T 0184/11 () of 14.5.2013

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2013:T018411.20130514
Datum der Entscheidung: 14 Mai 2013
Aktenzeichen: T 0184/11
Anmeldenummer: 05752791.3
IPC-Klasse: B62D 53/12
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
Download und weitere Informationen:
Text der Entscheidung in DE (PDF, 181 KB)
Alle Dokumente zum Beschwerdeverfahren finden Sie im Register
Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Steckverbindungen
Name des Anmelders: Jost-Werke GmbH
Name des Einsprechenden: The Marmon Group Limited
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(2)
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
Schlagwörter: Übertragung der Einsprechenden- und Beschwerdegegnerinstellung (ja) (Punkt 2.6)
Öffentliche Zugänglichkeit eines Werbeprospekts (ja) (Punkte 3.2 bis 3.4)
Neuheit (Hauptantrag: ja)
Zurückverweisung an erste Instanz (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0004/88
G 0002/04
T 0381/87
T 0743/89
T 0659/92
T 0870/92
T 0750/94
T 0670/95
T 1137/97
T 0956/03
T 0804/05
T 1421/05
T 0278/09
T 1032/10
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 2357/12
T 1674/14
T 0194/15
T 0219/15

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat mit Schreiben vom 24. Januar 2011, eingegangen beim Europäischen Patentamt (EPA) am 25. Januar 2011, gegen die am 3. Dezember 2010 zur Post gegebene Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des europäischen Patents Nr. 1 753 652 in geändertem Umfang Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist beim EPA am 12. April 2011 eingegangen.

II. Gegen das vorliegende Patent, das auf einer internationalen Anmeldung mit Prioritätsdatum vom 14. Mai 2004 beruht, wurde am 19. Dezember 2008 von der Firma Fontaine International Europe Limited aufgrund der Einspruchsgründe der mangelnden Neuheit (Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 54 EPÜ) und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit (Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 56 EPÜ) Einspruch eingelegt.

Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag 4 erfinderisch sei gegenüber dem im Verfahren befindlichen druckschriftlichen Stand der Technik: - MF1: "Prospekt für die automatische Sattel-

kupplung/Steckkupplung SA66 der Firma SERMA";

- D1: FR 1 479 487.

Die Einspruchsabteilung zitierte die Entscheidung T 804/05 und befand, dass es sich bei dem Prospekt MF1 um einen Werbeprospekt handele, der insbesondere in Anbetracht seiner Fußzeile "à partir du 16 Octobre 1996 futur numéro: indicatif (04)..." d.h. "vom 16.10.1996 füge die zusätzliche Vorwahlnummer (04) ein" ab diesem Datum öffentlich zugänglich gemacht worden sei und deshalb einen Teil des Stands der Technik i. S. v. Artikel 54 (2) EPÜ bilde. Sie betrachtete diesen Stand der Technik als neuheitsschädlich für Anspruch 1 des Streitpatents.

III. Um zu belegen, dass die Firma SERMA ihre Produkte und Dienstleistungen mit Werbeprospekten der Art von MF1 bewarb, legte die zugelassene Vertreterin namens der Firma Fontaine International Europe Limited (Einsprechende und Beschwerdegegnerin) mit der am 16. August 2011 beim EPA eingegangenen Beschwerdeerwiderung zwei weitere Originale von MF1, einen weiteren, ähnlichen Werbeprospekt MF4 und schriftliche Beweismittel (MF5) für den behaupteten Verkauf des Produkts SA 66 vor.

IV. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2011 reichte die Beschwerdegegnerin weitere Unterlagen (MF6 und MF7) ein und bot Herrn Buttner als Zeugen für das späte Auffinden der Dokumente MF4 bis MF7 an.

V. In der als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 28. Februar 2013 beigefügten Mitteilung nach Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, ABl. EPA 2007, 536) teilte die Kammer den Parteien u.a. mit, dass sie es nicht für erforderlich hielt, den angebotenen Zeugen Herrn Buttner förmlich zu laden.

VI. Mit Schreiben vom 8. April 2013 beantragte die Vertreterin der Beschwerdegegnerin die Übertragung der Einsprechenden- und Beschwerdegegnerinstellung der Firma Fontaine International Europe Limited ("Fontaine") auf die Muttergesellschaft The Marmon Group Limited ("TMGL"), da das Geschäft und die Vermögenswerte der Firma Fontaine mit Wirkung vom 31. Dezember 2010 auf die Muttergesellschaft übertragen worden seien. Als Nachweis für diese Übertragung wurden eine Kopie des Schreibens vom 20. Dezember 2010 der Firma Fontaine an die Vertreterin (B1) und eine Kopie des von FONTAINE FIFTH WHEEL im Namen von MHT-Europe an die Vertreterin gerichteten Schreibens vom 19. Januar 2011 (B2) eingereicht.

VII. Mit Schreiben vom 12. April 2013 nahm die Beschwerdeführerin zu den Dokumenten MF1 und MF4 bis MF7 inhaltlich Stellung und reichte die Hilfsanträge 1 bis 3 ein.

VIII. In einem weiteren Schreiben vom 18. April 2013 reichte die Vertreterin der Beschwerdegegnerin als weiteren Nachweis für die beantragte Übertragung der Einsprechenden- und Beschwerdegegnerinstellung eine Kopie des Übertragungsvertrags vom 31. Dezember 2010 (B3) und als Nachweis für die Existenz der Firma TMGL einen Ausdruck des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters vom April 2013 zu der Firma "MARMON GROUP LIMITED (THE)" mit der "Company No. 01376182" (B4) ein, sowie eine von der Firma TMGL erteilte Vollmacht (B5) für die Patentanwaltskanzlei, der die Vertreterin der Firma Fontaine angehört.

IX. Am 14. Mai 2013 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.

Die Vertreterin der Beschwerdegegnerin legte am 14. Mai 2013 heruntergeladene Auszugsseiten 1 - 5 des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters (B6) und Kopien von zwei heruntergeladenen Internetseiten, "MARMONHIGHWAYTECHNOLOGIES" betreffend, (B7) vor. Nach einer ausführlichen Diskussion und der Beratung der Kammer wurde den Beteiligten mitgeteilt, dass die Einsprechendenstellung der Firma Fontaine International Europe Limited mit Wirkung vom 14. Mai 2013 auf die Firma The Marmon Group Limited übergegangen ist.

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückweisung des Einspruchs, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche gemäß des Hilfsantrags 1, 2 oder 3, eingereicht mit Schreiben vom 12. April 2013.

Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

X. Anspruch 1 wie erteilt lautet wie folgt (angelehnt an die Merkmalsgliederung der angefochtenen Entscheidung):

"(1.0) Steckkupplungssystem zum Verbinden von Leitungen zwischen einem Zugfahrzeug und einem Auflieger,

(1.1) - bei dem auf dem Zugfahrzeug eine Sattelkupplung (1) angeordnet ist,

(1.2) - bei dem an dem Auflieger zum An-/Abkuppeln an die Sattelkupplung (1) ein Königszapfen (2) angeordnet ist,

(1.3) um den schwenkbar eine einen Stecker (3) aufweisende Steckvorrichtung (4) gelagert ist, wobei der Stekker [sic] (3) Kontaktstellen (11b) umfasst,

(1.4) - bei dem die Sattelkupplung (1) eine Sattelkupplungsplatte (5) umfasst,

(1.5) die eine in Fahrtrichtung (6) keilförmig zulaufende Einfahröffnung (7) aufweist, wobei die Einfahröffnung (7) aus einem freien Bauraum mit mindestens einer Bauraumtiefe (8) ausgebildet ist, die ein Ein- und Ausfahren des Königszapfens (2) in die Sattelkupplung (1) gewährleistet, und

(1.6) - bei dem das Zugfahrzeug eine Steckerbuchse (9) aufweist,

dadurch gekennzeichnet,

(1.7) - dass die Steckerbuchse (9) an der Sattelkupplung (1) ortsfest unterhalb der Einfahröffnung (7) angeordnet ist und

(1.8) - dass die Kontaktstellen (11b) des Steckers (3) an der Steckvorrichtung (4) unterhalb des Königszapfens (2) angeordnet sind."

XI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Es sei fraglich, ob die Voraussetzungen für die Übertragung der Einsprechendenstellung gemäß der Entscheidung G 4/88 der Großen Beschwerdekammer erfüllt seien und eine Übertragung der Einsprechendenstellung erfolgt sei. Der Geschäftsbetrieb der Firma Fontaine sei am 31. Dezember 2010 auf die Muttergesellschaft TMGL übertragen worden, wobei Fontaine später als MHT-Europe firmierte, welche wohl als Tochterfirma von TMGL anzusehen sei. Wenn diese Tochterfirma nun den Geschäftsbetrieb übernommen habe, so müsse diese als Einsprechende firmieren. Recherchiere man im Internet unter MHT bzw. Marmon Highway Technologies, so stoße man auf "Fountain Fifth Wheel", was einen Übergang des Geschäftsbetriebs auf diese Firma nahelege. Der von der Beschwerdegegnerin vorgelegte Vertrag erwähne auf Seite 3 unter "Excluded Assets" zudem die Firma Big D Fifthwheels & Landing Legs Limited, was die Frage aufwerfe, ob dies ein Geschäftsbetrieb mit Sattelkupplungen sei und welcher Passus im Vertrag den Übergang des Geschäftsbetriebes zeige.

Es sei auch nicht geklärt, ob die Liquidation von Fontaine abgeschlossen sei. Bei einer Liquidation müsse es im Übrigen auch einen Konkursverwalter geben. Wenn Fontaine noch existieren sollte, sei es darüber hinaus fraglich, wie eine Übertragung der Einsprechendenstellung erfolgen könne.

Wie in der Entscheidung T 1421/05 ausgeführt, erfordere die Übertragung der Einsprechendenstellung sowohl einen entsprechenden Antrag als auch den erforderlichen Nachweis darüber. Außerdem müsste analog zu dem der Entscheidung T 956/03 zugrundeliegenden Fall, wonach bei Einlegung der Beschwerde durch die frühere Einsprechende und eines Übergangs während der Beschwerdefrist die Übertragung der Einsprechendenstellung innerhalb der Beschwerdefrist erfolgen müsse (andernfalls sei die Beschwerde nicht zulässig), dies vorliegend auch für die Einsprechende gelten, welche nicht Beschwerde eingelegt habe. Im Übrigen sei der Antrag auf Übertragung der Einsprechendenstellung verspätet vorgebracht. Wenn Unklarheit über die wahre Einsprechende bestehe, seien die Schriftsätze nicht gültig eingereicht.

Die Einspruchsabteilung habe bei der Beurteilung der öffentlichen Zugänglichkeit von Dokument MF1 keine Abwägung der Wahrscheinlichkeit vorgenommen und damit Grundsätze der Beschwerdekammern des EPA entweder nicht berücksichtigt oder nicht überprüft (siehe T 381/87; oder T 750/94, wonach das zugrundeliegende Beweismaterial umso stichhaltiger sein müsse, je schwerwiegender eine zu untersuchende Tatfrage sei - im Falle eines Widerrufs eines europäischen Patents müssten die Gründe voll und ganz bewiesen sein). Im vorliegenden Fall sei MF1 die einzige für die Beurteilung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit herangezogene Schrift, so dass es sich um eine schwerwiegende Tatfrage handele.

In der Entscheidung T 804/05 - unter Bezug auf die als relevant angesehene T 743/89, in der eine technische Broschüre unter Abwägung der Wahrscheinlichkeit beurteilt worden sei - sei ein Katalog als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht beurteilt worden, aber es sei auch (unter Hinweis auf T 37/96) festgestellt worden, dass andere Unterlagen wie Betriebsanleitungen nicht mit einem Werbeprospekt vergleichbar und bezüglich der öffentlichen Zugänglichkeit anders zu beurteilen seien. Im Übrigen bestünden auch Zweifel an der Verteilung von MF1 an Kunden, da - bis auf den Verkauf eines einzigen Blockes SA 66 - keine Belege über Verkäufe vorlägen und das System der Fa. SERMA deshalb nicht über das Stadium eines Prototypen hinausgekommen sein dürfte, so dass nach Abwägen aller Aspekte die Wahrscheinlichkeit größer sei, dass der Prospekt MF1 nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei.

Dokument MF1 sei anders einzuordnen als der in der Entscheidung T 804/05 als Werbeprospekt eingestufte Katalog, und zwar sei MF1 - ebenso wie das mit der Beschwerdeerwiderung eingereichte Dokument MF4 - als ein die Funktion beschreibendes Produktdatenblatt anzusehen, d. h. die Rechtsprechung zur Offenkundigkeit gedruckter Kataloge sei im vorliegenden Fall einzelner, auf den jeweiligen Kunden abgestimmter Produktblätter (leaflets) nicht anwendbar. Darauf weise auch die Darstellung eines Steckkupplungssystems und seiner Funktionsweise in MF1 hin; Maßangaben seien dabei nicht erforderlich, da beide Komponenten des Systems (Stecker und Steckerbuchse) zusammenpassen müssten. Ein Produktdatenblatt weise meist auch kein Druckdatum auf. MF1 stelle ein neues Produkt mit seinen Vorteilen dar, welches ein schnelles An- und Abkuppeln von Aufliegern ermögliche, und zeige neben einer Funktionsbeschreibung auch Daten (bzgl. des Königszapfens, siehe Rückseite von MF1: Pivot fixe 2"). Da es sich bei MF1, wie es auch mit den nachgereichten Papieren MF7 belegt werde, um eine "Umrüstdokumentation" handele, d. h. da es nur um die Umrüstung auf eine automatische Sattelkupplung gehe, würden keine weiteren Informationen benötigt, weil die Mittel zur Ankopplung von Zugfahrzeug und Auflieger und die Versorgungsleitungen für Strom und Druckluft schon existierten.

Wie in der Entscheidung T 278/09 hinsichtlich der Abgrenzung eines Produktdatenblatts von einem Werbeprospekt ausgeführt, werde ein Produktdatenblatt nicht allgemein verteilt, sondern möglicherweise einem Produkt beim Verkauf beigestellt. Es seien also weitere Informationen zur Verteilung eines Produktdatenblatts erforderlich. Das in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegte Original zu MF1 sei ein in steifer Folie eingeschweißtes beidseitig bedrucktes Papier gewesen, wobei eine Verteilung in dieser unüblichen Aufmachung für einen Prospekt unwahrscheinlich sei. Zudem sei MF1 als einzelnes Blatt nicht mit dem in T 804/05 angesprochenen Katalog vergleichbar. Für die Annahme einer Verteilung seien weitere Anhaltspunkte erforderlich, die jedoch nicht geltend gemacht worden seien. Auch habe der Verfasser von MF1, die Firma SERMA, nicht bestätigt, dass MF1 zur Verteilung gelangt sei. Die Angabe "Réf. 10 95" auf Dokument MF1 könne ebenso eine Referenznummer darstellen und müsse nicht notwendigerweise - wie von der Einspruchsabteilung angenommen - auf das Datum "Oktober 1995" hinweisen. Bestünden aber geringste Zweifel an der öffentlichen Zugänglichkeit eines Dokuments, so sei diese zu verneinen.

Die Merkmale 1.0 und 1.7 von Anspruch 1 gemäß Hauptantrag gingen nicht unmittelbar und eindeutig aus dem Dokument MF1 hervor:

MF1 nehme das Merkmal 1.0 nicht neuheitsschädlich vorweg, da das Dokument MF1 auf Seite 1 eine Steckerbuchse und auf Seite 2 einen Stecker zeige, die sich bezüglich der Kontakte unterschieden und deshalb kein Steckkupplungs system mit zueinander passendem Paar aus Stecker und Steckerbuchse darstellten.

Merkmal 1.7 umfasse zwei Teilmerkmale, und zwar sei

(a) die Steckerbuchse an der Sattelkupplung unterhalb der Einfahröffnung angeordnet und

(b) die Steckerbuchse ortsfest angeordnet.

Dem Dokument MF1 sei lediglich zu entnehmen, dass eine Steckerbuchse vorhanden sei, und zwar unterhalb der Sattelkupplung. Wegen der verdeckten Darstellung der beiden Enden der Steckerbuchse in MF1 sei bereits nicht erkennbar, wo die Steckerbuchse befestigt sei, d. h. ob die Steckerbuchse zweifelsfrei - wie mit Teilmerkmal (a) gefordert - an der Sattelkupplung angeordnet sei, oder aber am Zugfahrzeug oder an der Montageplatte zur Befestigung der Sattelkupplung. Auch eine ortsfeste Befestigung sei nicht erkennbar. Merkmal 1.7 sei deshalb dem Dokument MF1 nicht zweifelsfrei - und auch nicht implizit - zu entnehmen, wobei selbst die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung die mögliche Anbringung der Steckerbuchse am Zugfahrzeugrahmen in Betracht gezogen habe. Auch bei einer elastischen Anbringung am Fahrerhaus könne die Steckerbuchse den Schwenkbewegungen der Sattelkupplung folgen (siehe D1), ohne dass eine ortsfeste Anordnung an der Sattelkupplung erforderlich sei.

Der Seite 1 des Dokuments MF1 sei zudem lediglich zu entnehmen, dass die Steckerbuchse vor einem unterhalb der Einfahröffnung der Sattelkupplung angeordneten Bauteil angeordnet sei. Es sei spekulativ, in MF1 - wie von der Beschwerdegegnerin ausgeführt - eine Schweißnaht zwischen diesem als Querträger bezeichneten Bauteil und der Sattelkupplungsplatte zu sehen. In jedem Fall aber sei dem Dokument MF1 nicht unmittelbar und zweifelsfrei entnehmbar, ob zwischen diesem Bauteil und der Steckerbuchse eine Verbindung vorhanden sei. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Steckerbuchse in MF1 an den beiden gegenüberliegenden Rahmenteilen befestigt - und damit nicht an der Sattelkupplung angeordnet - sei, worauf z. B. ein am rechten Ende der Steckerbuchse befindlicher roter Blechstreifen hindeute. Auch bei einer Befestigung am Rahmen könne die Steckerbuchse zum Ausgleich von Kippbewegungen des Aufliegers relativ zum Zugfahrzeug durchaus schwenkbar und beweglich am Rahmen angebracht sein. Mit dem Begriff Sattelkupplung seien die Sattelkupplungsplatte und die Lagerböcke umfasst, aber nicht die in MF1 gezeigte Montageplatte, an der die Lagerböcke mittels Schrauben befestigt seien.

Zur Diskussion der erfinderischen Tätigkeit werde eine Zurückverweisung an die erste Instanz befürwortet.

XII. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin kann wie folgt zusammengefasst werden:

Es sei durch die vorgelegten Unterlagen nachgewiesen worden, dass der Geschäftsbetrieb von der Firma Fontaine mit Wirkung vom 31. Dezember 2010 auf die Muttergesellschaft TMGL übertragen worden sei. Seit Einlegung der Beschwerde befinde sich die ursprüngliche Einsprechende Fontaine im Prozess der Liquidation, allerdings sei Fontaine nach dem für "non-trading or dormant subsidiary companies" geltenden britischen Recht weiterhin eine Rechtsperson und könne in ihrem Namen handeln. Eine bis zu ihrer Auflösung im Prozess der Liquidation befindliche Firma existiere also weiterhin, was durch den vorgelegten Auszug aus dem von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregister belegt werde ("Fontaine International Europe Limited - in Liquidation"). Außerdem handele es sich dabei um eine "voluntary liquidation", die nicht mit einem Konkurs gleichzusetzen sei und bei der deswegen auch kein Konkursverwalter eingesetzt werde. MHT-Europe sei nur der Handelsname einer das Geschäft weiterführenden Sparte, aber keine eigenständige Rechtsperson, wie der fehlende Eintrag in der Liste der alphabetisch aufgelisteten Firmen im vorgelegten Auszug aus dem von Companies House geführten Handelsregister belege. Im vorgelegten Vertrag sei der Einspruch nicht erwähnt, da Einsprüche - anders als Patente - nicht als Eigentum angesehen würden. Die im Vertrag unter "Excluded Assets" aufgeführte Big D Fifthwheels & Landing Legs Limited sei eine separate, einige Jahre zuvor zugekaufte Firma.

In der mündlichen Verhandlung im erstinstanzlichen Verfahren habe MF1 als gedrucktes Dokument - und nicht in Folie eingeschweißt - vorgelegen und sei als mit einem Katalog vergleichbarer Werbeprospekt anzusehen, welcher in großen Mengen zur Verteilung an Kunden und potentielle Kunden gedruckt worden sei. MF1 sei deshalb kein "post-sale" Dokument mit spezifischen Daten. SERMA biete nichtstandardisierte Produkte und Installationen für Kundenfahrzeuge an und produziere deshalb keinen Katalog, sondern nur diesen Typ von Werbeprospekten. Die Angabe "ECHANGE SEMI = 1 Minute!" auf der Vorderseite von MF1 deute darauf hin, dass MF1 Werbeinformationen für potentielle Kunden beinhalte. Da die Montage bzw. Installation durch SERMA selbst ausgeführt werde, sei die Angabe von Dimensionen oder Daten auf dem Werbeprospekt MF1 nicht notwendig. Im Übrigen beinhalte MF1 nur Informationen allgemeiner Natur und keine spezifischen Daten, wie z. B. Angaben zu Freiräumen und Abständen, die es einem Mechaniker ermöglichen würde, eine Installation bzw. Umrüstung auf eine automatische Sattelkupplung durchzuführen.

Es gebe verschiedene Anzeichen dafür, dass MF1 zur Verteilung gelangt sei, z. B. die vollständige Angabe von Namen und Adresse sowie die Angabe "A PARTIR DU 16 OCTOBRE 1996 FUTUR NUMERO: INDICATIF (04)" über eine bevorstehende Änderung der Telefonnummer am 16. Oktober 1996 am unteren Rand von MF1. Auch handele es sich bei der Angabe "Réf. 10 95" am linken Rand von MF1 um das Druckdatum und nicht um eine Produktnummer. Dies werde auch belegt durch das weitere Dokument MF4, welches zeige, wie die Firma SERMA ihre Produkte und Dienstleistungen gegenüber Kunden und potentiellen Kunden bewerbe.

Es sei als Maßstab bei der Beweiswürdigung die Abwägung der Wahrscheinlichkeit anzusetzen und es sei nicht ein über jeden Zweifel erhabener Nachweis ("proof beyond any doubt") notwendig. Deshalb habe die Einspruchsabteilung auch richtigerweise eine Abwägung der Wahrscheinlichkeit angewendet.

In Bezug auf das in Anspruch 1 gemäß Hauptantrag definierte Merkmal 1.0 sei festzustellen, dass die auf der Vorderseite des Dokuments MF1 dargestellte Steckerbuchse mit 8 Metall knöpfen und 6 Öffnungen kompatibel sei mit dem auf der Rückseite von MF1 dargestellten Stecker mit 14 Metallknöpfen, da an den durch die Öffnungen dargestellten Positionen keine Verbindung hergestellt werde, womit Kundenanforderungen, die auf eine geringere Anzahl von elektrischen Verbindungen gerichtet seien, entsprochen werde.

Merkmal 1.7 gehe klar aus dem Dokument MF1 hervor, denn MF1 zeige einen mit der Sattelkupplungsplatte verschweißten Querträger, an dessen Vorderseite die Steckerbuchse befestigt sei. Bei der Beurteilung der Neuheit sei zu prüfen, was MF1 dem Fachmann im Lichte des ihm bekannten Standes der Technik offenbare, welcher im Streitpatent in den Absätzen [0004] und [0005] beschrieben sei. Im Stand der Technik sei die Steckerbuchse immer an der Sattelkupplung angebracht, was der Fachmann also dem Dokument MF1 entnehme. Insbesondere müsse die Steckerbuchse zum Ausgleich von Kippbewegungen bei Bergabfahrten des Sattelzuges an der Sattelkupplung angebracht sein, da jede andere Anbringung unwirtschaftlich sei. Eine ortsfest angeordnete Steckerbuchse sei im Stand der Technik ebenfalls bekannt (siehe Absätze [0008] und [0009] des Streitpatents). Mit den Augen des Fachmanns betrachtet weise nichts in MF1 auf verfahrbare Komponenten eines Steckkupplungssystems hin, d. h. die Steckerbuchse gemäß MF1 sei auch ortsfest.

Eine direkte Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands werde zwar bevorzugt, aber es gebe auch keine Einwände gegen eine Zurückverweisung an die erste Instanz.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Übertragung der Einsprechenden- und Beschwerdegegnerinstellung

2.1 Die Einsprechendenstellung ist nicht frei übertragbar (G 2/04, ABl. EPA 2005, 549). Die verfahrensrechtliche Stellung des Einsprechenden kann, wie mit der Regel 60 (2) EPÜ 1973 bzw. der Regel 84 (2) EPÜ implizit anerkannt, auf die Erben übergehen, und in entsprechender Weise ist auch der Eintritt des Gesamtrechtsnachfolgers in die Einsprechendenstellung zulässig (siehe G 4/88, ABl. EPA 1989, 480, Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Ein beim EPA anhängiger Einspruch kann auch "als zum Geschäftsbetrieb des Einsprechenden gehörend zusammen mit jenem Bereich dieses Geschäftsbetriebes an einen Dritten übertragen oder abgetreten werden, auf den sich der Einspruch bezieht" (G 4/88, loc. cit., Entscheidungsformel). Eine Übertragung der Beteiligtenstellung in einem anhängigen Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren ist rechtsgeschäftlich somit nur zulässig, wenn sie zusammen mit der Übertragung des Geschäftsbetriebes oder Unternehmensteils erfolgt, in dessen Interesse der Einspruch bzw. die Beschwerde eingelegt wurde (T 659/92, ABl. EPA 1995, 519; s. a. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 6. Auflage 2010, VII.C.5.1). Anders als bei einer Gesamtrechtsnachfolge bleibt jedoch der bisherige Beteiligte im Verfahren berechtigt und verpflichtet, solange der Nachweis über eine rechtsgeschäftliche Übertragung der Beteiligtenstellung nicht erbracht wurde und ein entsprechender Antrag beim EPA nicht eingegangen ist, da der Wechsel der Parteistellung erst mit seiner Geltendmachung und dem Nachweis eintritt (siehe Entscheidung T 870/92 v. 08.08.1997, Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe, die in zahlreichen späteren Entscheidungen, wie z.B. in der von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidung T 956/03, bestätigt wurde; siehe auch T 1421/05, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe; T 1137/97, Nr. 4 der Entscheidungsgründe; T 1032/10, Nrn. 1 - 3 der Entscheidungsgründe).

2.2 Vorliegend konnte die Beschwerdegegnerin mit den Seiten 1 - 4 der Auszugsseiten des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters (B6) nachweisen, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer die Firma Fontaine sich zwar in Liquidation befand, aber noch nicht aufgelöst worden war. Wie auch die Beschwerdegegnerin vorgetragen hat, existierte die sich im Prozess der Liquidation befindliche Firma Fontaine nach dem geltenden britischen Recht als "dormant company" weiterhin als eine Rechtsperson. Damit war zu diesem Zeitpunkt die Firma Fontaine immer noch Partei. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt, dass die zugelassene Vertreterin die Firma Fontaine nicht mehr vertreten konnte, da ihre Vollmacht weder von der Firma Fontaine noch von einem etwaigen Liquidationsverwalter widerrufen wurde.

2.3 Aus dem Schreiben vom 20. Dezember 2010 (B1) und dem Übertragungsvertrag vom 31. Dezember 2010 (B3) geht hervor, dass die Firma Fontaine ihren Geschäftsbetrieb, die Herstellung und den Verkauf von Bestandteilen für die Nutzfahrzeugindustrie in Europa betreffend, unmittelbar nach dem Geschäftsschluss am 31. Dezember 2010 auf die Firma TMGL übertragen hat. Nach Ansicht der Kammer umfassen die auf Seite 3 im Vertrag (B3) genannten "Excluded Assets" lediglich das Aktienkapital der Verkäuferin Fontaine an der Firma Big D Fifthwheels & Landing Legs Limited und stellen die Übertragung des vorgenannten Geschäftsbetriebs nicht in Frage. Da es vorliegend um Steckkupplungssysteme zum Verbinden von Leitungen zwischen einem Zugfahrzeug und einem Auflieger geht, wurde der Einspruch auch im Interesse dieses Geschäftsbetriebs eingelegt.

2.4 Mit den Schreiben vom 20. Dezember 2010 (B1) und vom 19. Januar 2011 (B2) sowie der Auszugsseite des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters (B4) wurde auch nachgewiesen, dass die Firma TMGL als eigenständige Rechtsperson existiert.

2.5 Aus dem Schreiben vom 19. Januar 2011 (B2) geht auch hervor, dass MHT-Europe keine eigenständige Rechtsperson, sondern lediglich eine Handelsabteilung der Firma TMGL ("a trading division of the The Marmon Group Limited") ist. Dies wird durch die Seite 5 der vorgelegten Auszugsseiten des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters (B6) bestätigt, da in der alphabetisch geführten Liste von eingetragenen Firmen eine "MHT-Europe" nicht aufgeführt ist. Ähnliches gilt für Fontaine Fifth Wheel und MHT (die Abkürzung von "MARMONHIGHWAYTECHNOLOGIES", wie aus dem zweiseitigen Internetausdruck (B7) hervorgeht), da eine Eintragung dieser Namen in den Seiten 1 - 3 bzw. Seite 5 der vorgelegten Auszugsseiten des von der staatlichen Behörde Companies House geführten Handelsregisters (B6) nicht zu finden ist.

2.6 Aus den vorstehenden Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass der vollständige Nachweis über eine rechtsgeschäftliche Übertragung des Einspruchs mit dem Geschäftsbetrieb der Einsprechenden und Beschwerdegegnerin Fontaine auf die Firma TMGL mit Wirkung vom 31. Oktober 2010 erst in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer erbracht wurde und damit erst zu diesem Zeitpunkt dem Antrag auf Übertragung der Beteiligtenstellung der Einsprechenden- und Beschwerdegegnerin stattgegeben werden konnte.

Auch wenn der Antrag auf eine Übertragung der Beteiligtenstellung und die als Nachweis dienenden Unterlagen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens vorgelegt wurden, sah die Kammer keinen Grund, den Antrag und die dazugehörenden Beweismittel nicht zu berücksichtigen. Insbesondere konnte sich die Kammer nicht der Auffassung der Beschwerdeführerin anschließen, wonach vorliegend die Entscheidung T 956/03 analog dahingehend anzuwenden sei, dass im Falle einer Übertragung vor Ablauf der Beschwerdefrist dies ebenfalls vor Ablauf der Beschwerdefrist nachgewiesen werden müsse. In der Entscheidung T 956/03 folgte die Kammer der gefestigten Rechtsprechung, dass eine Übertragung frühestens von dem Tag anerkannt werden kann, an dem die Übertragung in geeigneter Weise nachgewiesen worden ist (siehe T 956/03, Nr. 4. der Entscheidungsgründe; und auch Punkt 2.1 oben), und hielt dies im Interesse der Rechtssicherheit für wünschenswert, um zu gewährleisten, dass die Identität eines Einsprechenden bekannt sei. Im Fall T 956/03 hatte die Kammer darüber hinaus auch über die Zulässigkeit der Beschwerde einer der Beschwerdeführerinnen zu entscheiden, die geltend gemacht hatte, die Rechtsnachfolgerin einer der Einsprechenden des erstinstanzlichen Verfahrens zu sein, ohne einen entsprechenden Nachweis innerhalb der Beschwerdefrist vorzulegen. Im Lichte dieses Sachverhalts ist der in der Entscheidung T 956/03 (Nr. 7 der Entscheidungsgründe) aufgestellte Grundsatz zu verstehen, dass die Befugnis des Betreffenden, an die Stelle des Einsprechenden zu treten, ebenfalls vor Ablauf der Beschwerdefrist durch Vorlage der erforderlichen Beweise nachgewiesen werden müsse, wenn die Übertragung vor Ablauf der Beschwerdefrist erfolgt sei. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um die Frage der Zulässigkeit einer von einem angeblichen Rechtsnachfolger eingereichten Beschwerde. Vielmehr hat vorliegend die am erstinstanzlichen Verfahren beteiligte Einsprechende zunächst als Beschwerdegegnerin gehandelt, und es wurde erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens der Antrag auf Übertragung der Beteiligtenstellung gestellt, so dass nach Ansicht der Kammer eine analoge Anwendung des vorgenannten Grundsatzes auf den vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt ist. Dies steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach die Beteiligtenstellung des Einsprechenden im Beschwerdeverfahren auch nach Ablauf der Beschwerdefrist auf einen Dritten übergehen kann, und zwar unabhängig davon ob es sich bei dem Einsprechenden um den Beschwerdeführer oder den Beschwerdegegner handelt (siehe auch T 670/95, Nr. 2 der Entscheidungsgründe), sofern dadurch nicht die Zulässigkeit der Beschwerde in Frage gestellt wird.

2.7 Im Ergebnis war mit Wirkung vom 14. Mai 2013 die Einsprechenden- und Beschwerdegegnerinstellung der Firma Fontaine auf die Firma TMGL übergegangen, mit der das Beschwerdeverfahren fortgeführt wurde. Diese Feststellungen wurden den Beteiligten im Anschluss an die diesbezügliche Diskussion und die Beratung der Kammer in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2013 mitgeteilt.

3. Öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments MF1

3.1 Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung, dass es sich bei dem Dokument MF1 nicht um eine Werbebroschüre handele, sondern um ein Produktdatenblatt, so dass nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 278/09 und T 804/05) nicht davon auszugehen sei, dass das Dokument MF1 allgemein verteilt worden sei.

Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die bloße Abwägung der Wahrscheinlichkeit der öffentlichen Zugänglichkeit eines vermeintlich neuheitsschädlichen Produktdatenblatts, dessen öffentliche Zugänglichkeit sich nur auf Vermutungen stützt, unzureichend (siehe T 278/09, Punkt 1.3.1 der Entscheidungsgründe).

Es ist deshalb zunächst die Frage zu klären, ob es sich bei dem Dokument MF1, das im Beschwerdeverfahren im Original und nicht in steifer Folie eingeschweißt eingereicht wurde, um einen Werbeprospekt oder um ein Produktdatenblatt handelt.

3.2 Die Kammer ist der Ansicht, dass ein Produktdatenblatt nichts über die Vermarktung eines Produkts aussagt, sondern über die Zusammensetzung von neuentwickelten oder verbesserten Produkten, und es hat damit einen anderen Informationsgehalt als ein Werbeprospekt (siehe auch T 278/09, Nr. 1.3.1 der Entscheidungsgründe).

Der Beschwerdegegnerin ist zuzustimmen, dass das Dokument MF1 keine detaillierten technischen Daten wie z. B. Angaben zu Dimensionen, Abständen und Freiräumen enthält, die eine Installation bzw. Umrüstung auf eine automatische Sattelkupplung ermöglichen würden, sondern lediglich technische Informationen allgemeiner Natur. Ebenso wie die Beschwerdegegnerin sieht die Kammer in der Angabe "ECHANGE SEMI = 1 Minute!" auf der Vorderseite von MF1 einen weiteren deutlichen Hinweis darauf, dass das Dokument MF1 lediglich Werbeinformationen für potentielle Kunden beinhaltet. Letzteres wird darüber hinaus durch die bildlichen Darstellungen und die Angaben der Kontaktdaten der Firma SERMA untermauert. Die Kammer kommt deshalb ebenso wie die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Dokument MF1 um einen Werbeprospekt handelt.

3.3 Da es sich im vorliegenden Fall um einen Werbeprospekt handelt, war es durchaus gerechtfertigt, dass die Einspruchsabteilung die Entscheidung T 804/05 angewandt hat, die ebenfalls die öffentliche Zugänglichmachung eines Werbeprospekts betraf. In dieser Entscheidung (siehe Nr. 2 der Entscheidungsgründe) wurde für die Frage, wann der Werbeprospekt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, die Entscheidung T 743/89 als relevant angesehen, in der wiederum hinsichtlich des Maßstabes bei der Beweiswürdigung die Entscheidung T 381/87 (ABl. EPA 1990, 213) angewandt wurde. In der Entscheidung T 381/87 entschied die zuständige Kammer, dass bei Tatfragen, in denen es darum gehe, wann ein Dokument der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht worden sei, anhand des vorliegenden Beweismaterials nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit festgestellt werden müsse, was "aller Wahrscheinlichkeit nach" geschehen sei, und dass dies der übliche Maßstab bei der Beweiswürdigung in Verfahren dieser Art sei (Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe). Deshalb ist die Kammer der Ansicht, dass im vorliegenden Fall die Einspruchsabteilung ausgehend von der Entscheidung T 804/05 letztlich die Grundsätze der Entscheidung T 381/87 angewandt und damit sehr wohl eine Abwägung der Wahrscheinlichkeit vorgenommen hat. In der weiteren von der Beschwerdeführerin zitieren Entscheidung T 750/94 (ABl. EPA 1998, 32) wurde ebenfalls auf die Entscheidung T 381/87 Bezug genommen und Folgendes ausgeführt: "Je schwerwiegender eine Tatfrage ist, die das EPA untersucht und nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit entscheidet, um so stichhaltiger muß das zugrundeliegende Beweismaterial sein. Führt die Entscheidung über diese Frage möglicherweise zur Zurückweisung einer europäischen Anmeldung oder zum Widerruf eines europäischen Patents - z. B. wegen einer angeblichen Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung -, so ist das vorliegende Beweismaterial sehr kritisch und genau zu prüfen. Eine europäische Patentanmeldung sollte nur zurückgewiesen und ein europäisches Patent nur widerrufen werden, wenn die Zurückweisungs- bzw. Widerrufsgründe (d. h. die rechtlichen und faktischen Gründe) voll und ganz bewiesen sind" (siehe Leitsatz 1 und auch Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Es gibt keinen Anhaltspunkt in der Begründung der angefochtenen Entscheidung, dass die Einspruchsabteilung bei der Abwägung der Wahrscheinlichkeit das ihr vorgelegene Beweismaterial nicht kritisch und genau geprüft hat.

Aus den vorgenannten Gründen kann der Beschwerdeführerin nicht zugestimmt werden, dass die Einspruchsabteilung nicht die von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten Grundsätze in ihrer Entscheidung angewandt hat.

3.4 Die Einspruchsabteilung hat auch begründet, warum sie anhand der Angaben in dem ihr als Originaldokument vorgelegenen Werbeprospekt MF1 zu der Auffassung gelangte, dass dieser Prospekt als vor dem 16. Oktober 1996 offenbart angesehen wird. Die Kammer ist ebenso der Auffassung, dass insbesondere aufgrund der zusätzlichen Angabe "A PARTIR DU 16 OCTOBRE 1996 FUTUR NUMERO: INDICATIF (04)" (unterhalb der im Prospekt angegebenen Telefon- und Faxnummern der Firma SERMA) davon ausgegangen werden kann, dass der Werbeprospekt vor dem 16. Oktober 1996 oder zumindest unmittelbar nach diesem Datum und damit lange vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents (14. Mai 2004) verteilt worden ist. Hinzukommt, dass es sich bei der Angabe "Réf. 10 95" am linken Rand von MF1 wohl eher um das Druckdatum und nicht um eine Produktnummer handelt, da Oktober 1995 ein Jahr vor dem vorgenannten 16. Oktober 1996 liegt und somit ein Druckdatum "Oktober 1995" in den Zeitablauf passt und deshalb nach Ansicht der Kammer sehr wahrscheinlich ist. Da aus dem Dokument MF1 ersichtlich ist, dass dieser Werbeprospekt vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, kommt es auf die Nachweise MF4 bis MF7 vorliegend nicht an, zumal aus diesen Beweisunterlagen nichts zu entnehmen ist, was der vorgenannten Schlussfolgerung der Kammer entgegenstehen würde. Damit war auch eine Vernehmung des angebotenen Zeugen nicht erforderlich.

3.5 Aus den vorgenannten Gründen sieht die Kammer keine Veranlassung, die Entscheidung der Einspruchsabteilung, dass das Dokument MF1 zum Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ 1973 gehört, zu beanstanden.

4. Hauptantrag - Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Streitpatents gegenüber MF1

Seitens der Beschwerdeführerin wurde bestritten, dass die Merkmale 1.0 und 1.7 des Anspruchs 1 des Streitpatents in Dokument MF1 gezeigt seien.

Bezüglich Merkmal 1.0 schließt sich die Kammer der Auffassung der Beschwerdegegnerin an, dass die auf der Vorderseite des Dokuments MF1 dargestellte Steckerbuchse kompatibel ist mit dem auf der Rückseite von MF1 dargestellten Stecker, auch wenn die Anzahl der Metallknöpfe zur Herstellung einer elektrischen Verbindung nicht übereinstimmt, da bei Steckverbindungen aus Kostengründen vorzugsweise elektrische Kontakte eingespart werden, wenn aufgrund der Kundenanforderung nur eine geringere Anzahl von elektrischen Verbindungen erforderlich ist. Die Tatsache, dass gemäß MF1 elektrische Kontakte nur auf der Seite des Zugfahrzeugs für die Steckerbuchse eingespart sind, steht dem im Übrigen nicht entgegen, da ein spezifisches Zugfahrzeug eine konkrete elektrische Installation aufweist und damit die anzuschließenden elektrischen Leitungen bekannt sind, während Auflieger mit unterschiedlichen Zugfahrzeugen gekoppelt werden und damit aufliegerseitig eine Maximalbestückung der Kontakte Sinn macht.

Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist bei der Beurteilung der Neuheit zu prüfen, ob die Merkmale des beanspruchten Gegenstands unmittelbar und eindeutig aus der Entgegenhaltung hervorgehen. Vorliegend geht nach Auffassung der Kammer Merkmal 1.7 des Anspruchs 1 jedoch weder explizit noch implizit für den Fachmann unmittelbar und eindeutig aus dem Dokument MF1 hervor. In MF1 ist zwar eine Steckerbuchse unterhalb der Sattelkupplung gezeigt, wegen der verdeckten Darstellung der beiden Enden der Steckerbuchse ist aber nicht zweifelsfrei erkennbar, wo die Steckerbuchse angeordnet ist, d. h. ob wie mit Merkmal 1.7 gefordert an der Sattelkupplung oder aber am Zugfahrzeug oder an der Montageplatte zur Befestigung der Sattelkupplung.

Gemäß dem Wortlaut von Anspruch 1 ist die Steckerbuchse an der Sattelkupplung "angeordnet" und nicht "befestigt", wobei eine Befestigung eine spezifische Form der Anordnung darstellen würde. Gleichwohl wird dem Begriff "angeordnet an" eine einschränkende Bedeutung dahingehend eingeräumt, dass damit die räumliche Platzierung der Steckerbuchse näher definiert wird. Eine an der Sattelkupplung angeordnete Steckerbuchse wird demnach verstanden als eine Steckerbuchse, die im Bereich der Sattelkupplung platziert oder vorgesehen ist. Die Kammer schließt sich der von der Beschwerdeführerin gegebenen Definition einer Sattelkupplung an, welche ein System aus Sattelkupplungsplatte und Lagerböcken umfasst, die von einem Zulieferer an den LKW-Hersteller geliefert und dort am Rahmen des LKWs - z. B. auf einer Montageplatte wie in MF1 gezeigt - befestigt wird. Die Montageplatte ist dabei nicht mehr notwendigerweise der Sattelkupplung zuzurechnen, wobei in der in MF1 gezeigten Darstellung die Steckerbuchse unterhalb von Sattelkupplungsplatte und Lagerböcken und auch unterhalb der Montageplatte, also keinesfalls mehr im Bereich der Sattelkupplung vorgesehen ist. Die Steckerbuchse ist vielmehr zwischen den zwei Längsträgern und damit im Bereich des Fahrzeugrahmens vorgesehen. Es ist in MF1 lediglich zu erkennen, dass die Steckerbuchse vor einem als Querträger erkennbaren Bauteil platziert ist. Es handelt sich dabei jedoch weder zweifelsfrei um eine Befestigung oder Verbindung der Steckerbuchse zu diesem Querträger noch unmittelbar und eindeutig um eine Befestigung oder Verbindung der Steckerbuchse zu Komponenten der Sattelkupplung, was als Basis für die Offenbarung einer an der Sattelkupplung angeordneten Steckerbuchse dienen könnte. Unabhängig davon, ob die Sattelkupplungsplatte und der gezeigte Querträger noch miteinander verschweißt sind oder nicht, kann dem Dokument MF1 also nicht unmittelbar und zweifelsfrei entnommen werden, dass die Steckerbuchse mit dem Querträger und damit gegebenenfalls auch mit der Sattelkupplungsplatte verbunden ist. Merkmal 1.7 ist damit bereits aus diesem Grund nicht zweifelsfrei in MF1 offenbart.

Auch das von der Beschwerdegegnerin vorgebrachte Argument, dass nur bei einer an der Sattelkupplung angeordneten Steckerbuchse Kippbewegungen des Aufliegers relativ zum Zugfahrzeug z. B. bei Fahrt über einen Hügel ausgeglichen würden, konnte nicht überzeugen, da durchaus auch eine bewegliche Anbringung der Steckerbuchse am Rahmen denkbar ist.

Aufgrund der obigen Feststellungen kann dahingestellt bleiben, ob die laut Merkmal 1.7 zusätzlich geforderte ortsfeste Anordnung der Steckerbuchse an der Sattelkupplung einen weiteren Unterschied gegenüber der in MF1 gezeigten Anordnung begründet oder nicht.

Nach den bei der Neuheitsprüfung anzulegenden Kriterien ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents aus den oben dargelegten Gründen neu gegenüber dem aus dem Dokument MF1 bekannten Stand der Technik, und es steht deshalb der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) i. V. m. Artikel 54 (1) EPÜ 1973 im Hinblick auf den vorliegenden Stand der Technik der Aufrechterhaltung des Streitpatents nicht entgegen.

5. Zurückverweisung an die erste Instanz

Die Einspruchsabteilung hat sich zur erfinderischen Tätigkeit in Bezug auf den Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht geäußert. Insbesondere hat die Fragestellung, ob eine Anordnung der Steckerbuchse an der Sattelkupplung ausgehend von Dokument MF1 als naheliegend anzusehen ist, im erstinstanzlichen Verfahren und auch in der angefochtenen Entscheidung keine Rolle gespielt. Die Beschwerdeführerin hat eine Zurückverweisung an die erste Instanz befürwortet, und auch die Beschwerdegegnerin stellte sich dem nicht entgegen.

Die Kammer hält es daher für angebracht, von ihrer Befugnis nach Artikel 111 (1) EPÜ 1973 Gebrauch zu machen und die Sache zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird zur weiteren Prüfung an die erste Instanz zurückverwiesen.

Quick Navigation