T 1098/11 () of 22.12.2015

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2015:T109811.20151222
Datum der Entscheidung: 22 Dezember 2015
Aktenzeichen: T 1098/11
Anmeldenummer: 03776746.4
IPC-Klasse: A61B 17/72
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: D
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Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: MARKNAGEL
Name des Anmelders: Synthes GmbH
Name des Einsprechenden: Stryker Trauma GmbH
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 54
European Patent Convention Art 56
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 12
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 13
Schlagwörter: Neuheit - (ja)
Erfinderische Tätigkeit - (ja)
Spät vorgebrachte Argumente - zugelassen (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0217/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1914/12

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden richtet sich gegen die am 17. März 2011 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung, wonach unter Berücksichtigung der vom Patentinhaber im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen gemäß Hilfsantrag IV, das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen.

Die Beschwerdeschrift wurde am 13. Mai 2011 eingereicht und die Beschwerdegebühr am selben Tag bezahlt. Die Beschwerdebegründung wurde am 18. Juli 2011 eingereicht.

II. Am 22. Dezember 2015 fand eine mündliche Verhandlung statt.

Die endgültigen Anträge der Parteien lauteten wie folgt:

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 1 694 230.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag), hilfsweise die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der mit der Beschwerdeantwort datiert vom 14. November 2011 eingereichten Hilfsanträge I bis VI.

III. Zitierte Dokumente:

D1: US-A-2003/0069581

D2: EP-A-0565216

D3: EP-A-1260188

D4: US-A-2002/0099379

D5: CH-A-687229

IV. Die relevanten Argumente der Beschwerdeführerin können wie folgt zusammengefasst werden.

Neuheit

Es sei aus mehreren Stellen von D2 ersichtlich, dass die Kerben auch in ihrem Umfang geschlossen sein könnten, wie es Anspruch 1 in Merkmal F verlange. Im Zusammenhang mit der Figur 6 werde in der Spalte 2 der Beschreibung beschrieben, dass die Hinterschneidungen die Schrauben zumindest teilweise in ihrem Umfang umfassten. Ein solcher Satz bedeute offenbar, dass die Hinterschneidungen die Schraube auch komplett umfassen könnten. Außerdem läge der Schwerpunkt der in D2 offenbarten Erfindung nicht im Ersetzen der Bohrungen durch Kerben, sondern vielmehr im Anbringen der Kerben auf gegenüberliegenden Seiten des Nagels. Desweiteren sei auch die angesprochene Benutzung eines Gewindes im Zusammenhang mit Kerben ein Hinweis auf Bohrungen, da sonst nicht ersichtlich sei, wie dieses Ausführungsbeispiel funktionsfähig zu gestalten wäre. In Spalte 2 sei außerdem ausdrücklich erwähnt, dass auch Bohrungen vorhanden sein könnten, um den Torsionswiderstand zu erhöhen.

Da die anderen Merkmale auch offenbart seien, sei der Gegenstand gemäß Anspruch 1 nicht neu.

Erfinderische Tätigkeit

Zulässigkeit der vorgestellten Angriffslinien

Die Beschwerdeführerin könne nicht gleichzeitig ein Einwand der mangelnden Neuheit und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber D2 führen, ohne sich zu widersprechen. Daher sei es verständlich, dass eine Angriffslinie ausgehend von Dokument D2 allein in der Beschwerdebegründung nicht vorhanden gewesen sei. Alle anderen Dokumente seien in der Beschwerdebegründung erwähnt, und die in der angefochtenen Entscheidung analysierten Kombinationen auch kommentiert worden. Die Wichtigkeit einiger Kombinationen, insbesondere mit D5, sei erst bei der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erkannt worden.

Daher sollten alle vorgetragenen Angriffslinien in das Verfahren zugelassen und erörtert werden.

Kombination D1 oder D4 mit D2

Ausgehend von D1 oder D4 sei der Gegenstand gemäß Anspruch 1 nicht erfinderisch, da Bohrungen, die gegenüber der Zentralachse des Nagels versetzt seien, aus D2 bekannt seien.

V. Die relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden.

Neuheit

Die Beschwerdeführerin beziehe sich im Zusammenhang mit der Neuheit eigentlich auf die erfinderische Tätigkeit. Die Lehre von D2 sei die aus dem dort zitierten Stand der Technik bekannten Bohrungen durch Kerben zu ersetzen. Dies sei auch in Anspruch 1 von D2 wiederholt. Das möglicherweise nicht klar sei, wie ein Ausführungsbeispiel funktioniere, könne nicht zu einer anderen Lehre führen. Das mögliche Vorhandensein von zusätzlichen Bohrungen bedeute nicht eine Abkehr von der Hauptlehre von D2.

Der Gegenstand gemäß Anspruch 1 sei daher neu.

Erfinderische Tätigkeit

Zulässigkeit der vorgestellten Angriffslinien

Die erfinderische Tätigkeit sei in der Beschwerdebegründung nur sehr knapp kommentiert worden, so dass dieser Einspruchsgrund in der Beschwerdebegründung nicht substantiiert worden sei und daher nicht zu berücksichtigen sei. Die einen Monat vor der mündlichen Verhandlung vorgestellten neuen Angriffslinien seien im Übrigen zu spät eingereicht worden, und deshalb auch nicht zu berücksichtigen.

Kombination D1 oder D4 mit D2

Ausgehend von D1 oder D4 könne D2 den Gegenstand von Anspruch 1 nicht nahelegen, da D2 nicht nur von Bohrungen weglehre, sondern auch eine regelmäßige Verteilung der Kerben entlang der Längsachse des Nagels lehre.

Der Gegenstand gemäß Anspruch 1 sei daher erfinderisch.

VI. Anspruch 1 wie von der Einspruchsabteilung als gewährbar erachtet, lautet wie folgt:

"Intramedullärer Marknagel (1) mit einer proximalen Hälfte (2), einer zur Einführung in den Markkanal geeigneten, distalen Hälfte (3) und einer Zentralachse (4), wobei die distale Hälfte (3) mindestens drei, zur Aufnahme von Verriegelungsschrauben (10) geeignete Querbohrungen (5, 6, 7) aufweist, wobei

A) die distale Hälfte (3) entlang der Zentralachse (4) mindestens eine proximale Querbohrung (5) mit der Bohrungsachse (15), eine mittlere Querbohrung (6) mit der Bohrungsachse (16) und einen distale Querbohrung (7) mit der Bohrungsachse (17) aufweist;

B) die Bohrungsachse (16) der zwischen der proximalen (5) und der distalen (7) Querbohrung verlaufenden mittleren Querbohrung (6) einen kürzesten Abstand "a" zu Bohrungsachse (15) der proximalen Querbohrung (5) aufweist;

C) die Bohrungsachse (16) der zwischen der proximalen (5) und der distalen (7) Querbohrung verlaufenden mittleren Querbohrung (6) einen kürzesten Abstand "b" zur Bohrungsachse (17) der distalen Querbohrung (7) aufweist; und

D) die Bedingung "a" != "b" gilt,

dadurch gekennzeichnet, dass

E) die Bohrungsachse (15, 16, 17) mindestens einer der in der distalen Hälfte (3) liegenden N Querbohrungen (5, 6, 7) einen Abstand yN > 0 von der Zentralachse (4) aufweist; und

F) die Querbohrungen (5, 6, 7) den Marknagel vollständig durchdringen und als über den Umfang geschlossene Querbohrungen (5, 6, 7) ausgebildet sind."

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Die Erfindung betrifft einen Marknagel, in dem auf der distalen Seite Bohrungen auf eine bestimmte Art angebracht sind, insbesondere um die Stabilität zu verbessern (siehe Absätze [0002], [0003]).

3. Neuheit

Hinsichtlich der Offenbarung von D2 konzentrierte sich die Beschwerdeführerin auf die Frage, ob die in D2 offenbarten Kerben auch über den Umfang geschlossen sein könnten, und so die in Merkmal F beanspruchten Querbohrungen vorwegnahmen. Die Hauptstelle des Dokumentes D2, auf die sich die Beschwerdeführerin basierte, ist die Beschreibung der Figur 6 am Ende der Spalte 2. Dort wird im letzten Satz der Spalte 2 insbesondere beschrieben, dass die Hinterschneidungen 5 die Schrauben zumindest teilweise auf ihrem Umfang umfassen, woraus die Beschwerdeführerin den Schluss zog, dass diese Hinterschneidungen die Schrauben auch komplett umfassen könnten. Merkmal D betrachtete sie als offenbart.

Nach Auffassung der Kammer steht diese Schlussfolgerung nicht im Einklang mit der Lehre des Dokumentes D2. Der besagte Satz endet mit dem Teilsatz "dennoch aber ein einfaches Einlegen ermöglichen." Dies bedeutet, dass auch das Ausführungsbeispiel gemäß Figur 6 die Gesamtlehre des Dokumentes D2 verkörpern soll, wonach die in dem dort zitierten Stand der Technik benutzten Bohrungen durch Kerben zu ersetzen sind. Dadurch wird das Einlegen der Schrauben ermöglicht, womit das Führen der Schrauben durch Bohrungen wie im Stand der Technik entfällt (siehe Spalte 1, Zeilen 10 bis 33). Im Übrigen würde es sprachlich keinen Sinn ergeben, von Hinterschneidungen zu reden, wenn diese die gesamte Schraube umfassen würden.

Die Beschwerdeführerin sieht den Schwerpunkt der in D2 offenbarten Erfindung nicht im Ersetzen der Bohrungen durch Kerben, sondern vielmehr im Anbringen der Kerben auf gegenüberliegenden Seiten des Nagels. Dies ergebe sich dem auf Spalte 2, Zeilen 33 bis 37 erwähnten Ziel der Verbesserung der Festigkeit bzw. der Spannungsoptimierung. Dies sei auch daran erkennbar, dass in Spalte 2, Zeilen 37 bis 47, erwähnt sei, dass im Nagel zusätzlich Bohrungen für die Anbringung einer Torsionssicherung angeordnet sein könnten. Dies würde verdeutlichen, dass die Benutzung von Kerben nicht das Hauptanliegen der Erfindung von D2 gewesen sein könne.

Die Beschwerdekammer teilt diese Auffassung nicht. Aus Dokument D2 ist klar, dass die im dort zitierten Stand der Technik aufgrund der anwesenden Bohrungen auftretende Probleme mittels Kerben zu lösen sind. Dies wird insbesondere dadurch verdeutlicht, dass in D2 erwähnt wird, dass anstelle der Ausnehmungen in Form von Bohrungen für die Schrauben nunmehr Kerben auf gegenüberliegenden Seiten des Nagels vorgesehen sind (Spalte 1, Zeilen 27 bis 31). Diese Lehre findet auch im Anspruch 1 von D2 ihre Entsprechung, in dem definiert wird, dass die Ausnehmungen als Kerben ausgebildet sind. Einen Hinweis auf einen Versatz der Kerben ist im Anspruch 1 nicht zu finden. Auch die von der Beschwerdeführerin zitierte Passage in Spalte 2, Zeilen 37 bis 42 erwähnt ausdrücklich, dass zusätzlich, also zusätzlich zu den Kerben, noch Bohrungen angeordnet sein können. Auch dieser Absatz steht daher nicht im Widerspruch zu der Hauptlehre von D2. Die Kammer kann daher nicht erkennen, dass D2 ein beliebiges Ersetzen von Kerben durch über den Umfang geschlossene Bohrungen lehrt.

Die Beschwerdeführerin vertrat ferner die Auffassung, dass in D2 erwähnt sei, dass die Kerben ein Gewinde haben könnten, und dass auch deswegen über den Umfang geschlossene Bohrungen realistischere Ausführungsformen der Ausnehmungen als Kerben mit Hinterschneidungen sein würden. Allerdings sei in beiden Fällen nicht eindeutig, was in diesem Zusammenhang "Einlegen" bedeuten würde.

Dass bei einer erwähnten Ausführungsform die Offenbarung von D2 womöglich nicht restlos klar ist, ändert jedoch nicht die Hauptlehre des Dokumentes, die, wie oben erwähnt, die ist, Bohrungen durch Kerben zu ersetzen.

Somit wird Merkmal F, wonach die Querbohrungen als über den Umfang geschlossene Querbohrungen ausgebildet sind, in D2 nicht offenbart.

Da Merkmal F ein Unterscheidungsmerkmal darstellt, erübrigt sich für die Frage der Neuheit die Analyse des Vorhandenseins weiterer Merkmale des Anspruchs 1.

Der Gegenstand von Anspruch 1 ist daher neu gegenüber D2, so dass die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ erfüllt sind.

4. Erfinderische Tätigkeit

4.1 Zulässigkeit der vorgestellten Angriffslinien

In der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin, den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit auf folgende Dokumente oder Kombinationen von Dokumenten stützen zu können:

Dokument D2 allein;

Dokument D1 oder D4 in Kombination mit Dokument D2;

Dokument D3 oder D4 in Kombination mit Dokument D5; und

Dokument D1 in Kombination mit Dokument D5.

In der Beschwerdeschrift auf Seite 7 wurde lediglich folgendes über die erfinderische Tätigkeit vorgetragen (frei übersetzt aus dem Englischen):

"Darüber hinaus, fehlt dem Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag IV die erfinderische Tätigkeit gegenüber den Dokumenten D1, D3, D4 und D5.

Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf Absatz III der Einspruchsgründe und Absatz II.2 des Schreibens vom 20. Februar 2009 verwiesen. Zusätzlich wird auf die Argumente, wie unter den Punkten 2.2 und 2.3 der Entscheidungsbegründung bezüglich Hilfsantrag IV zusammengefasst, verwiesen. Die Einspruchsabteilung liegt dort falsch, wenn sie in Bezug auf D4 davon ausgeht, dass der Fachmann zu viel geistige Schritte vornehmen müsste. Im Gegenteil, jeder einzelne dieser geistigen Schritte ist eine offensichtliche Auswahl. Was die Kombination der Dokumente D4 oder D1 mit dem Dokument D2 betrifft, liegt die Einspruchsabteilung falsch, wenn sie anscheinend argumentiert, dass aufgrund der Lehre des Dokuments D2 der Fachmann die Kerben beibehalten würde. Wie weiter oben erklärt wurde, würde der Fachmann in ihrem Umfang geschlossene Bohrungen als auch zu der Offenbarung des Dokuments D2 gehörend verstehen."

In diesen Absätzen wird also weder das Dokument D2 allein, noch die Kombinationen der Dokumenten D4 oder D3 mit D5, bzw. D1 mit D5 erwähnt.

Die Beschwerdeführerin behauptete, dass sie in der Beschwerdebegründung nicht auf ein Argument der mangelnden erfinderischen Tätigkeit bezüglich D2 allein eingehen konnte, weil sie damit ihre Argumentation der mangelnden Neuheit gegenüber demselben Dokument entkräften würde.

Diese Auffassung überzeugt die Kammer nicht. In der angegriffenen Entscheidung war unter Punkt 2.1 mangelnde erfinderische Tätigkeit gegenüber dem Dokument D2 bereits erörtert worden, obwohl die Neuheit gegenüber demselben Dokument auch behandelt wurde. Die Beschwerdeführerin hätte folglich sehr wohl hilfsweise eine rechtzeitige Begründung für den Mangel einer erfinderischen Tätigkeit vorbringen können, wenn sie diesen Einwand im Beschwerdeverfahren berücksichtigt haben wollte.

Die Beschwerdeführerin behauptete desweiteren, dass ihr die Bedeutung des Dokumentes D5 in Bezug auf Anspruch 1 erst bei der Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung bewusst geworden sei. Dies würde das späte Vorbringen der oben erwähnten Kombinationen von Dokumenten erst im Schreiben vom 18. November 2015 erklären.

Die Kammer kann diese Auffassung nicht teilen, zumal D5 bereits in der Beschwerdebegründung erwähnt wurde. Die Kammer schließt sich den Ausführungen in T 217/10 (Siehe Punkt 5.) bezüglich der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) an. Wie dort erläutert, ist der VOBK in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass das Beschwerdeverfahren primär ein schriftliches ist, wobei Artikel 12(2) VOBK festlegt, dass das vollständige Vorbringen der Beteiligten bereits zu Beginn des Verfahrens zu erfolgen hat, und Artikel 13 VOBK die Zulassung von Änderungen des Vorbringens an einem späteren Zeitpunkt in das Ermessen der Kammer stellt. Wie aus Dokuments CA/133/02 hervorgeht, ist der Zweck dieser Bestimmungen ein faires Verfahren ohne taktisches Vorgehen für alle Beteiligten sicherzustellen, und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen.

Das Zulassen einer Änderung des Vorbringens mit drei neuen Angriffslinien (mit D5) unter dem Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit einen Monat vor der mündlichen Verhandlung entspricht daher gerade nicht dem Zweck der VOBK. Einerseits kommt es einem taktischen Vorgehen gleich (zumal D5 formell schon zitiert war), und andererseits müssten sich die andere Partei und die Beschwerdekammer in einem so späten Stadium des Verfahrens mit komplett neuen Angriffslinien beschäftigen. Außerdem hatten offenbar bis dahin weder die Einsprechende noch die Einspruchsabteilung die Wichtigkeit dieser Angriffslinien erkannt, was deren prima facie Relevanz schon allein deswegen zweifelhaft erscheinen lässt. Der Verweis auf die Einspruchsschrift in der Beschwerdebegründung kann der Beschwerdeführerin diesbezüglich auch nicht weiterhelfen, da zum Zeitpunkt der Einreichung der Einspruchsschrift Hilfsantrag IV, der von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung als gewährbar erachtet wurde, noch nicht Gegenstand des Verfahrens war.

Die Angriffslinien mangelnder erfinderischer Tätigkeit basierend auf D2 allein, D3 oder D4 in Kombination mit D5, und D1 in Kombination mit D5 werden daher gemäß Artikel 12(4) und 13 VOBK nicht in das Verfahren zugelassen.

Anders verhält es sich mit der Kombination der Dokumente D4 oder D1 mit D2. Dadurch, dass die Punkte 2.2 und 2.3 der angefochtenen Entscheidung, die sich mit diesen Kombinationen beschäftigen, schon in der Beschwerdebegründung erwähnt wurden, und dass ansatzweise in der Beschwerdebegründung ein Gegenargument vorgetragen wurde, betrachtet die Kammer, im Gegensatz zur Beschwerdegegnerin, diese Angriffslinien als verständlich und früh genug vorgetragen, um sie im Beschwerdeverfahren erörtern zu können.

4.2 Erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1 oder D4

Die Kammer betrachtet D1 als nächstliegenden Stand der Technik, da in diesem Dokument die Merkmale A bis D und F offenbart sind; siehe Absatz 52, Mitte, wo die unterschiedlichen Abständen zwischen den vorhandenen Bohrungen gemäß Merkmal F explizit erwähnt werden.

Das einzige unterscheidende Merkmal ist daher Merkmal E, wonach die Bohrungsachse mindestens einer der in der distalen Hälfte liegenden Querbohrungen einen Abstand größer als null von der Zentralachse aufweist.

Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung, dass dieses Merkmal durch D2, insbesondere Figur 5 nahegelegt werde.

Die Kammer teilt diese Auffassung nicht. Wie schon weiter oben erklärt, lehrt D2 von über den Umfang geschlossenen Bohrungen weg. Dieses Dokument lehrt, dass Bohrungen vorteilhafterweise durch Kerben ersetzt werden sollen. In diesem Zusammenhang zeigt Figur 5 versetzte Kerben, die zudem keinen unterschiedlichen Abstand zueinander in Richtung der Längsachse aufweisen. Um ausgehend von D1 zu dem Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen, müsste daher der Fachmann nur die seitliche Versetzung gegenüber der Längsachse übernehmen, und die Art der Öffnungen, also Kerben, und deren Abstand entlang der Längsachse außer Acht lassen. Die Kammer sieht nicht aus welchem Grund der Fachmann ohne erfinderisches Zutun die Gesamtlehre D2 außer Acht lassen würde, um daraus nur Teillösungen zu übernehmen.

Die Beschwerdeführerin behauptete, der Fachmann würde erkennen, dass Kerben unter Umständen beim Einführen des Marknagels in den Knochen nachteilig sein könnten, weil die Kerben an Knochenteilen hängen bleiben könnten, bzw. die Kerben mit Knochenteilen oder Mark gefüllt werden könnten. Daher würde der Fachmann selbst bei Übernahme der Lehre von D2 auf die Kerben verzichten.

Die Beschwerdekammer kann diese Meinung nicht teilen. D2 sieht die im dort zitierten Stand der Technik verwendeten Bohrungen als nachteilig an, und stellt insbesondere das Hindurchführen der Schrauben durch die Bohrungen als Problem dar (Spalte 1, Zeilen 10 bis 22). Die in D2 angegebene Lösung ist, dass anstelle der Ausnehmungen in Form von Bohrungen für die Schrauben nunmehr Kerben auf gegenüberliegenden Seiten des Nagels vorgesehen sind (Spalte 1, Zeilen 27 bis 33). Nach Auffassung der Kammer, würde daher der Fachmann auf diese Hauptlehre nicht verzichten. Oder anders ausgedrückt, D2 lehrt von über ihren Umfang geschlossenen Querbohrungen weg, so dass schon allein deshalb der Fachmann bei Übertragung der Lehre von D2 auf D1 nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen würde. Zusätzlich bleibt offen warum der Fachmann den unterschiedlichen Abstand der Bohrungen in D1 beibehalten sollte, wenn dies in der D2 keine Rolle spielt.

Die Kammer vermag auch keinen Mangel an erfinderischer Tätigkeit zu erkennen, indem von D4 ausgegangen wird. Wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, ist nämlich auch in D4 das Merkmal E des Anspruchs 1 nicht offenbart (siehe Figur 1).

Der Gegenstand gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags ist daher erfinderisch, so dass die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ erfüllt sind.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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