in ihrer vorläufigen Auffassung dargelegt worden sei, nicht eindeutig sei, müsse die Angelegenheit an die erste Instanz zurückverwiesen werden.

XXI. Die Beschwerdegegnerin argumentierte im Wesentlichen wie folgt:

Die Kammer sei an die Anträge der Beteiligten gebunden und könne deshalb nicht von sich aus überprüfen, über welchen Hauptantrag die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung entschieden habe.

Eine Überprüfung dieser Frage würde jedoch ergeben, dass aus der angefochtenen Entscheidung völlig eindeutig hervorgehe, über welchen Antrag der Patentinhaberin in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden sei.

Im Verfahren vor der ersten Instanz sei der am 8. Dezember 2011 eingereichte Hauptantrag zurückgezogen worden, dessen Anspruch 1 inhaltlich dem erteilten Anspruch 1 entsprochen habe. Dieser Hauptantrag sei jedoch wegen Formfehler unzulässig gewesen, da der kennzeichnende Teil des erteilten Anspruchs verschoben worden sei.

Aus der Niederschrift ginge klar hervor, dass der in der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 eingereichte neue Hauptantrag einen Anspruch 1 aufweise, der identisch mit dem Anspruch 1 des Streitpatents sei.

Daher habe als Anspruch 1 des Hauptantrags, zumindest inhaltlich, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens der Anspruch 1 des Streitpatents zur Entscheidung angestanden.

Der Satz in der Niederschrift "Ferner beantragt die Patentinhaberin, den Einspruch aufgrund Artikel 102 (2) EPÜ zurückzuweisen und das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten." sei auch nicht als weiterer Antrag, der im Widerspruch zum Hauptantrag stehe, zu verstehen, sondern müsse im Zusammenhang mit dem neuen Hauptantrag gelesen werden. In diesem Satz könne das "Ferner" nicht als eine Rangfolge interpretiert werden, quasi als "stattdessen" bzw. zusätzlichen Hilfsantrag. Dieses "Ferner" sei schlicht als "außerdem" bzw. "zusätzlich" zu verstehen. Deshalb umfasse der Hauptantrag, auch wenn er in der mündlichen Verhandlung mit dem Anspruch 1 eingereicht worden sei, den bestehenden Anspruch 1 des Streitpatents sowie als abhängige Ansprüche die bestehenden abhängigen Ansprüche des Streitpatents. Dies könne schon anhand des zweiten Teils des Antrags ausgelegt werden, mit dem beantragt werde "... das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten.", also entsprechend dem kompletten Anspruchssatz mit unabhängigem Anspruch sowie den abhängigen Ansprüchen. Daher könne in diesem Antrag kein Hilfsantrag gesehen werden, sondern ein Antrag, der immer habe verbeschieden werden müssen.

Aus der Niederschrift und der angefochtenen Entscheidung, insbesondere aus der Tenorierung ginge somit eindeutig hervor, dass die Ansprüche des in der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 eingereichten neuen Hauptantrags mit den Ansprüchen des erteilten Streitpatents identisch seien.

Was die Tenorierung der schriftlich abgefassten Entscheidung betreffe, so sei der Wortlaut der Entscheidungsformel "Der Einspruch wird zurückgewiesen." richtig, angesichts der Tatsache, dass über den Anspruchssatz des Streitpatents als Hauptantrag zu entscheiden gewesen sei.

Es liege auch keine widersprüchliche Tenorierung zwischen der Niederschrift und der schriftlich abgefassten Entscheidung vor. In der Niederschrift sei beschlossen worden, dass das "Europäische Patent aufrechterhalten" bleibe, und nicht eine "Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung" (Formulierung des Artikels 101 (3) a) EPÜ). Es liege daher eine zur Formulierung des Artikels 101 (3) a) EPÜ unterschiedliche Wortwahl vor. Eine Aufrechterhaltung mit geänderten Ansprüchen sei daher nicht beschlossen worden und könne der Entscheidungsformel auch nicht entnommen werden. In der Entscheidung vom 23. Dezember 2011 erfolge durch die Tenorierung der Zurückweisung des Einspruchs lediglich eine Konkretisierung (mit der Formulierung des Artikels 101 (2) EPÜ).

Aus der Niederschrift und der angefochtenen Entscheidung, insbesondere aus der Tenorierung ginge somit eindeutig hervor, dass die Ansprüche des in der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 eingereichten neuen Hauptantrags mit den Ansprüchen des erteilten Streitpatents identisch seien.

Auch die Beschwerdeführerin habe in der Beschwerdebegründung keinen Widerspruch hinsichtlich der erstinstanzlichen Entscheidung über den Hauptantrag geltend gemacht. Sie habe sogar in der Beschwerdebegründung nicht nur zum erteilten Anspruch 1, sondern zu allen Ansprüchen des erteilten Patents Stellung genommen.

Selbst wenn ein Fehler vorläge, so sei dieser doch so offensichtlich, dass es verständlich sei, um welche Ansprüche es sich bei dem neuen Hauptantrag gehandelt habe. Alles andere sei pure Förmelei. Die Sachlage sei eindeutig genug. Daher könne die Kammer durchaus selbst entscheiden und müsse die Sache nicht an die erste Instanz zurückverweisen. Da Alles im Beschwerdeverfahren geklärt werden könne, sei aus Gründen der Verfahrensökonomie und der Erlangung einer baldmöglichen Rechtssicherheit eine Sachentscheidung ohne Zurückverweisung gerechtfertigt.

XXII. Am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Kammer wurde die Entscheidung verkündet.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Nach Artikel 11 VOBK verweist eine Kammer die Angelegenheit an die erste Instanz zurück, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist, es sei denn, dass besondere Gründe gegen die Zurückverweisung sprechen.

3. Die Kammer ist der Ansicht, dass sie befugt ist zu prüfen, ob das erstinstanzliche Verfahren einen Mangel im Sinne von Artikel 11 VOBK aufweist, selbst wenn kein derartiger Mangel von einem Beteiligten geltend gemacht wurde. Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin ist diese Befugnis daher nicht von einem Antrag eines Beteiligten abhängig. Dies gilt auch, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein Beteiligter einen Verfahrensmangel geltend gemacht hat und die Kammer das Vorliegen eines weiteren Verfahrensfehlers prüft.

Die Kammer konnte deshalb von sich aus überprüfen, ob aus der angefochtenen Entscheidung, ggf. in Zusammenschau mit anderen Aktenunterlagen, völlig eindeutig hervorgeht, über welchen Antrag der Patentinhaberin die Einspruchsabteilung entschieden hat.

4. Das Verfahren vor der ersten Instanz weist aus folgenden Gründen einen wesentlichen Mangel auf, die eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz nach Artikel 11 VOBK rechtfertigen.

5. Gemäß Regel 111 (2) Satz 1 EPÜ sind Entscheidungen, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen. Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Entscheidung in einer logischen Gedankenführung die wesentlichen tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen aufzeigen, die die getroffene Entscheidung rechtfertigen. Ferner sind die aus den Tatsachen und Beweismitteln gezogenen Schlussfolgerungen klar darzulegen. Deshalb müssen in der Entscheidung alle relevanten Tatsachen und Beweismittel wie auch alle maßgeblichen Erwägungen bezüglich der rechtlichen und faktischen Umstände des Falls ausführlich gewürdigt werden (siehe T 278/00, ABl. EPA 2003, 546, Nr. 2 der Entscheidungsgründe). Die Begründung soll es den Beteiligten und, im Fall einer Beschwerde, der Kammer ermöglichen, zu verstehen, ob die Entscheidung gerechtfertigt ist oder nicht (siehe auch z.B. T 292/90).

6. Das Erfordernis der Entscheidungsbegründung ist nach Ansicht der Kammer nicht erfüllt, wenn aus der angefochtenen Entscheidung, ggf. unter Heranziehung anderer Bestandteile der Akte, nicht klar und unmissverständlich (d. h. nicht eindeutig) hervorgeht, auf der Grundlage welchen Antrags bzw. welcher Anträge (einschließlich der ggf. dazugehörigen Unterlagen wie Ansprüche, Beschreibungsseiten und Zeichnungen) diese Entscheidung ergangen ist.

7. Die Beschwerdegegnerin behauptet, dass es sich bei den Ansprüchen des in der mündlichen Verhandlung vom 12. Dezember 2011 eingereichten Hauptantrags um sämtliche Ansprüche des Streitpatents wie erteilt gehandelt habe. Aus der angefochtenen Entscheidung und aus der Niederschrift sowie aus den im Verfahren eingereichten Schriftsätzen der Beteiligten geht jedoch nicht eindeutig hervor, über welchen Antrag die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung entschieden hat, da es mehrere Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten in den Aktenunterlagen gibt.

8. In der angefochtenen Entscheidung ist unter Punkt "I.3 Anträge" in den Entscheidungsgründen angegeben, welche Anträge die Patentinhaberin im Laufe des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung gestellt bzw. eingereicht hat (Punkt XI a) oben).

Es ist zunächst festzustellen, dass die Patentinhaberin nicht, wie in der angefochtenen Entscheidung angegeben, mit Schreiben vom 28. Oktober 2010, sondern mit Schreiben vom 22. Dezember 2010 zu dem Einspruch Stellung genommen und beantragt hat, den Einspruch zurückzuweisen und das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten.

Danach hat die Patentinhaberin, wie dem Punkt "I.3 Anträge" zu entnehmen ist, am 8. Dezember 2011 einen "neuen Hauptantrag und vier Hilfsanträge" eingereicht, sowie zu Beginn der mündlichen Verhandlung am 12. Dezember 2011 einen "anderen" Hauptantrag sowie neun Hilfsanträge.

Der Textpassage unter Punkt "I.3 Anträge" ist jedoch nicht zu entnehmen, wie viele Ansprüche der "neue" Hauptantrag und die vier Hilfsanträge hatten, die am 8. Dezember 2011 eingereicht wurden. Das gleiche gilt für die zu Beginn der mündlichen Verhandlung eingereichten neun Hilfsanträge. Nur zum "anderen" Hauptantrag, der auch zu Beginn der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurde, ist angegeben "Hauptantrag (entsprechend dem Anspruch 1 des erteilten Patents, wie ursprünglich beantragt)". Aus dieser Angabe geht nach Ansicht der Kammer eindeutig nur hervor, dass der "andere" Hauptantrag einen Anspruch 1 hat, der "entsprechend" dem Anspruch 1 des erteilten Patents ist. Diese Angabe lässt jedoch weder den Schluss zu, dass der Anspruch 1 des "anderen" Hauptantrags identisch mit dem erteilten Anspruch 1 ist (d.h. es könnte ein sich vom erteilten Anspruch 1 unterscheidender Wortlaut gewählt worden sein), noch dass dieser Hauptantrag noch weitere Ansprüche oder gar sämtliche erteilten Ansprüche aufweist. Es kann aus dieser Angabe somit nicht gefolgert werden, dass mit diesem "anderen" Hauptantrag wieder, wie schon vor Einreichung des "neuen" und des "anderen" Hauptantrags, beantragt wurde, das Patent wie erteilt aufrechtzuerhalten, d.h. den Einspruch zurückzuweisen.

In Abschnitt "III. Wortlaut des erteilten Hauptanspruches" der Entscheidungsgründe (Punkt XI b) oben) wird der Wortlaut des Anspruchs 1 des erteilten Patents zitiert und unter dem Abschnitt "IV. Mündliche Verhandlung" (Punkt XI c) oben) wird die Auffassung der Einsprechenden, dass der "Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents" durch die Dokumente E1 und E7 nahegelegt sei, zusammengefasst und die Gründe angegeben, warum die Einspruchsabteilung diese Auffassung nicht teilt, sondern wie die Patentinhaberin "den Gegenstand des Streitpatents" für erfinderisch hält.

In diesen Abschnitten III. und IV werden der "erteilte Hauptanspruch", der "Anspruch 1 des erteilten Patents", der "Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents" und der "Gegenstand des Streitpatents" genannt. Der "andere" Hauptantrag wird überhaupt nicht erwähnt oder mit dem Streitpatent in Bezug gesetzt. Nach Ansicht der Kammer geht daher aus diesen Abschnitten nicht eindeutig hervor, dass es darin um den "anderen" Hauptantrag bzw. dessen Anspruch 1 geht.

In den Entscheidungsgründen ist darüber hinaus kein Anhaltspunkt zu finden, ob der "andere" Hauptantrag" außer dem Anspruch 1 noch weitere Ansprüche hat.

9. Da aus den oben zitierten Textstellen der Entscheidungsgründe sich nicht erkennen lässt, welche Ansprüche der "andere" Hauptantrag aufwies und damit die Antragslage nicht eindeutig zu entnehmen ist, ist die Niederschrift heranzuziehen, zumal der "andere" Hauptantrag in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht wurde. Auf Seite 1 der Niederschrift (siehe VI a) oben) ist zu den Anträgen angegeben, dass die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung den am 8. Dezember 2011 eingereichten Hauptantrag zurückzog und "einen neuen Hauptantrag" stellte, "wobei der Anspruch 1 unverändert wie erteilt formuliert ist." Daraus folgert die Kammer zum einen, dass der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hauptantrag in der Niederschrift als "neuer" Hauptantrag bezeichnet wird und in den Entscheidungsgründen als "anderer" Hauptantrag. Zum anderen, dass der Anspruch 1 dieses Hauptantrages mit dem erteilten Anspruch 1 identisch ist. Obgleich der Niederschrift keine Kopien der in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge beigefügt sind, wurde dies durch die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 20. Mai 2014 eingereichten Kopie eines einzigen Anspruchs gemäß Hauptantrag, den die Beschwerdegegnerin unbestritten in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, bestätigt. Aus dieser Kopie geht klar hervor, dass dieser Hauptantrag nur diesen einzigen Anspruch 1 und keine weiteren Ansprüche hatte.

Die Beschwerdegegnerin bestreitet nicht, dass sie diesen Hauptantrag mit nur einem einzigen Anspruch gemäß Kopie in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vorgelegt hat. Sie ist jedoch der Ansicht, dass in Zusammenhang mit diesem Hauptantrag auch der Satz "Ferner beantragt die Patentinhaberin, den Einspruch aufgrund Artikel 102 (2) EPÜ zurückzuweisen und das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten." auf Seite 1 der Niederschrift (siehe VI a) oben) gelesen werden müsse. "Ferner" bedeute in diesem Satz "außerdem" bzw. "zusätzlich". Der Antrag in diesem Satz könne deshalb nur so verstanden werden, dass der Hauptantrag, auch wenn er in der mündlichen Verhandlung mit nur einem Anspruch eingereicht worden sei, den bestehenden Anspruch 1 des Streitpatents sowie als abhängige Ansprüche die bestehenden abhängigen Ansprüche des Streitpatents umfasse. Diese Auslegung werde auch in dem zweiten Teil des Satzes "...und das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten" bestätigt.

Die Kammer kann der Beschwerdegegnerin insoweit folgen, dass man den betreffenden Abschnitt der Niederschrift so wie sie interpretieren könnte (wobei die Kammer davon ausgeht, dass als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung des Einspruchs nicht der genannte "Artikel 102 (2) EPÜ", sondern der zum Zeitpunkt der Entscheidung anzuwendende Artikel 101 (2) EPÜ heranzuziehen wäre). Die Kammer kann jedoch der Beschwerdegegnerin nicht zustimmen, dass ihre Auslegung die einzig mögliche ist. Wie im Folgenden dargelegt, ist durchaus auch eine andere mögliche Interpretation des betreffenden Abschnitts in der Niederschrift gerechtfertigt.

Unmittelbar auf den Satz "... und stellt einen neuen Hauptantrag, wobei der Anspruch 1 unverändert wie erteilt formuliert ist." folgt der Satz "Des Weiteren werden die Hilfsanträge 1 bis 9 eingereicht.". Erst danach schließt sich der besagte Satz an, der mit "Ferner beantragt ..." beginnt. Der Antrag in diesem "Ferner" - Satz ist deshalb nicht zweifellos dem Hauptantrag zuzuordnen. Hinzu kommt, dass in der Niederschrift nach den Anträgen der Pateninhaberin steht: "Die Einspruchsabteilung entspricht dem Antrag den neuen Hauptantrag zuzulassen [,] da dieser auf die ursprüngliche Version des Anspruchs 1 zurückgreift." Die Kammer sieht in diesem Satz durch den Bezug "auf die ursprüngliche Version des Anspruchs 1" bestätigt, dass der "neue" Hauptantrag den erteilten Anspruch 1 als Anspruch 1 hatte. Allerdings ist auch aus diesem Satz nicht zweifellos und eindeutig zu entnehmen, dass der neue Hauptantrag, wie von der Beschwerdegegnerin dargelegt, sämtliche Ansprüche des erteilten Streitpatents umfasste. Es stellt sich vielmehr die Frage, wenn der Hauptantrag den kompletten Anspruchssatz des erteilten Patents umfasst hätte, hätte dann in diesem Satz nicht die ursprüngliche Version des gesamten Streitpatents genannt werden müssen? Auch die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage ist durchaus berechtigt: warum reichte die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung einen neuen Hauptantrag mit nur einem einzigen Anspruch ein, wenn es ihr beim Hauptantrag angeblich um das Streitpatent wie erteilt gegangen ist? Wenn die Patentinhaberin wieder auf ihr erteiltes Patent in vollem Umfang zurückgreifen wollte, dann hätte es doch genügt, wieder ihren früheren Antrag zu stellen, d.h. den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs. Oder sie hätte eine Kopie der 13 Ansprüche der Patentschrift einreichen können.

Einen weiteren Anhaltspunkt für die (auch mögliche) Auslegung, dass der neue Hauptantrag nur einen Anspruch umfasste, sieht die Kammer darin, dass in der mündlichen Verhandlung nur diskutiert wurde, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 des neuen Hauptantrags im Hinblick auf die Dokumente E1 bis E7 erfinderisch ist (siehe Seiten 1 und 2 der Niederschrift). In der Niederschrift ist zu weiteren abhängigen Ansprüchen nichts erwähnt.

Die Kammer hält es deshalb auch für gerechtfertigt, dass der Satz "Ferner beantragt die Patentinhaberin, den Einspruch aufgrund Artikel 102 (2) EPÜ zurückzuweisen und das erteilte Patent in vollem Umfang aufrechtzuerhalten." als ein weiterer Antrag ausgelegt werden könnte. Mit diesem weiteren Antrag, wie auch mit den in der mündlichen Verhandlung eingereichten neun Hilfsanträgen, hätte sich die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung nicht mehr befassen müssen, da sie, wie der Seite 3 der Niederschrift zu entnehmen ist, in der Beratung zu dem Ergebnis kam, dass das europäische Patent gemäß des Hauptantrags aufrechtzuerhalten sei (siehe VI d) oben).

Wie oben dargelegt, sind zwei unterschiedliche, sich erheblich voneinander unterscheidende Interpretationsmöglichkeiten des besagten "Ferner" -Satzes und des betreffenden Abschnitts der Niederschrift möglich und jede der beiden Interpretationen ist durchaus vertretbar. Deshalb kann nach Ansicht der Kammer keine dieser beiden Interpretationsmöglichkeiten als die zweifellos richtige oder wahrscheinliche Interpretation angesehen werden.

10. Aus den oben genannten Gründen ist aus den erörterten Textstellen in den Entscheidungsgründen und der Niederschrift eindeutig nur zu entnehmen, dass der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hauptantrag einen Anspruch 1 hat, der identisch mit dem Anspruch 1 des erteilten Streitpatents ist. Jedoch kann anhand dieser Textstellen nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob dieser Hauptantrag weitere Ansprüche hatte oder nicht. Insbesondere ist nicht eindeutig festzustellen, ob der verbeschiedene Hauptantrag sämtliche Unteransprüche des erteilten Patents hatte.

11. Auch unter Heranziehung der Entscheidungsformeln ergibt sich für die Kammer kein eindeutiges Bild, welcher Antrag von der Einspruchsabteilung verbeschieden wurde. Vor allem sind die Entscheidungsformeln im vorliegenden Fall widersprüchlich, selbst wenn man den Ablauf der mündlichen Verhandlung und die Entscheidungsbegründung mitberücksichtigt.

12. In der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende nach der Beratung der Einspruchsabteilung folgenden Beschluss: "Das Europäische Patent wird in vollem Umfang, gemäß des Hauptantrages, aufrecht erhalten [,] da es den Erfordernissen des EPÜ genügt." (Seite 3 der Niederschrift, siehe VI d) oben)). Diese Entscheidungsformel entspricht in ihrer Begründung ("da es den Erfordernissen des EPÜ genügt") dem Wortlaut des Artikels 101 (3) a) EPÜ, der die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung regelt. Wie oben dargelegt, ist nicht eindeutig anhand der Entscheidungsgründe und der Niederschrift festzustellen, welche Ansprüche der Hauptantrag, der in der ersten Instanz verbeschieden wurde, aufwies. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass mit dieser Entscheidungsformel tatsächlich das Streitpatent in geänderter Fassung mit nur einem Anspruch 1, der mit dem erteilten Anspruch 1 identisch ist, aufrechterhalten wurde.

13. Blatt 2/1 des vom Protokollführer und vom Vorsitzenden unterschriebenen und der Niederschrift beigefügten Formblatts "EPA Form 2309.2 12.07.TRI" enthält hingegen die Entscheidung: "Der Einspruch wird zurückgewiesen." Der Wortlaut dieser Entscheidungsformel entspricht der Rechtsfolge nach Artikel 101 (2) Satz 2 EPÜ, der die Zurückweisung des Einspruchs vorsieht, wenn kein Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des erteilten Patents entgegensteht. Die Entscheidung, den Einspruch nach Artikel 101 (2) EPÜ zurückzuweisen, ist ebenso enthalten in dem von allen drei Mitgliedern der Einspruchsabteilung unterschriebenen Formblatt "EPA Form 2339 (Blatt 1) 12.07TRI" (siehe VIII oben), dem Deckblatt der Entscheidung (siehe X oben), Formblatt "EPA Form 2330 12.07.TRI") und im Abschnitt "V. Entscheidung" der Entscheidungsgründe (siehe XI e) oben). Danach könnte man davon ausgehen, dass das Patent wie erteilt, d.h. in unveränderter Fassung, aufrechterhalten wurde. Dies ist jedoch fraglich, da wie oben dargelegt, die der Entscheidung zugrunde gelegene Antragslage nicht eindeutig ist.

14. Die Beschwerdegegnerin vertrat die Auffassung, dass aus den Entscheidungsformeln in der Niederschrift und in der angefochtenen Entscheidung (einschließlich der jeweiligen Formblätter) klar hervorgehe, dass es bei dem in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hauptantrag um das gesamte Streitpatent gehe, da nur auf die Entscheidungsformeln abzustellen sei. Selbst wenn es für die Frage der Antragslage nur auf die Entscheidungsformeln ankäme, dann lassen aus den oben dargestellten Gründen auch die einzelnen Entscheidungsformeln in Zusammenschau den Rückschluss auf eine eindeutige Antragslage nicht zu.

15. Die Beschwerdegegnerin sah auch in der Beschwerdebegründung eine Bestätigung dafür, dass nur das erteilte Streitpatent Gegenstand des Hauptantrags war, da die Beschwerdeführerin die Antragslage nicht in Frage stellte und sich mit sämtlichen Ansprüchen des Streitpatents auseinandersetzte. Die Kammer kann auch daraus nicht den Schluss auf eine eindeutige Antragslage ziehen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Einsprechende sich nur mit dem Anspruch 1 des Hauptantrags in ihrer Beschwerdebegründung auseinander gesetzt hätte, wenn der Hauptantrag nur den einen Anspruch und keine abhängigen Ansprüche gehabt hätte. Ebenso wenig ist der Schluss zu ziehen, dass die Ansprüche des Hauptantrags identisch mit denjenigen des erteilten Patents sein mussten, da die Beschwerdeführerin zu sämtlichen Ansprüchen des Streitpatents Stellung genommen hat.

16. Aus den oben genannten Gründen ist die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass aus der angefochtenen Entscheidung und aus der Niederschrift sowie aus den im Verfahren eingereichten Schriftsätzen der Beteiligten nicht eindeutig hervor geht, aus welchen Ansprüchen der der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegende Hauptantrag bestand. Damit ist nicht eindeutig, über welchen Antrag die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung entschieden hat. Somit ist es der Kammer nicht möglich, die angegriffene Entscheidung zu überprüfen, und allein deshalb weist das erstinstanzliche Verfahren einen wesentlichen Mangel im Sinne von Artikel 11 VOBK auf, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung rechtfertigt.

17. Darüber hinaus ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, dass das von allen drei Mitgliedern der Einspruchsabteilung unterschriebenen Formblatt "EPA Form 2339 (Blatt 1) 12.07TRI und das Deckblatt der angefochtenen Entscheidung, die am 23.12.2011 zur Post gegeben wurde, eine zusätzliche Entscheidung enthält, nämlich dass der Einspruch der Einsprechenden als unzulässig verworfen wurde. Es kann jedoch vorliegend dahin gestellt bleiben, ob diese zusätzliche Entscheidung fehlerhaft ist und ob weitere Verfahrensmängel wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 (1) EPÜ 1973, Verletzung der Begründungspflicht nach Regel 111 (2) Satz 1 EPÜ und Verletzung der Bestimmungen der Regel 111 (1) EPÜ vorliegen, da unter Punkt 16 oben festgestellt wurde, dass bereits ein wesentlicher Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens im Sinne von Artikel 11 VOBK wegen der unklaren Antragslage vorliegt.

18. Eine Zurückverweisung an die erste Instanz nach Artikel 11 VOBK kann unterbleiben, wenn besondere Gründe gegen die Zurückverweisung sprechen. Im vorliegenden Fall liegen derartige Gründe nach Ansicht der Kammer nicht vor. Der Einspruch wurde am 16. September 2010 eingelegt und es kann daher nicht von einer langen Verfahrensdauer gesprochen werden. Da die Kammer aufgrund der nicht eindeutigen Antragslage die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz nicht überprüfen kann, hält die Kammer eine Sachentscheidung ohne Zurückverweisung für nicht sachdienlich und daher die Erlangung einer baldmöglichen Rechtssicherheit für zweitrangig. Die Angelegenheit ist deshalb an die erste Instanz zurückzuverweisen.

19. Aufgrund der Zurückverweisung der Angelegenheit wegen eines wesentlichen Mangels des erstinstanzlichen Verfahrens ist der Antrag der Beschwerdegegnerin, die Dokumente E8 bis E10 nicht zuzulassen, nicht mehr im Beschwerdeverfahren zu entscheiden. Darüber wird die Einspruchsabteilung ggf. zu entscheiden haben.

20. Da aus den obengenannten Gründen ein wesentlicher Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens im Sinne von Artikel 11 VOBK vorliegt und die Kammer eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr für billig hält, ist die Beschwerdegebühr der Beschwerdeführerin gemäß Regel 67 Satz 1 EPÜ 1973 zurückzuzahlen.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückverwiesen.

3. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.

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