T 1312/09 () of 26.5.2011

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2011:T131209.20110526
Datum der Entscheidung: 26 Mai 2011
Aktenzeichen: T 1312/09
Anmeldenummer: 01933857.3
IPC-Klasse: A01J 5/08
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Melkbecher für Melkmaschinen
Name des Anmelders: Maier, Jakob, Jun., et al
Name des Einsprechenden: WestfaliaSurge GmbH
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 100(a)
Schlagwörter: Hauptantrag und Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit (nein)
Hilfsantrag 2 - erfinderische Tätigkeit (ja)
Team von Fachleuten
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0039/93
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) hat am 12. Juni 2009 gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 15. April 2009 den Einspruch zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt, gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet, und am 17. August 2009 die Beschwerde schriftlich begründet.

II. Der Einspruch wurde auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) (Neuheit und erfinderische Tätigkeit) und b) (mangelnde Offenbarung) EPÜ 1973 gestützt.

III. Folgende Entgegenhaltungen haben in diesem Verfahren eine Rolle gespielt:

D2: DE-A-2 046 276

D5: DE-A-25 23 465

IV. Am 26. Mai 2011 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.

Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Sie hat im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

D5 offenbare alle Merkmale des Oberbegriffs des Anspruchs 1 wie erteilt. Die kennzeichnenden Merkmale seien aus D2 bekannt. Der zuständige Fachmann bestehe aus einem "Team von Fachleuten", dem ein Agrarbiologe sowie ein Maschinenbauingenieur angehörten. Es sei daher für den Agrarbiologen offensichtlich, dass beide Maßnahmen dazu beitrügen, das Wohlbefinden des Tieres beim Melken weiter zu verbessern. Für den Maschinenbauingenieur sei es auch naheliegend nur ein Lufteinlassventil zu benutzen, weil die Funktionalität der in D2 und D5 verwendeten Ventile gleich sei. Daher beruhe der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrag und des Hilfsantrags 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Der Hilfsantrag 2 füge lediglich Merkmale hinzu, die im Rahmen des fachmännischen Könnens lägen.

Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) hat dem widersprochen und im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:

Die der Erfindung zugrundeliegende Aufgabe bestehe darin, das Wohlbefinden der Tiere beim Melken zu verbessern. Da gemäß der Lehre von D5 bereits eine Massage der Zitze erfolge und somit die gestellte Aufgabe gelöst sei, bestehe für den Fachmann keine Veranlassung zu diesem Zweck auch noch D2 heranzuziehen. Selbst wenn der Fachmann erwägen sollte, die Lehren von D5 und D2 zu kombinieren, könne er nicht zum beanspruchten Gegenstand gelangen. Der hier zuständige Fachmann sei nämlich ein Agrarbiologe, für den es nicht naheliegend wäre, die als Ergebnis der Kombination nun zwei vorhandenen Lufteinlassventile, durch ein einziges zu ersetzen.

Im Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 werde zusätzlich verlangt, dass die Verzögerung steuerbar sei. Keine der Entgegenhaltungen lege eine solche Einstellbarkeit der Verzögerung nahe.

Der Beschwerdegegner beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen (Hauptantrag), hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent mit den Ansprüchen wie erteilt und mit geänderter Beschreibung (Hilfsantrag 1), weiter hilfsweise auf der Grundlage der mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2009 eingereichten Ansprüche 1 bis 4 und angepasster Beschreibung (Hilfsantrag 2), aufrechtzuerhalten.

VI. Anspruch 1 gemäß Haupt- bzw. Hilfsantrag 1 (wie erteilt) lautet wie folgt:

"1. Melkbecher (1) mit einer Becherhülse (2), einem in die Becherhülse (2) eingesetzten Zitzengummi (3) mit einem Kopfstück (4) und einem mit einer Milchabführleitung verbindbaren Saugstutzen (5), und mit einem am Melkbecher (1) vorgesehenen, über eine erste Leitung (14) mit dem Innenraum des Saugstutzens (5) verbundenen Lufteinlassventil (13), das in Abhängigkeit einer Entlastungsphase, während der in einem Zwischenraum (12) zwischen der Becherhülse (2) und dem Saugstutzen (5) ein im Bezug zum in der Milchabführleitung anstehenden Melkvakuum ein das Einfalten des Saugstutzens (5) bewirkender höherer Druck erzeugt wird, Atmosphärenluft in den Saugstutzen (5) eindringen lässt, dadurch gekennzeichnet, dass im Kopfstück (4) des Zitzengummis (3) eine Öffnung (25) zum Innenraum des Zitzengummis (3) vorgesehen ist, wobei die Öffnung (25) in Abhängigkeit von der Entlastungsphase steuerbar mit Atmosphärenluft beaufschlagbar ist und eine zweite Leitung (24) in Strömungsverbindung mit der Öffnung und dem Lufteinlassventil vorgesehen ist, um die Öffnung mit Atmosphärenluft zu beaufschlagen."

VII. Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 2 fügt zu den Merkmalen des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag noch weiter hinzu "und die Öffnung zeitlich verzögert zum Beginn der Entlastungsphase steuerbar mit Atmosphärenluft beaufschlagbar ist".

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Hauptantrag, Hilfsantrag 1 - erfinderische Tätigkeit:

2.1 Es ist unbestritten, dass D5 den nächstkommenden Stand der Technik darstellt.

Aus dieser Entgegenhaltung (Seite 5, Zeile 7 bis Seite 6, erster Absatz; Figur 1) ist ein Melkbecher (1) bekannt, mit einer Becherhülse (2), einem in die Becherhülse (2) eingesetzten Zitzengummi (3) mit einem Kopfstück (4) und einem mit einer Milchabführleitung verbindbaren Saugstutzen (5), und mit einem am Melkbecher (1) vorgesehenen, über eine erste Leitung (14) mit dem Innenraum des Saugstutzens (5) verbundenen Lufteinlassventil (13), das in Abhängigkeit einer Entlastungsphase, während der in einem Zwischenraum (12) zwischen der Becherhülse (2) und dem Saugstutzen (5) ein im Bezug zum in der Milchabführleitung anstehenden Melkvakuum ein das Einfalten des Saugstutzens (5) bewirkender höherer Druck erzeugt wird, Atmosphärenluft in den Saugstutzen (5) eindringen lässt.

2.2 Der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Haupt- bzw. Hilfsantrag 1 unterscheidet sich von dem aus D5 bekannten Melkbecher dadurch, dass:

im Kopfstück des Zitzengummis eine Öffnung zum Innenraum des Zitzengummis vorgesehen ist, wobei die Öffnung in Abhängigkeit von der Entlastungsphase steuerbar mit Atmosphärenluft beaufschlagbar ist und eine zweite Leitung in Strömungsverbindung mit der Öffnung und dem Lufteinlassventil vorgesehen ist, um die Öffnung mit Atmosphärenluft zu beaufschlagen.

2.3 Gemäß der Streitpatentschrift besteht die der Erfindung zugrundeliegende Aufgabe (Spalte 1, Zeilen 46 bis 49) darin, einen verbesserten Melkbecher mit einfachem Aufbau, guter Reinigungsfähigkeit und das Wohlbefinden des Tieres beim Melken fördernde Eigenschaften bereitzustellen.

2.4 Durch die aus D5 bekannten Merkmale wird ein schonender Umgang mit dem Euter des zu melkenden Haustieres gewährleistet, wobei die Melkanlage einfach zu handhaben und zu reinigen ist. Dies wird auch im Streitpatent, Abschnitt [0002] gewürdigt. Ferner wird in D5, Seite 6, erster Absatz angegeben, dass durch den Einlass von Atmosphärenluft in den Saugstutzen eine Massage der Zitze durchgeführt und eine Rückinjektion von Milch in die Zitze vermieden wird.

Ausgehend von D5 kann die objektive technische Aufgabe somit darin gesehen werden, das Wohlbefinden des Milch gebenden Haustieres beim Melken weiter zu verbessern.

2.5 Der Beschwerdegegner hat die Ansicht vertreten, der im vorliegenden Fall zuständige Fachmann sei ein Agrarbiologe mit geringen Maschinenbaukenntnissen. Dem kann nicht zugestimmt werden. Für die Entwicklung eines wie hier beanspruchten Melkbechers sind nicht nur eingehende Kenntnisse der Anatomie und der Verhaltungsweisen von Milch gebenden Haustieren, insbesondere von Kühen, sondern auch ausführliche technische Kenntnisse im Bereich der Melkbecher und der pneumatischen Melkanlagen nötig, um die tierspezifischen Erfordernisse konstruktiv umsetzen zu können. Ein Melkbecher ist ein technisch komplexer Gegenstand, wie auch klar aus dem diesbezüglichen Vortrag des Erfinders hervorgegangen ist.

Daher besteht im vorliegenden Fall der "Fachmann" aus einem "Team von Fachleuten", das sich aus einem Agrarbiologen und auch einem Maschinenbauingenieur mit Erfahrung im Bereich der Melkbecher und der pneumatischen Melkanlagen zusammensetzt.

2.6 Aus D2 (Seite 2, erster Absatz) ist es bekannt, im Kopfstück des Zitzengummis eine Öffnung zum Innenraum des Zitzengummis vorzusehen, wobei die Öffnung in Abhängigkeit von der Entlastungsphase steuerbar mit Atmosphärenluft beaufschlagbar ist und eine Leitung in Strömungsverbindung mit der Öffnung und einem Lufteinlassventil vorzusehen, um die Öffnung mit Atmosphärenluft zu beaufschlagen.

Dadurch wird eine Massage der Zitze bewirkt und es werden Durchblutungsstörungen der Zitze vermieden (siehe Seite 2, erster Absatz).

Da eine verbesserte Durchblutung und Massage der Zitze das Wohlbefinden des zu melkenden Haustieres nur fördern können, liegt es für den Fachmann nahe, wie durch D2 gelehrt, atmosphärische Luft auch in den Kopfbereich eines aus D5 bekannten Zitzengummis einzuleiten.

2.7 Der Beschwerdegegner hat vorgetragen, dass, weil D5 und D2 von dem selben Erfinder wie das Streitpatent stammen und zum Zeitpunkt der Entwicklung von D5 der Erfinder bereits D2 kannte, es nicht naheliegend sein könne, D5 mit D2 zu kombinieren. Mit anderen Worten, was für den Erfinder nicht naheliegend ist, kann auch für den Fachmann nicht naheliegend sein. Dem kann nicht gefolgt werden. Laut der ständigen Rechtsprechung, ist der Fachmann im Sinne des Artikels 56 EPÜ ein normaler Sachverständiger, der auf dem Gebiet der Erfindung tätig ist und über ein durchschnittliches Wissen und Können verfügt, nicht ein überragender oder gewiefter Fachmann und vor allem kein Erfinder, siehe Schulte, PatG, 8. Auflage, § 4, Rdn 39 bis 41 und T 0039/93, EPA ABl. 97, 134.

D2 und D5 beschreiben zwei verschiedene Maßnahmen, die je zur Verbesserung des Wohlbefindens eines Milch gebenden Haustieres beim Melken beitragen. Da ersichtlich dagegen kein Vorurteil bestand, ist es nicht einzusehen, warum ein Fachmann nicht beide Maßnahmen gleichzeitig einsetzen sollte.

Weiter hat der Beschwerdegegner behauptet, der Fachmann hätte in D2 keine Veranlassung finden können, einen aus D5 bekannten Melkbecher weiterzuentwickeln, weil D5 bereits die der Erfindung zugrundeliegende Aufgabe löse.

Auch dem kann nicht zugestimmt werden, weil, wie vorstehend ausgeführt, die gegenüber dem nächstkommenden Stand der Technik D5 zu lösende Aufgabe darin besteht, das Wohlbefinden des Milch gebenden Haustieres beim Melken "weiter zu verbessern", das heißt ein bessere Lösung für eine bereits in D5 gelöste Aufgabe bereitzustellen.

Obwohl der in D5 beschriebene Melkbecher, bereits einen schonenden Umgang mit dem Euter des Tieres gewährleistet, soll er vorrangig eine Benetzung des Lufteinlassventils mit Milch vermeiden, sowie ein verbessertes Abfließen dieser erreichen. Die Lehre von D2 hingegen bringt Vorteile hinsichtlich der Eutergesundheit (siehe Streitpatentschrift, Abschnitt [0004]), weil sie zu einer weniger starken Einschnürung des Zitzenbereichs und somit zu einer besseren Blutzirkulation führt (Streitpatentschrift, Spalte 2, Zeilen 17 bis 19).

Es bestand daher offensichtlich ein Vorteil darin, beide Maßnahmen gleichzeitig zu verwirklichen.

Schließlich hat der Beschwerdegegner vorgetragen, es liege nicht nahe, die Steuerung der Lufteinlassleitung in den Kopfbereich und in das saugseitige Ende des Zitzengummis über ein einziges Ventil zu realisieren, weil die Ventile aus D2 und D5 verschieden seien und dies für den Agrarbiologen technisch zu kompliziert sei.

Obwohl das Ventil von D5 ein in Ruhestellung geschlossenes Ventil und das Ventil von D2 ein in Ruhestellung offenes Ventil ist, so ist ihre Funktionsweise dieselbe, bzw. beide beaufschlagen die daran angeschlossene Leitung mit Atmosphärenluft während der Entlastungsphase (wenn der Ringraum auf Atmosphäredruck gebracht wird). Es ist für den mit Melkbechern und pneumatischen Melkmaschinen vertrauten Maschinenbauingenieur von dem vorstehend definierten "Team" daher selbstverständlich, dass das in D5 vorhandene Ventil ausreicht, um die Lehre von D2 zu verwirklichen, und dass er dazu lediglich eine zweite Leitung vorzusehen braucht.

2.8 Folglich beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Haupt- bzw. Hilfsantrag 1 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

3. Hilfsantrag 2:

3.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 unterscheidet sich von dem des Hauptantrags dadurch, dass er durch die folgenden Merkmale ergänzt wurde: "und die Öffnung zeitlich verzögert zum Beginn der Entlastungsphase steuerbar mit Atmosphärenluft beaufschlagbar ist". Die zeitliche Verzögerung kann also gesteuert werden ist, das heißt sie ist einstellbar.

3.2 Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, dass die aufgenommenen Merkmale lediglich funktional seien und im Rahmen des fachmännischen Könnens lägen.

Obwohl es zutrifft, dass diese Merkmale funktional sind, implizieren sie jedoch strukturelle Merkmale, wie diejenigen, die zum Beispiel dem Abschnitt [0026] der Streitpatentschrift zu entnehmen ist.

Durch diese Merkmale wird erreicht, "dass durch das sich Anlegen des einfaltenden Zitzengummis an die Zitze zunächst noch die Milch im Milchkanal nach unten herausgepresst wird und anschließend durch das sich nun am Zitzengrund reduzierende Vakuum eine den in der Zitze vorherrschenden Blutstau auflösende Massagewirkung nach oben eintritt" (Abschnitt [0012] der Streitpatentschrift).

Die der im Hilfsantrag 2 definierten Erfindung zugrundeliegende Aufgabe kann darin gesehen werden, das Wohlbefinden des Tieres beim Melken weiter zu verbessern, ohne dabei den Milchertrag zu beeinträchtigen.

Diese Aufgabe wird in keiner der Entgegenhaltungen unter Berücksichtigung des Milchertrags gelöst. Ferner wird auch in keiner Entgegenhaltung offenbart oder nahegelegt, die Beaufschlagung des Innenraums im Kopfstück des Zitzengummis mit Atmosphärenluft zeitlich verzögert steuerbar zu gestalten, um die Milch sicher aus dem Milchkanal herauszupressen und somit den Milchertrag sicherzustellen.

3.3 Deshalb beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß Hilfsantrag 2 auf einer erfinderischen Tätigkeit.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zurückverwiesen, mit der Anordnung das europäische Patent in geändertem Umfang mit folgender Fassung aufrechtzuerhalten:

Beschreibung: Spalten 1 bis 7 überreicht während der mündlichen Verhandlung.

Ansprüche: 1 bis 4 gemäß Hilfsantrag 2 eingereicht mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2009.

Zeichnungen: Figur 1 der Patentschrift.

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