T 0937/09 () of 20.7.2012

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2012:T093709.20120720
Datum der Entscheidung: 20 Juli 2012
Aktenzeichen: T 0937/09
Anmeldenummer: 03747110.9
IPC-Klasse: F02B 71/04
F02B 75/04
H02K 7/18
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: B
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Freikolbenvorrichtung mit elektrischem Lineartrieb
Name des Anmelders: UMC Universal Motor Corporation GmbH
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.2.04
Leitsatz: 1. Die Zulassung von Änderungen der europäischen Patentanmeldung nach dem ersten Prüfungsbescheid gemäß Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 (siehe Textausgabe: "Europäisches Patentübereinkommen", 13. Auflage, Europäisches Patentamt 2007), liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Prüfungsabteilung (siehe Entscheidungsgründe 3.4.).
2. Änderungen, die der Anmelder mit der Erwiderung auf eine Mitteilung eingereicht hat, in dem ein bestimmter Mangel erstmalig substantiiert mitgeteilt worden ist, müssen deshalb von der Prüfungsabteilung dann zugelassen werden, wenn dieser Mangel bereits im ersten Bescheid hätte gerügt werden können und wenn die Änderungen einen objektiv geeigneten Versuch zur Behebung dieses Mangels darstellen (siehe Entscheidungsgründe 3.4.).
3. Die Einhaltung des in einem Ladungsbescheid gemäß Regel 116 EPÜ angegebenen Zeitpunktes für die Einreichung weiterer Anträge zu Änderungen der Anmeldung bedeutet nicht, dass Regel 137 (3) EPÜ nicht anwendbar wäre. Die Zurückweisung von fristgemäß gemäß Regel 116 EPÜ eingereichten Anträgen nach Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ kann nur in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erfolgen, wofür die oben angeführten Kriterien zu gelten haben (siehe Entscheidungsgründe 3.5).
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 94(3)
European Patent Convention Art 123(1)
European Patent Convention R 71
European Patent Convention R 116
European Patent Convention R 137(3)
European Patent Convention 1973 Art 111
Schlagwörter: Zulässigkeit von Änderungen nach dem ersten Bescheid der Prüfungsabteilung - Ermessen - große Anzahl abhängiger Ansprüche
Wesentlicher Verfahrensmangel
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Zurückverweisung an die 1. Instanz
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0007/93
J 0032/95
J 0003/06
T 0951/92
Anführungen in anderen Entscheidungen:
J 0006/12
J 0011/12
T 2355/09
T 2294/12
T 0918/14
T 1411/21

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die am 2. Dezember 2008 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 03 747 110.9 zurückzuweisen.

II. Die europäische Patentanmeldung beruht auf der internationalen Anmeldung WO 03/091556. Sie betrifft eine Freikolbenvorrichtung und enthält in der ursprünglich eingereichten Fassung einen unabhängigen Anspruch und 62 abhängige Ansprüche. Mit dem Eintritt in die europäische Phase am 30. September 2004 hat die Anmelderin dafür die erforderlichen zusätzlichen Anspruchsgebühren gemäß Regel 110 EPÜ 1973 entrichtet.

III. Mit dem ersten Bescheid vom 14. Dezember 2006 hat der beauftragte Prüfer der Anmelderin mitgeteilt, dass der Gegenstand des Anspruches 1 im Hinblick auf zwei Druckschriften nicht neu sei, und dass wegen der Vielzahl von abhängigen Ansprüchen, die in viele verschiedene Richtungen gingen, es nicht ersichtlich sei, auf welche Merkmale die Anmelderin Wert legen könnte.

Mit Schreiben vom 20. März 2007 hat die Anmelderin einen neuen unabhängigen Anspruch vorgelegt, der die Merkmale der Ansprüche 1, 6 und 13 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthielt. Den Gegenstand dieses Anspruches hat der beauftragte Prüfer mit dem Bescheid vom 3. April 2007 erneut wegen mangelnder Neuheit beanstandet. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass nicht erkennbar sei, welcher Teil der Anmeldung die Grundlage für einen neuen, gewährbaren Anspruch bilden könnte, da die abhängigen Ansprüche keine zusätzlichen Merkmale enthielten, die zu einem auf erfinderischer Tätigkeit beruhenden Gegenstand führen könnten, weil sie lediglich konstruktive Einzelheiten zeigten, die der Fachmann im Hinblick auf die zitierten Druckschriften oder sein allgemeines Fachwissen heranziehen würde.

Den daraufhin eingereichten geänderten Anspruch 1 hat der beauftragte Prüfer dann wiederum mit mangelnder Neuheit seines Gegenstandes beanstandet.

Mit Schreiben vom 22. Februar 2008 hat die Anmelderin einen weiteren geänderten Anspruch 1 eingereicht, der die Merkmale des mit Schreiben vom 20. März 2007 eingereichten Anspruches 1 und des Anspruches 28 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung umfasste. Mit der Ladung vom 11. April 2008 teilte der Prüfer der Anmelderin mit, dass das Verfahren in der mündlichen Verhandlung mit einer Entscheidung abgeschlossen werden sollte, und dass der Gegenstand dieses Anspruches zwar neu sei, aber nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, weil das zuletzt hinzugefügte Merkmal eine gängige Maßnahme sei.

Mit Schreiben vom 19. September 2008 hat die Anmelderin dann mit einem Hauptantrag und drei Hilfsanträgen, jeweils einen geänderten unabhängigen Anspruch vorgelegt. Der unabhängige Anspruch des Hilfsantrages III setzt sich aus den Ansprüchen 1, 20 , 46 und 48 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zusammen.

Die mündliche Verhandlung vor der Prüfungsabteilung hat am 20. November 2008 stattgefunden. In der Verhandlung wurden der Hauptantrag und die Hilfsanträge I und II zurückgenommen, so dass Hilfsantrag III als einziger Antrag verblieb. Den Änderungen im unabhängigen Anspruch 1 dieses Antrages hat die Prüfungsabteilung nicht zugestimmt und sich dabei auf Regel 137 (3) EPÜ berufen. Da deshalb keine gebilligte Fassung vorläge, seien die Erfordernisse des EPÜ nicht erfüllt, so dass die Anmeldung gemäß Artikel 97 (2) EPÜ zurückzuweisen wäre.

Zur Begründung hat die Prüfungsabteilung Folgendes ausgeführt:

"Das kennzeichnende Merkmal des jetzt gültigen Hauptantrags, der als Hilfsantrag III eingereicht wurde, betrifft einen völlig anderen Gegenstand, als die Merkmale, die während des langen Prüfungsverfahrens diskutiert wurden. Der Rückfederraum ist nicht mehr im Anspruch erwähnt, und auch nicht die Gasströmung. Stattdessen wird die elektrische Steuerung zur Synchronisation von zwei Kolben als kennzeichnendes Merkmal genommen. Bei diesem Hilfsantrag wäre eine neue Analyse der Neuheit notwendig gewesen.

Es ist üblich bei der Ausübung des Ermessens nach Regel 137 (3) EPÜ bei weiteren Einschränkungen in einer bestimmten Richtung (man kann dies als "trichterförmig" betrachten), die weiteren Einschränkungen zu diskutieren. Je später aber im Verfahren, desto kritischer wird die Überlegung, ob eine Änderung zugelassen werden soll.

Im vorliegenden Fall kann von einer weiteren Einschränkung nicht die Rede sein, sondern die elektrische Steuerung stellt einen völlig anderen Bereich dar, der bisher im Verfahren noch nicht angetastet wurde. Bei dem sehr späten Stadium im Verfahren, hatte die Anmelderin bereits genügend Möglichkeit zu ändern, und im Interesse der allgemeine Rechtssicherheit gibt es keinen Grund das Verfahren mit einer Untersuchung in dieser anderen Richtung neu zu beginnen. Somit wurde für den vorliegenden Hauptantrag die Zustimmung nach Regel 137 (3) EPÜ verweigert.

Ergänzend möchte die Prüfungsabteilung darauf hinweisen, dass auch wenn die früheren Merkmale (Rückfederraum, Gaswechsel usw.) nicht gestrichen worden wären, selbst dann ein völlig anderer Bereich gegeben wäre, der eine neue eingehende Prüfung erfordern würde."

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Anmelderin am 27. Januar 2009 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Beschwerdegebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ist am 6. April 2009 eingegangen.

V. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) beantragt sinngemäß, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, die Sache an die Prüfungsabteilung zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens zurückzuverweisen und die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.

VI. Die Beschwerdeführerin argumentiert im Wesentlichen, dass die Prüfungsabteilung den weit vor der gesetzten Frist eingereichten geänderten Anspruch 1 gemäß dem damaligen Hilfsantrag III hätte zulassen müssen. Die Vorgehensweise der Prüfungsabteilung widerspräche dem Sinn der Regel 137 (3) EPÜ, welche die Zulassung von Änderungen in das Ermessen der Prüfungsabteilung stelle, um sicherzustellen, dass das Prüfungsverfahren in möglichst wenigen Arbeitsgängen zum Abschluss gebracht wird. Durch das Vorgehen der Abteilung würde jedoch der Abschluss des Prüfungsverfahrens verzögert, weil sich die Beschwerdekammer noch mit dieser Entscheidung befassen, sie aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen müsse. Da Regel 137 (3) EPÜ im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, hätte die Prüfungsabteilung ihren Ermessensspielraum weit überschritten und eine Willkürentscheidung ohne nachvollziehbare Begründung getroffen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Die revidierte Fassung des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ 2000) ist am 13. Dezember 2007 in Kraft getreten. Nachfolgend zitierte Artikel und Regeln ohne Zusatz beziehen sich auf die revidierte Fassung, die Regeln in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 zur Änderung der Ausführungsordnung. Vorschriften mit dem Zusatz "1973" sind die der bis zu dem genannten Zeitpunkt geltenden Fassung des Europäischen Patentübereinkommens.

3. Änderungen der Anmeldung

3.1 Die Voraussetzung, unter denen eine Anmeldung vor dem Europäischen Patentamt geändert werden kann, sind in Artikel 123 und Regel 137 EPÜ geregelt.

3.2 Die vorliegende Anmeldung war am 13. Dezember 2007 bereits in die europäische Phase eingetreten und noch anhängig. Deshalb ist nach Artikel 1 Nr. 1 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Revisionsakte und nach J 0003/06 (Entscheidungsgründe Nr. 3; Abl. EPA 2009, 170), Artikel 123 und Regel 137 der revidierten Fassung des Übereinkommens anzuwenden.

Da die mit Beschluss des Verwaltungsrats vom 25. März 2009 geänderte Regel 137 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (siehe Artikel 2 (2) des Beschlusses), bleibt es bei der Anwendbarkeit dieser Regel in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 (siehe Textausgabe: "Europäisches Patentübereinkommen", 13. Auflage, Europäisches Patentamt 2007).

3.3 Regel 137 (3) EPÜ dieser Fassung lautet:

"Nach Erhalt des ersten Bescheids der Prüfungsabteilung kann der Anmelder von sich aus die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen einmal ändern, sofern die Änderung gleichzeitig mit der Erwiderung auf den Bescheid eingereicht wird. Weitere Änderungen können nur mit Zustimmung der Prüfungsabteilung vorgenommen werden."

Für die Entscheidung nach dem ersten Bescheid noch weitere Änderungen zuzulassen oder nicht, hat die Prüfungsabteilung nach Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ einen Ermessenspielraum (siehe G 7/93, LS 1, Gründe Nr. 2.1; ABl. EPA 1994, 775).

3.4 Kriterien zur korrekten Ermessensausübung

3.4.1 Die Prüfungsabteilung muss nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer (siehe G 7/93, Gründe Nr. 2.5; supra) allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen. Sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem in allen benannten Staaten rechtsbeständigen Patent wie auch das seitens des Europäischen Patentamts bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren durch Erlaß eines Erteilungsbeschlusses zum Abschluß zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen.

3.4.2 Artikel 94 (3) EPÜ lautet: "Ergibt die Prüfung, dass die Anmeldung oder die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens nicht genügt, so fordert die Prüfungsabteilung den Anmelder so oft wie erforderlich auf, eine Stellungnahme einzureichen und, vorbehaltlich des Artikels 123 Absatz 1, die Anmeldung zu ändern."

Mängel sind dem Anmelder also mitzuteilen und zwar in der Form gemäß Regel 71 (1), (2) EPÜ.

a) Nach Regel 71 (2) sind die Mitteilungen nach Artikel 94 (3) zu begründen und alle Gründe, die der Erteilung des europäischen Patents entgegenstehen, sollen zusammengefasst werden. Diese Regel enthält somit zwei Erfordernisse. Erstens soll der Anmelder über alle Erfordernisse des EPÜ unterrichtet werden, die als nicht erfüllt angesehen werden. Zweitens müssen dem Anmelder zu jedem der genannten Erfordernisse die rechtlichen und faktischen Gründe mitgeteilt werden, die zu der Feststellung führen, dass Erfordernisse des EPÜ nicht erfüllt sind (T 0951/92, ABl. EPA 1996, 53).

b) Zunächst war in den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 geplant, das erste Erfordernis als zwingende Vorschrift in Artikel 90 (2) aufzunehmen. In den Bemerkungen zum ersten Arbeitsentwurf eines Abkommens über ein europäisches Patentrecht vom 29. Mai 1961 wird in Nr. 2 festgestellt, dass die Prüfungsabteilung im Prüfungsbescheid alle Bedenken zusammenfassen soll. Aus den Beratungen ergab sich dann aber ein flexiblerer Ansatz, der es dem Ermessen der Prüfungsabteilung überlassen sollte, welche Gründe und in welchem Umfang die der Erteilung des europäischen Patents entgegenstehenden Gründe in einem Bescheid zusammengefasst werden. Dies sollte eine Frage der Verfahrensökonomie sein (J 0032/95, ABl. EPA 1999, 733).

c) Das Europäische Patentübereinkommen schreibt dem Prüfer also nicht vor, wie er im Prüfungsverfahren am zweckmäßigsten vorzugehen hat.

Im Regelfall sollte der erste Prüfungsbescheid allerdings bereits eine umfassende Würdigung der Anmeldung enthalten, um das Prüfungsverfahren mit möglichst wenigen Prüfungsbescheiden beenden zu können. Dem Anmelder sollten bereits mit dem ersten Bescheid sämtliche Mängel der Anmeldung mitgeteilt werden, zum Beispiel auch diejenigen welche die abhängigen Ansprüche betreffen. Wenn der Anmelder einmal Gelegenheit zur Änderung hatte, bedarf es für weitere Änderungen dann der Zustimmung der Prüfungsabteilung.

Allerdings mag es im Hinblick auf fehlende Einheitlichkeit, fehlende Klarheit oder eine Vielzahl von Unteransprüchen für den ersten Bescheid vernünftiger erscheinen, sich auf bestimmte Einwände zu beschränken, woraufhin von dem Anmelder dann nur erwartet werden kann, dass er diesen Einwänden Rechnung trägt und nicht möglichen anderen, die er noch gar nicht kennt. Erhebt der Prüfer deshalb aus Gründen der Verfahrensökonomie erst in dem oder den folgenden Bescheiden erstmalig Einwände, die bereits zuvor hätten erhoben werden können, so hat der Prüfer dies bei der Ausübung seines Ermessens nach Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ zu berücksichtigen. Es geht mit anderen Worten nicht an, Änderungen in einem Anspruchssatz unter Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ die Zustimmung zu versagen, wenn diese einen objektiv geeigneten Versuch zur Behebung von Mängeln darstellen, die erst in einem späteren Bescheid gerügt worden sind, bei vollständiger Prüfung der Anmeldung aber bereits im ersten Bescheid hätten gerügt werden können.

d) Zusammenfassend kann deshalb festgestellt werden:

Die Zulassung von Änderungen der europäischen Patentanmeldung nach dem ersten Prüfungsbescheid gemäß Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006 (siehe Textausgabe: "Europäisches Patentübereinkommen", 13. Auflage, Europäisches Patentamt 2007), liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Prüfungsabteilung.

Änderungen die der Anmelder mit der Erwiderung auf eine Mitteilung eingereicht hat, in dem ein bestimmter Mangel erstmalig substantiiert mitgeteilt worden ist, müssen deshalb von der Prüfungsabteilung dann zugelassen werden, wenn dieser Mangel bereits im ersten Bescheid hätte gerügt werden können und wenn die Änderungen einen objektiv geeigneten Versuch zur Behebung dieses Mangels darstellen.

3.5 Neben Regel 137(3) EPÜ sieht Regel 116 (2) EPÜ bei Änderungen der Anmeldung für den Fall einer mündlichen Verhandlung eine besondere Regelung vor: es liegt im Ermessen der Prüfungsabteilung, Anträge zur Änderung der Anmeldung nicht zu berücksichtigen, wenn sie nicht vor dem in der Ladung zur mündlichen Verhandlung bestimmten Zeitpunkt vorgebracht werden. Die Einhaltung des im Ladungsbescheid gemäß Regel 116 EPÜ angegebenen Zeitpunktes für die Einreichung weiterer Anträge zu Änderungen der Anmeldung bedeutet allerdings nicht, daß Regel 137 (3) EPÜ nicht anwendbar wäre. Die Zurückweisung von fristgemäß gemäß Regel 116 EPÜ eingereichten Anträgen nach Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ kann nur in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erfolgen, wofür die oben angeführten Kriterien zu gelten haben.

4. Anwendung dieser Kriterien auf den vorliegenden Fall

4.1 Der erste Bescheid wurde am 14. Dezember 2006 zur Post gegeben. Danach hat die Anmelderin mehrmals geänderte Anmeldungsunterlagen eingereicht, bevor die Prüfungsabteilung den zuletzt geltenden Anspruchssatz, der mit Schreiben vom 19. September 2008 als Hilfsantrag III eingereicht worden ist, zurückgewiesen hat. Der zurückgewiesene Anspruchssatz enthält deshalb "weitere Änderungen" im Sinne der Regel 137 (3) Satz 2 EPÜ bei deren Zulassung die Prüfungsabteilung ein Ermessen hat.

4.2 In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Anmeldung mit 63 Ansprüchen im Vergleich zur durchschnittlichen Anzahl relativ viele Patentansprüche aufweist.

4.2.1 Bei der Ausarbeitung des Europäischen Patentübereinkommens und zur Lösung des Frage, wie viele Ansprüche in einer Anmeldung zulässig sind, hatte der Gesetzgeber abzuwägen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit, die Reichweite des beantragten Schutzes mit zumutbarem Aufwand erkennen zu können, und dem Interesse des Patentanmelders, die offenbarte Erfindung möglichst umfassend abzusichern. Er hat das Mittel der Anspruchsgebühren gewählt, um die Zahl der Patentansprüche in vertretbaren Grenzen zu halten. Dies sollte den Anmelder dazu veranlassen, sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob alle eingereichten Ansprüche erforderlich sind. Diese Gebührenlösung vermeidet eine strikte Grenzziehung, die nie allen Einzelfällen angemessen Rechnung tragen kann. Mit den Gebühren wird auch dem Mehraufwand, der mit der Prüfung von Anmeldungen mit einer größeren Zahl von Ansprüchen verbunden ist, Rechnung getragen (siehe hierzu Beier/Haertel/Schricker, Europäisches Patentübereinkommen, Münchner Gemeinschaftskommentar, 1984, Art. 84, Rn. 132 und 133).

Vorbehaltlich Artikel 84 EPÜ, der eine knappe Fassung der Patentansprüche fordert, hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit von abhängigen Ansprüchen also nur davon abhängig gemacht, für wie viele Ansprüche der Anmelder die Gebühren bezahlt hat.

4.2.2 Da die Anmelderin im vorliegenden Fall für alle abhängigen Ansprüche die zusätzlichen Gebühren bezahlt hat, wurde dem Mehraufwand auch für die Prüfung dieser Ansprüche Rechnung getragen.

4.3 Der mit Schreiben vom 22. Februar 2008 eingereichte Anspruch 1 umfasste die Merkmale der Ansprüche 1, 6, 13 und 28 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Die Merkmale des Anspruches 28 wurden erstmalig mit der Ladung vom 11. April 2008 zur mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung beanstandet und zwar im Hinblick auf deren Beitrag zur erfinderischen Tätigkeit. Die Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 6 und 13 wurden erstmalig im Bescheid vom 3. April 2007 im Hinblick auf deren Beitrag zur Neuheit des beanspruchten Gegenstandes substantiiert beanstandet.

Demgegenüber umfasste Anspruch 1 in der Fassung des mit Schreiben vom 19. September 2008 eingereichten Hilfsantrages III die Merkmale der Ansprüche 1, 20, 46 und 48 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Im Vergleich zu dem mit Schreiben vom 22. Februar 2008 eingereichten Anspruch 1 wurden also die zusätzlichen Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 6, 13 und 28 gestrichen und durch die zusätzlichen Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 20, 46 und 48 ersetzt.

4.3.1 Die Änderung in Anspruch 1, das zusätzliche Merkmal des ursprünglichen Anspruches 28 zu streichen, stellt eine Reaktion auf die erstmalig in der Ladung vom 11. April 2008 substantiierten Mängel des Anspruches 1 dar, die zusammen mit der Erwiderung auf die Ladung mit Schreiben vom 19. September 2008 eingereicht worden ist. Da diese Mängel im ursprünglichen Anspruch 28 vorhanden waren, hätten sie bereits im ersten Bescheid gerügt werden können.

Wie oben ausgeführt (siehe 3.4.2. ) ist der Prüfer nach Regel 71 (2) EPÜ nicht verpflichtet, alle Gründe, die der Patenterteilung entgegenstehen, im ersten Bescheid anzugeben. Gibt er keine solchen Gründe zu den abhängigen Ansprüchen an, so kann vom Anmelder aber auch nicht erwartet werden, dass er Spekulationen anstellt, welche Beanstandungen, beispielsweise im Hinblick auf die im Recherchenbericht genannten Druckschriften, gegen diese Ansprüche vorgebracht werden könnten. Vielmehr könnte der Anmelder auch annehmen, dass der Prüfer gegen diese Ansprüche keine Einwände erhebt.

Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung zu den abhängigen Ansprüchen nie substantiiert Stellung genommen. Da die Anmelderin somit nicht vorhersehen konnte, in welche Richtung sich das Prüfungsverfahren entwickeln wird, muss es ihr noch möglich sein, einen einmal eingeschlagenen Weg zur Erlangung eines Patents wieder zu verlassen, beispielsweise, wie im vorliegenden Fall, durch Streichung der Merkmale der ursprünglichen Ansprüche 6 und 13, die zur Ausräumung einer vorherigen Beanstandung in den unabhängigen Anspruch aufgenommen worden sind.

4.3.2 Diese Änderungen sind auch ein geeigneter Versuch zur Behebung der beanstandeten Mängel, weil diese Anspruchskombination durch den Rückbezug des ursprünglichen Anspruchs 48 auf die Ansprüche 46 und 20 ursprünglich offenbart ist und dem ursprünglichen Anspruch 46 im Recherchenbericht lediglich ein Dokument in der Kategorie "A" entgegengehalten wurde und somit, zumindest nach Auffassung des Rechercheprüfers, die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit seiner Merkmale nicht in Frage gestellt wurden.

Deshalb konnte die Prüfungsabteilung im Lichte der oben ausgeführten Grundsätze den Änderungen in Anspruch 1 des Hilfsantrags III bei richtiger Ausübung ihres Ermessens die Zustimmung nicht versagen.

4.3.3 Die Änderungen in Anspruch 1 des nunmehr geltenden Hauptantrags, der dem in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung diskutierten Hilfsantrag III entspricht, werden deshalb zugelassen.

5. Rückzahlung der Beschwerdegebühr

Durch die Nicht-Zulassung des einzigen Antrages haftet dem Prüfungsverfahren ein wesentlicher Verfahrensmangel an, weil eine Prüfungsleistung verweigert wurde, für die das europäische Patentamt Gebühren erhalten hat. Ob der Grund dafür darin zu finden ist, dass der durch die hohe Anzahl abhängiger Ansprüche verursachte Mehraufwand bei der Leistungserfassung der Prüfer nicht berücksichtigt wird, ist an dieser Stelle nicht weiter zu untersuchen. Es dürfte jedoch eine Selbstverständlichkeit sein, dass Dienstleistungen, für die das europäische Patentamt Gebühren erhebt, in angemessener Form auch für deren zuständige Organe berücksichtigt werden.

Da dieser Verfahrensmangel auch ursächlich für die Einlegung der Beschwerde war, entspricht es der Billigkeit, die Beschwerdegebühr gemäß Regel 103 (1) EPÜ zurückzuzahlen.

6. Zurückverweisung

Da der geltende Antrag im Beschwerdeverfahren dem von der Prüfungsabteilung nicht zugelassenen Antrag entspricht, und der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs noch nicht auf seine Patentfähigkeit untersucht worden ist, hält es die Beschwerdekammer für geboten, die Angelegenheit zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ 1973 an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die Prüfungsabteilung zur Fortsetzung des Prüfungsverfahrens auf Grundlage der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Ansprüche zurückverwiesen.

3. Die Beschwerdegebühr ist zurückzuzahlen.

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