European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2012:T116109.20120531 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 31 Mai 2012 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 1161/09 | ||||||||
Anmeldenummer: | 01106483.9 | ||||||||
IPC-Klasse: | B60T 8/00 B60R 16/02 |
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Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | D | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Stabilisierung von Gliederzügen | ||||||||
Name des Anmelders: | KNORR-BREMSE Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH | ||||||||
Name des Einsprechenden: | WABCO GmbH & Co. OHG | ||||||||
Kammer: | 3.2.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit von Änderungen - Hauptantrag (verneint) - Hilfsantrag (bejaht) Zurückverweisung |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die am 31. März 2009 zur Post gegebenen Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das europäische Patent Nr. 1 167 141 widerrufen wurde.
II. Die Einspruchsabteilung befand, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 gemäß dem einzigen Antrag der Patentinhaberin über den Inhalt der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Artikel 123(2) EPÜ).
III. Am 31. Mai 2012 wurde vor der Beschwerdekammer mündlich verhandelt.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags eingereicht mit Schreiben vom 27. April 2012 oder alternativ auf der Grundlage des Hilfsantrags 1 eingereicht während der mündlichen Verhandlung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
IV. Der unabhängige Anspruch 1 gemäß Hauptantrag hat folgenden Wortlaut:
"Steuermodul zur Verhinderung von Fahrzeuginstabilitäten für einen Fahrzeugverbund bestehend aus einem Zugfahrzeug (2) und wenigstens einem Deichselanhänger (4) mit einer Hinterachse (16) und einer Vorderachse (14), wobei das Steuermodul die folgenden Merkmale aufweist:
- eine Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) für ein Zugfahrzeug (2) vorgesehen ist, und zwar zur Erfassung von Differenzen zwischen einem Kurswunsch des Fahrers und einer tatsächlichen Fahrtbewegung zumindest des Zugfahrzeuges (2),
- in Abhängigkeit von einer von der Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) erfassten Differenz zwischen dem Kurswunsch des Fahrers und der tatsächlichen Fahrtbewegung sind zumindest Räder des Zugfahrzeugs (2) individuell mit Bremskräften beaufschlagbar, und zwar zur Erzeugung eines Giermoments entgegengesetzt zu einem Giermoment aufgrund der Differenz zwischen Fahrerkurswunsch und tatsächlicher Fahrzeugbewegung,
und
- bei erkannten Differenzen sind zusätzlich die Räder der Hinterachse (16) des Anhängers (4) stärker mit Bremskräften beaufschlagbar als die Räder der Vorderachse (14) des Anhängers (4)."
Der Verfahrensanspruch 12 gemäß Hauptantrag hat den folgenden Wortlaut:
"Verfahren zur Verhinderung von Fahrzeuginstabilitäten für einen Fahrzeugverbund, bestehend aus einem Zugfahrzeug (2) und wenigstens einem Deichselanhänger (4) mit einer Hinterachse (16) und einer Vorderachse (14),
- wobei über eine im Zugfahrzeug (2) vorhandene Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) eine Differenz zwischen einem Kurswunsch des Fahrers und einer tatsächlichen Fahrtbewegung zumindest des Zugfahrzeuges (2) erfasst wird,
- wobei in Abhängigkeit von einer von der Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) erfassten Differenz zwischen dem Kurswunsch des Fahrers und der tatsächlichen Fahrtbewegung eine radindividuelle Beaufschlagung mit Bremskräften zumindest im Zugfahrzeug (2) erfolgt zur Erzeugung eines Giermoments entgegengesetzt zu einem Giermoment aufgrund der Differenz zwischen Fahrerkurswunsch und tatsächlicher Fahrzeugbewegung, und
- wobei bei erkannten Differenzen die Räder der Hinterachse (16) des Anhängers (4) stärker mit Bremskräften beaufschlagt werden als die Räder der Vorderachse (14) des Anhängers (4)".
V. Der Wortlaut der unabhängigen Ansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag 1 ist der Folgende:
1. "Steuermodul zur Verhinderung von Fahrzeuginstabilitäten für einen Fahrzeugverbund bestehend aus einem Zugfahrzeug (2) und wenigstens einem Deichselanhänger (4) wobei das Steuermodul die folgenden Merkmale aufweist:
- eine Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) für ein Zugfahrzeug (2) vorgesehen ist, und zwar zur Erfassung von Differenzen zwischen einem Kurswunsch des Fahrers und einer tatsächlichen Fahrtbewegung zumindest des Zugfahrzeuges (2),
- in Abhängigkeit von einer von der Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) erfassten Differenz zwischen dem Kurswunsch des Fahrers und der tatsächlichen Fahrtbewegung sind zumindest Räder des Zugfahrzeugs (2) individuell mit Bremskräften beaufschlagbar, und zwar zur Erzeugung eines Giermoments entgegengesetzt zu einem Giermoment aufgrund der Differenz zwischen Fahrerkurswunsch und tatsächlicher Fahrzeugbewegung,
und
- bei erkannten Differenzen sind zusätzlich Räder der Anhängerhinterachse (16) mit Bremskräften beaufschlagbar,
wobei bei einer erkannten Kippgefahr und/oder bei einem erkannten Fahrbahnkontaktverlust der Räder (103, 104, 123, 124) einer Seite des Zugfahrzeuges (2) eine Abbremsung des gesamten Fahrzeugverbundes (2, 4) ermöglicht ist, wobei die Räder an der Hinterachse (16) des Anhängers (4) stärker mit Bremskraft beaufschlagbar sind als Räder an der Vorderachse (14) des Anhängers (4)."
2. "Steuermodul zur Verhinderung von Fahrzeuginstabilitäten für einen Fahrzeugverbund bestehend aus einem Zugfahrzeug (2) und wenigstens einem Deichselanhänger (4) wobei das Steuermodul die folgenden Merkmale aufweist:
- eine Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) für ein Zugfahrzeug (2) vorgesehen ist, und zwar zur Erfassung von Differenzen zwischen einem Kurswunsch des Fahrers und einer tatsächlichen Fahrtbewegung zumindest des Zugfahrzeuges (2),
- in Abhängigkeit von einer von der Sensorik (101, 102, 121, 122, 20, 22, 24) erfassten Differenz zwischen dem Kurswunsch des Fahrers und der tatsächlichen Fahrtbewegung sind zumindest Räder des Zugfahrzeugs (2) individuell mit Bremskräften beaufschlagbar, und zwar zur Erzeugung eines Giermoments entgegengesetzt zu einem Giermoment aufgrund der Differenz zwischen Fahrerkurswunsch und tatsächlicher Fahrzeugbewegung,
und
- bei erkannten Differenzen sind zusätzlich Räder der Anhängerhinterachse (16) mit Bremskräften beaufschlagbar,
wobei am Zugfahrzeug (2) ein zusätzlicher Deichselwinkelsensor (61) und/oder am Anhänger (4) ein zusätzlicher Deichseldrehratensensor (81) zur Erkennung einer Einknickung der Anhängerdeichsel (6) im Deichselgelenk (8) vorgesehen ist, und wobei bei einer erkannten Einknickung eine Abbremsung des gesamten Fahrzeugverbundes (2, 4) ermöglicht ist, wobei die Räder an der Hinterachse (16) des Anhängers (4) stärker mit Bremskraft beaufschlagbar sind als Räder an einer Vorderachse (14) des Anhängers (4)."
VI. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin kann wie folgt zusammengefasst werden:
Zum Hauptantrag
Als Grundlage für die Änderungen im letzten Merkmal des Anspruchs 1 ("bei erkannten Differenzen sind zusätzlich die Räder der Hinterachse des Anhängers stärker mit Bremskräften beaufschlagbar als die Räder der Vorderachse des Anhängers", nachfolgend wie von der Beschwerdegegnerin vorgeschlagen, als Merkmal l' bezeichnet), diene der Absatz [0012] in Kombination mit Absatz [0008] der Veröffentlichung der ursprünglichen Anmeldung EP-A-1 167 141 (nachfolgend als D0 bezeichnet).
Im Absatz [0012] von D0 würden zwei Situationen als Beispiele erwähnt, bei denen der Deichselanhänger weitgehend nur an seiner Hinterachse abgebremst werde, nämlich "insbesondere beim übersteuernden Ausbrechen des Zugfahrzeugs sowie bei der Gefahr des Kippens des gesamten Zuges". Da mit dem Wort "insbesondere" betont werde, dass diese zwei Situationen nur Beispiele darstellten, seien die "erkannten Differenzen" nicht gleichzusetzen mit den "erfassten Differenzen", denn es gebe Situationen, in denen Differenzen erfasst würden und die Hinterachse nicht eingebremst werde (vgl. Situation "Untersteuern Lkw" in den Tabellen von D0). Damit werde der Fachmann den Wortlaut "bei erkannten Differenzen" als "bei bestimmten erkannten Differenzen" auslegen. Darüber hinaus schließe der Wortlaut des Absatzes [0012] genauso wie derjenige des Merkmals l' des Anspruchs 1 den Fall ein, in dem ausschließlich die Räder der Hinterachse jedoch nicht die Räder der Vorderachse mit Bremskräften beaufschlagt würden. Folglich komme es nicht auf die von der Einspruchsabteilung in Punkt 1.2 ihrer Entscheidung spezifisch erwähnten Sondersituationen an. Deshalb sei die Erwähnung dieser Sondersituationen in den unabhängigen Ansprüchen 1 und 12 nicht notwendig, um die Erfordernisse des Artikels 123(2) EPÜ zu erfüllen.
Ähnliche Überlegungen gälten für das letzte Merkmal des Verfahrensanspruchs 12. Deshalb erfüllten die Ansprüche 1 und 12 gemäß Hauptantrag die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
Zum Hilfsantrag 1
Die unabhängigen Ansprüche 1 und 2 gemäß Hilfsantrag 1 bestünden aus der Kombination von erteilten Ansprüchen und seien deshalb zulässig.
VII. Die Gegenargumente der Beschwerdegegnerin zum Hauptantrag der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die von der Beschwerdeführerin zitierte Absätze [0012] und [0008] von D0 könnten nicht als Grundlage für die Änderungen in den Ansprüchen 1 und 12 dienen. Insbesondere die vom letzen Merkmal des Verfahrensanspruchs 12 verlangte stärkere Beaufschlagung der Räder der Hinterachse sei nur in Zusammenhang mit bestimmten Fahrsituationen in der ursprünglich eingereichten Anmeldung D0 offenbart worden. Das Weglassen der Erwähnung dieser Sondersituationen verstoße gegen die Bestimmungen des Artikels 123(2) EPÜ.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Hauptantrag; Zulässigkeit der Änderungen
2.1 Die Kammer teilt nicht die Ansicht der Beschwerdeführerin, wonach die Kombination der Absätze [0012] und [0008] von D0 als Grundlage für das letzte Merkmal des Verfahrensanspruchs 12 ("die Räder der Hinterachse des Anhängers werden stärker mit Bremskräften beaufschlagt als die Räder der Vorderachse") dienen kann. Nach Ansicht der Kammer verlangt dieses Verfahrensmerkmal ein verstärktes Einbremsen der Hinterachse und zwar bei gleichzeitigem Einbremsen sowohl der Vorderachse als auch der Hinterachse. Wenn man der Auffassung der Beschwerdeführerin folgt, dass der Absatz [0012] so ausgelegt werden sollte, dass er auch den Fall einschließt, bei dem ausschließlich die Räder der Hinterachse jedoch nicht die Räder der Vorderachse mit Bremskräften beaufschlagt werden, dann kann die allgemeinere Angabe des Absatzes [0012] nicht als Offenbarung für das spezifischere Verfahrensmerkmal des Anspruchs 12 gelten.
2.2 Darüber hinaus geht aus der ursprünglichen Veröffentlichung D0 hervor, dass das Einbremsen der Vorder- und Hinterachsen mit verstärktem Einbremsen der Hinterachse des Anhängers gemäß dem letzten Merkmal des Verfahrensanspruchs 12 nicht bei sämtlichen "erkannten Differenzen", sondern nur bei besonderen Fahrsituationen, nämlich bei Kippgefahr (ROP-Step I) oder Radabheben (ROP-Step II), erfolgt (vgl. sämtliche Tabellen von D0). Die Kammer sieht daher in dem Weglassen der Erwähnung dieser bestimmten Fahrsituationen im geänderten Verfahrensanspruch 12 eine Zwischenverallgemeinerung, die gegen die Bestimmungen des Artikels 123 (2) EPÜ verstößt.
2.3 Auch der Anspruch 1 erfüllt nicht die im EPÜ verlangten Zulässigkeitskriterien. Die Beschwerdeführerin hat vorgetragen, dass es bei der Lehre des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag nicht auf die unterschiedlichen Arten von Instabilitäten ankommt, sondern auf das, was das Steuermodul bei den bestimmten erkannten Differenzen für Eingriffe durchzuführen vermag. Unter der hier vorhandenen "beaufschlagbar"-Formulierung des Merkmals l' des Anspruchs 1 versteht die Kammer die Eignung für das Steuermodul, die Räder der Hinterachse des Anhängers stärker mit Bremskräften zu beaufschlagen, als die Räder der Vorderachse des Anhängers. Die Verwirklichung dieses Merkmals verlangt einen Deichselanhänger, der eine unabhängige Beaufschlagung der Vorderachse und der Hinterachse mit Bremskräften ermöglicht. Welche Forderungen durch das Merkmal l' an das Steuermodul selbst gestellt werden, bleibt unklar.
2.4 Interpretiert man den Anspruch 1 im Sinne der Auslegung der Beschwerdeführerin, dann ist unter der hier vorhandenen "beaufschlagbar"-Formulierung des Merkmals l' des Anspruchs 1 die Eignung für das Steuermodul zu verstehen, die Räder der Hinterachse des Anhängers stärker mit Bremskräften zu beaufschlagen als die Räder der Vorderachse des Anhängers und zwar bei den genannten, bestimmten erkannten Differenzen. Hierfür sind technische Mittel im Steuermodul notwendig, die eine unabhängige Beaufschlagung der Vorderachse und der Hinterachse mit Bremskräften ermöglicht, wenn die "bestimmten" Differenzen erkannt werden. Diese technische Mittel könnten z.B. durch Hinterlegung eines Programms zur Erkennung der bestimmten Differenzen im Steuermodul verwirklicht werden. Anspruch 1 spezifiziert jedoch nicht, welche bestimmten Differenzen in Frage kommen. Das Steuermodul ist daher nicht auf technische Mittel eingeschränkt, die zur Erkennung von bestimmten Differenzen ausgelegt sind, die für die offenbarten Fahrsituationen (siehe Punkt 2.2 oben) repräsentativ sind. Somit verstößt auch Anspruch 1 gegen die Bestimmungen des Artikels 123(2)EPÜ.
3. Hilfsantrag 1; Zulässigkeit der Änderungen
Der geänderte Anspruch 1 besteht sinngemäß aus der Kombination sämtlicher Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 mit den Merkmalen des erteilten abhängigen Anspruchs 5 und der geänderte Anspruch 2 besteht sinngemäß aus der Kombination sämtlicher Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 mit den Merkmalen des erteilten abhängigen Anspruchs 6. Da die unabhängigen Ansprüche 1 und 2 aus bloßer Kombination von Merkmalen erteilter Ansprüche gebildet werden, können hier keine Zulässigkeitseinwände entstehen.
Die Ansprüche in der Fassung gemäß Hilfsantrag führen daher zu keinen Beanstandungen in Hinblick auf die Erfüllung der Erfordernisse der Artikel 123 (2) und (3) EPÜ und 84 EPÜ 1973.
4. Zurückverweisung an die erste Instanz
Aufgrund der während der mündlichen Verhandlung durchgeführten Änderungen in den Ansprüchen gemäß Hilfsantrag 1 beantragte die Beschwerdeführerin, dass die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen wird.
Unter Berücksichtigung dieses Antrags und des Umstandes, dass die Einspruchsabteilung die Frage der Patentfähigkeit im Sinne des Artikels 100 a) EPÜ 1973 in der Entscheidung nicht behandelt hat, macht die Kammer von ihrem Ermessen gemäß Artikel 111 (1) EPÜ 1973 Gebrauch und verweist die Sache an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurück.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.