T 0584/09 () of 10.6.2013

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2013:T058409.20130610
Datum der Entscheidung: 10 Juni 2013
Aktenzeichen: T 0584/09
Anmeldenummer: 95106925.1
IPC-Klasse: A01N 61/00
A01N 51/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished | Unpublished v2 | Unpublished v3
Bezeichnung der Anmeldung: Nicht-systemische Bekämpfung von Parasiten
Name des Anmelders: Bayer Intellectual Property GmbH
Name des Einsprechenden: NORBROOK LABORATORIES LIMITED
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention Art 56
RPBA2000 Art 013(1)
RPBA2000 Art 012(4)
Schlagwörter: Zulassung spät eingereichter Dokumente (nein, soweit von der Vorinstanz nicht zugelassen - korrekte Ausübung des Ermessens der Einspruchsabteilung
Erfinderische Tätigkeit - (nein) - nachgewiesen verbesserter Effekt naheliegend
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
R 0015/11
T 1627/09
T 0207/17
T 0689/19

Sachverhalt und Anträge

I. Die Einsprechende hat Beschwerde eingelegt gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, dass das europäische Patent Nr. 0 682 869 in seinem geänderten Umfang den Erfordernissen des EPÜ genüge.

II. Anspruch 1 dieser geänderten Fassung des Patents lautete wie folgt:

"1. Verwendung von Imidacloprid (= 1-[(6-Chlor-3-pyridinyl)methyl]-N-nitro-2-imidazolidinimin) zur Herstellung von Mitteln zur nicht-systemischen Bekämpfung von parasitierenden Insekten aus der Gruppe der Flöhe, Läuse und Fliegen an Menschen und Tieren."

III. Der Einspruch richtete sich gegen das Patent im gesamten Umfang. Er war gestützt auf Gründe gemäß Artikel 100(a) EPÜ, nämlich darauf, dass der Gegenstand der Ansprüche weder neu noch erfinderisch sei, und dass er gemäß Artikel 52(4) EPÜ 1973 von der Patentierung ausgeschlossen sei.

IV. Im Einspruchsverfahren wurden u.a. die folgenden Dokumente genannt:

(3) WO-A-93/24 002

(4) US-A-4 874 753

(5) K. Moriya et al. Biosci. Biotech. Biochem. 56(2) (1992), 364-365

(8) US-A-4 742 060

(9) A. Elbert et al. "Imidacloprid - a new systemic insecticide", Pflanzenschutz-Nachrichten Bayer 44/1991, Heft 2, 113-136

(10) Internet-Seite, http://advantage.petparents.com/aboutAdvantage.cfn, Advantage@, Bayer HealthCare, 08/02/2008

(11) EP-A-0 635 500

(12) GB-A-2 271 110

(13) AU-B-51 418/90.

V. Die Einspruchsabteilung ließ die verspätet eingereichten Dokumente (9)-(12) nicht in das Verfahren zu. Ferner entschied sie,

- durch Streichung der erteilten Ansprüche 1-4 hätte sich der Einwand gemäß Art. 52(4) EPÜ 1973 erledigt;

- der Gegenstand der Ansprüche unterscheide sich von der Offenbarung der Dokumente (3), (5) und (13) und sei neu; er habe auch nicht nahegelegen im Hinblick auf Dokument (4) als nächstliegendem Stand der Technik als solches oder in Kombination mit Dokument (5) oder (8), oder im Hinblick auf das Dokument (8) als solches, sofern man dieses als den nächstliegenden Stand der Technik ansehe.

VI. Im Beschwerdeverfahren wurden unter anderem die folgenden Dokumente zusätzlich zitiert:

(17) Donglin Bai et al., Pestic. Sci., 33 (1991), 197-204

(18) Ming-Yie Liu und J. E. Casida, Pesticide Biochemistry and Physiology, 46 (1993), 40-46

(19) R.F. Mizell III und M. C. Sconyers, Florida Entomologist, 75(2) (1992), 277-280

(20) R.O. Drummond, Veterinary Parasitology, 18 (1985), 111-119

(27) Zweite Erklärung von Prof. H. Mehlhorn, 1. Februar 2011, drei Seiten

(28) "Declaration" von Hubert Horn vom 4. August 1996, sieben Seiten

(29) Versuchsbericht "Efficacy of different derivatives of nicotinyl-insecticides after spot and oral application in a dosage of 10 mg/kg body weight against fleas (Ctenocephalides felis) on dogs" neun Seiten.

VII. Diese Kammer entschied in einer anderen Zusammensetzung, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Die Patentinhaberin beantragte daraufhin die Überprüfung gemäß Artikel 112a EPÜ dieser Entscheidung durch die Große Beschwerdekammer.

Die Große Beschwerdekammer sah es in ihrer Entscheidung R 21/11 vom 15. Juni 2012 als Verfahrensmangel und als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs an, dass die Beschwerdekammer das Dokument (27) und den Antrag auf dessen Zulassung in das Verfahren nicht berücksichtigt habe (siehe Punkt 24 der Entscheidungsgründe). Sie entschied, die Entscheidung der Beschwerdekammer aufzuheben und ordnete an, das Verfahren vor der Beschwerdekammer wiederaufzunehmen.

Jedoch wies sie den Antrag zurück, die Mitglieder der Beschwerdekammer zu ersetzen, die an der überprüften Entscheidung mitgewirkt hatten. In ihrer Begründung führte sie hierzu aus, Aufgabe der Kammer in gleicher Besetzung sei es nach Wiederaufnahme des Verfahrens, den Antrag auf Zulassung des Dokuments (27) zu behandeln. Sodann sei "einzig und allein darüber zu entscheiden, ob das zusätzliche Beweismittel einen Unterschied macht. Eine Ersetzung der früheren Mitglieder würde bedeuten, dass eine Beschwerdekammer in neuer Besetzung das gesamte Beschwerdeverfahren ... erneut durchführen müsste ..." (siehe Punkt 30 der Entscheidungsgründe).

VIII. Die oben genannte Entscheidung R 21/11 wurde am 8. November 2012 zur Post gegeben. Zwischenzeitlich war wegen anstehender Versetzung des Vorsitzenden in den Ruhestand für diese Beschwerde C. M. Radke als neuer Vorsitzender bestimmt worden. Daraufhin haben die übrigen Mitglieder der Kammer Erklärungen gemäß Artikel 24(2) EPÜ abgegeben, um den Anschein der Befangenheit zu vermeiden. Entsprechend wurde den Parteien mit Bescheid vom 14. Dezember 2012 mitgeteilt, dass für die zunächst nach Artikel 24(4) EPÜ zu treffende Entscheidung J.-B. Ousset als Berichterstatter und C.-P. Brandt als rechtskundiges Mitglied bestimmt worden sei. Ebenso wurde den Parteien eine zweimonatige Frist zur Stellungnahme gewährt. Während sich die Beschwerdeführerin dafür aussprach, die Berichterstatterin und das rechtskundige Mitglied nicht zu ersetzen (siehe den Brief vom 22. Februar 2013), hielt die Beschwerdegegnerin den Ersatz dieser Mitglieder für erforderlich (siehe den Brief vom 28. Februar 2013).

Am 1. März 2013 erging die mit Gründen versehene Zwischenentscheidung der Kammer, die Berichterstatterin G. Seufert durch Herrn J.-B. Ousset und das rechtskundige Mitglied D. Rogers durch Herrn C.-P. Brandt zu ersetzen. Unter Punkt 11 der Entscheidungsgründe wurde erläutert, warum die Entscheidung R 21/11 schon nach Ersatz des Vorsitzenden erfordere, dass das gesamte Beschwerdeverfahren erneut durchgeführt werden müsse. Diese Zwischenentscheidung wurde den Parteien mit Bescheid vom 15. März 2013 zugesandt.

IX. Die Argumente der Beschwerdeführerin (Einsprechenden), soweit sie für die vorliegenden Entscheidung relevant sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Die Dokumente (9) und (12) seien prima facie relevant und hätten von der Einspruchsabteilung zugelassen werden müssen.

- Die Dokumente (17)-(19) sollten ebenfalls zugelassen werden, da sie lediglich das allgemeine Fachwissen widerspiegeln.

- Die Dokumente (27)-(29) seien sehr spät eingereicht worden und sollten nicht zugelassen werden. Dokument (27) gebe nur eine persönliche Meinung wieder. Dokument (28) sei nachveröffentlicht. Dokument (29) zeige Effekte, auf die kein Hinweis in der ursprünglichen Anmeldung zu finden sei.

- Der Ausdruck "nicht-systemisch" sei so auszulegen, dass Imidacloprid äußerlich angewandt werde. Die Interpretation der Beschwerdegegnerin, dass dieser Ausdruck den Übergang von Imidacloprid in das Blut ausschließe, werde durch das Streitpatent nicht gestützt, da dieses den Zusatz von resorptionsfördernden Stoffen vorsehe und in den Beispielen Dimethylsulfoxid verwende.

- Dokument (8) stelle den nächstliegenden Stand der Technik dar. Ausgehend hiervon sei der Gegenstand der Ansprüche nicht erfinderisch, da Imidacloprid gemäß Dokument (19) ein Kontaktherbizid sei, dessen äußerliche Anwendung im Hinblick auf das Dokument (20) naheliegend gewesen sei.

X. Die Argumente der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), soweit sie für die vorliegenden Entscheidung relevant sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Die Dokumente (9) und (12) seien nicht zuzulassen, da die Einspruchsabteilung ihr Ermessen richtig ausgeübt habe.

- Die Dokumente (17)-(19) sollten ebenfalls nicht zugelassen werden, da sie früher hätten vorgelegt werden können und nicht relevanter als Dokument (5) seien.

- Dokument (27) sei als Reaktion zum Schreiben der Beschwerdekammer vom 26. Januar 2011 vorgelegt worden, die Versuchsberichte (28) und (29) schon im Prüfungsverfahren. Diese Dokumente seien daher zuzulassen.

- Eine systemische Wirkung bedeute, dass eine Aufnahme oder Resorption des Wirkstoffs in den Blutkreislauf erfolge. Daher sei eine Wirkung eines Wirkstoffs nicht-systemisch, wenn der Wirkstoff nicht ins Blut gelange.

- Dimethylsulfoxid werde in den Beispielen des Streitpatents nur verwendet, um die Löslichkeit von Imidacloprid zu erhöhen.

- Dokument (4) stelle den nächstliegenden Stand der Technik dar. Die überlegene Langzeitwirkung der erfindungsgemäß verwendeten Mittel werde im Dokument (29) belegt. Diese Wirkung begründe eine erfinderische Tätigkeit, auch falls vom Dokument (8) als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen würde.

XI. Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer in der geänderten Besetzung verfolgte die Beschwerdegegnerin zunächst im Rahmen des Hauptantrags die mit dem Schreiben vom 21. März 2013 als 1. Hilfsantrag eingereichten Ansprüche 1 bis 4. Deren Anspruch 1 lautete wie folgt (wobei das gegenüber dem oben unter Punkt II wiedergegebenen Anspruch 1 hinzugefügte Merkmal von der Kammer hervorgehoben wurde):

"1. Verwendung von Imidacloprid (= 1-[(6-Chlor-3-pyridinyl)methyl]-N-nitro-2-imidazolidinimin) zur Herstellung vom Mitteln zur nicht-systemischen Bekämpfung von parasitierenden Insekten aus der Gruppe der Flöhe, Läuse und Fliegen durch dermale Applikation an Menschen und Tieren."

Nachdem die Kammer zu dem Schluss gekommen war, dass der Gegenstand dieser Ansprüche nicht erfinderisch sei, zog die Beschwerdegegnerin alle anderen Anspruchssätze zurück und verteidigte das Patent ausschließlich in der von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung für gewährbar erachteten Fassung (siehe oben unter den Punkten I und II).

XII. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Ferner beantragte sie, die Dokumente (27) bis (29) nicht in das Verfahren zulassen.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen. Ferner beantragte sie, die Dokumente (9), (12) und (17) bis (19) nicht in das Verfahren zuzulassen. Ihren ursprünglich im schriftlichen Verfahren gestellten Antrag, das Dokument (20) nicht in das Verfahren zuzulassen, verfolgte sie im wiederaufgenommenen schriftlichen Beschwerdeverfahren nicht weiter und erwähnte (D20) bei der Bestätigung ihrer Anträge während der mündlichen Verhandlung nicht mehr. Vielmehr stützte sie im wiederaufgenommenen schriftlichen Beschwerdeverfahren ihre eigene Argumentation auf dieses Dokument (siehe Seite 7 des Schreibens vom 21. März 2013, unter der Überschrift "Weitere Bestätigung durch konkrete Beispiele aus D20").

XIII. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig

2. Umfang des wiederaufgenommenen Beschwerdeverfahrens

Die Entscheidung R 21/11 konstatiert, eine "Ersetzung der früheren Mitglieder würde bedeuten, dass eine Beschwerdekammer in neuer Besetzung das gesamte Beschwerdeverfahren ... erneut durchführen müsste" (siehe Punkt 30 der Entscheidungsgründe). Da inzwischen alle Mitglieder der Kammer ersetzt wurden, muss die Kammer das Beschwerdeverfahren erneut durchführen. Das schließt ein, dass sie im wiederaufgenommenen Verfahren über alle Sachfragen erneut entscheiden muss.

3. Zulassung von Dokumenten in das Verfahren

3.1 Dokumente (9) und (12)

3.1.1 Diese Dokumente wurden von der Einsprechenden im Einspruchsverfahren mit den Schreiben vom 22. Februar und vom 10. Oktober 2008 eingereicht, jedoch von der Einspruchsabteilung nicht in das Verfahren zugelassen.

3.1.2 Gemäß Artikel 12(4) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) hat die Kammer die Befugnis, "Beweismittel ... nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind" (siehe die Beilage zum ABl. EPA 1/2013, Seiten 39-49).

3.1.3 Im Rahmen einer Überprüfung der Entscheidung einer Einspruchsabteilung, Dokumente nicht in das Verfahren zuzulassen, sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat (siehe T 640/91, ABl. EPA 1994, 918, Punkt 6.3 der Entscheidungsgründe).

3.1.4 Aus der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung sowie aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung geht eindeutig hervor, dass die Zulassung dieser Dokumente erörtert wurde (siehe Seiten 5 bis 7 der Entscheidung der Einspruchsabteilung und Punkt 2 des Protokolls der mündlichen Verhandlung). Dies wurde von keiner Partei bestritten.

In der angefochtenen Entscheidung wurde hervorgehoben, dass diese Dokumente verspätet vorgebracht worden sind und es wurde begründet, warum diese Dokumente nicht relevant sind.

Somit hat die Einspruchsabteilung das Kriterien der elevanz auf das verspätete Dokument angewandt, wie es in den Prüfungsrichtlinien vorschlagen ist (siehe die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, E-III 8.6 in der Fassung vom Dezember 2007).

Folglich hat die Einspruchsabteilung ihr Ermessen ausreichend begründet und nach den richtigen Kriterien ausgeübt. Ob die Einspruchsabteilung sich bei der Beurteilung der Relevanz der Dokumente getäuscht haben könnte, wie die Beschwerdeführerin argumentierte, ist hier ohne Belang und von der Kammer nicht zu überprüfen.

3.1.5 Daher hat die Kammer entschieden, die Dokumente (9) und (12) nicht in das Verfahren zuzulassen.

3.2 Dokumente (17) bis (19)

3.2.1 Die Dokumente (17) bis (19) wurden mit der Beschwerdebegründung vom 7. Mai 2009 eingereicht.

3.2.2 Die Beschwerdegegnerin erachtete diese Dokumente als verspätet eingereicht sowie als nicht relevanter als Dokument (5). Die Beschwerdeführerin hielt diese Dokumente u. a. deshalb für relevant, da sie belegten, dass vor dem Prioritätstag des Streitpatents die Wirkung von Imidacloprid als Kontaktinsektizid bekannt war.

3.2.3 Diese Dokumente lagen schon mehr als vier Jahre vor der mündlichen Verhandlung in ihrer geänderten Besetzung vor. Die Beschwerdegegnerin hatte also ausreichend Zeit, zu Ihnen Stellung zu nehmen, was sie auch nutzte (siehe Seite 3 ihres Schreibens vom 30. November 2009). Zudem hielt die Kammer sie als Beleg für die Kontaktwirkung von Imidacloprid für relevant.

Daher übte sie ihr Ermessen gemäß Artikel 12(4) VOBK dahingehend aus, dass sie die Dokumente (17) bis (19) in das Verfahren zuließ.

3.3 Dokumente (27) bis (29)

3.3.1 Diese Dokumente wurden von der Beschwerdegegnerin nach ihrer Stellungnahme zur Beschwerdebegründung eingereicht. Gemäß Artikel 13(1) VOBK liegt es im Ermessen der Kammer, ob sie so spät eingereichte Dokumente in das Verfahren zulässt, wobei bei "der Ausübung dieses Ermessens ... insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt" wird.

3.3.2 Das Dokument (27) ist die zweite Erklärung von Professor Mehlhorn. Die Nichtberücksichtigung dieses Dokuments in der aufgehobenen Entscheidung vom 3. Februar 2011 hat zu der Entscheidung der Grossen Beschwerdekammer R 21/11 geführt. Das Dokument (28) ist eine Erklärung von Doktor Hubert Horn betreffend die nicht-systemische Bekämpfung von Parasiten ("non-systemic control of parasites") und Dokument (29) enthält Vergleichsdaten.

3.3.3 Dokument (27) wurde von der Beschwerdegegnerin am 1. Februar 2011 eingereicht, also kurz vor der mündlichen Verhandlung am 3. Februar 2011. Dieses Dokument befasst sich mit der Interpretation des Dokuments (8); es ist daher als Reaktion auf den Bescheid der Kammer vom 26. Januar 2011 aufzufassen, der die Neuheit des Anspruchs 1 im Hinblick auf das Dokument (8) in Frage stellte.

Folglich ließ die Kammer Dokument (27) in das Verfahren zu.

3.3.4 Die Dokumente (28) und (29) zielen darauf ab, einen vorteilhaften Effekt gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik darzulegen.

3.3.5 Die Beschwerdeführerin stellte fest, dass Dokument (28) nachveröffentlicht war und war der Ansicht, dass sich Dokument (29) mit einem Effekt befasse, der im Streitpatent nirgends erwähnt wurde.

Die Dokumente (28) und (29) beschreiben Versuche der Spot-on-Behandlung zur Langzeitbekämpfung von Flöhen auf Hunden mit Imidacloprid. Dass die Versuche (28) nachveröffentlicht sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie irrelevant sind und deshalb nicht ins Verfahren zugelassen werden sollten.

Eine lang anhaltende Wirkung von Imidacloprid ist nicht expressis verbis im Streitpatent erwähnt. Sie kann jedoch aus den Beispielen A und B abgeleitet werden (siehe Seite 47-49 der ursprünglich eingereichten Anmeldung). Dort wird berichtet dass nach mehreren Tagen (27 Tage im Beispiel A bzw. sieben Tage im Beispiel B) bei behandelten Hunden keine Flöhe überlebten. Die Versuche (28) und (29) sollen demnach lediglich den schon in die ursprünglichen Anmeldung offenbarte Langzeitwirkung bestätigen.

3.3.6 Daher führen diese Dokumente keinen neuen Sachverhalt in das Verfahren ein und verursachen somit keine wesentliche Verzögerung des Verfahrens.

Deshalb ließ die Kammer auch die Dokumente (28) und (29) ins Verfahren zu.

4. Neuheit

Die Beschwerdegegnerin verfolgte während der mündlichen Verhandlung als Grundlage ihres Hauptantrags zunächst die mit dem Schreiben vom 21. März 2013 als 1. Hilfsantrag eingereichten Ansprüche 1 bis 4 (nachfolgend früherer Hauptantrag genannt). Dessen Anspruch 1 ist oben unter Punkt XI wiedergegeben. Die Parteien waren sich einig, dass der Gegenstand dieser, auf die dermale Applikation beschränkten Ansprüche neu war. Die Kammer stimmte dem zu, da das Dokument (8) nicht alle Merkmale des Anspruchs 1 des früheren Hauptantrags offenbart. Nachdem die Kammer das Ergebnis ihrer Beratung zur erfinderischen Tätigkeit im Rahmen des früheren Hauptantrags mitgeteilt hatte, zog die Beschwerdegegnerin alle Anspruchssätze außer dem des endgültigen Hauptantrags zurück. Anspruch 1 des endgültigen Hauptantrags enthält keine Einschränkung auf die dermale Applikation. Er ist daher weiter gefasst als der des früheren Hauptantrags (siehe oben unter Punkt II).

Im Hinblick auf den zu diesem Zeitpunkt offensichtlichen Ausgang des Verfahrens wurde aus verfahrensökonomischen Gründen darauf verzichtet zu diskutieren, ob der Gegenstand der Ansprüche des endgültigen Hauptantrags neu ist. Entsprechend nimmt die Kammer in dieser Entscheidung zur Neuheit nicht Stellung.

Endgültiger Hauptantrag

5. Interpretation des Begriffs "nicht-systemisch" im Anspruch 1

5.1 Die Beschwerdegegnerin vertrat die Auffassung, die nicht-systemische Bekämpfung schließe den Übertritt des Mittels in die Blutbahn aus. Sie stützte sich hierbei auf eine Definition im folgenden Absatz des amerikanische Patent (D4):

"By 'non-systemic insecticide' is meant an insecticide which does not act to any appreciable extent by transmission through the bloodstream of the animal. Hence, when a non-systemic insecticide is applied externally to the pelt of the animal, the insecticide does not penetrate the pelt or skin of the animal to a significant degree. The composition will also not contain additives which cause the insecticide to penetrate significantly into the skin" (siehe Spalte 1, Zeilen 14-21).

Die Beschwerdeführerin sah keine Grundlage für diese Interpretation in der ursprünglichen Fassung der zum Streitpatent führenden Anmeldung, da diese die Zugabe von resorptionsfördernder Mittel empfehle (siehe oben unter Punkt IX).

5.2 Die Anmeldung in der ursprünglichen Fassung war auf die nicht-systemische Bekämpfung von Parasiten beschränkt (siehe die Überschrift und den ersten Satz auf Seite 1). Sie sieht "resorptionsfördernde Stoffe" als weitere Hilfsstoffe vor (siehe Seite 12, Zeilen 3-4, und Seite 13, Zeile 12; vergleiche die Absätze [0033] und [0039] des Streitpatents).

Es wurde auf Befragen während der mündlichen Verhandlung von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten, dass Dimethylsulfoxid (DMSO) ein bekanntes resorptionsförderndes Mittel ist. DMSO wird in Beispielen der ursprünglichen Anmeldung bzw. des Streitpatents eingesetzt, in großen Mengen in dem wasserlöslichen Konzentrat gemäß Beispiel 3 und in der Shampoo-Formulierung gemäß Beispiel 4. In letzterer wird 76,5 g DMSO in 366,5 g Shampoo eingesetzt, über 20 Gewichtsprozent. Selbst wenn das Shampoo während der Aufbringung mit Wasser verdünnt werden sollte, wird somit DMSO in erheblicher Konzentration auf den Menschen bzw. das Tier aufgebracht.

Ob das DMSO laut Angabe der Beschwerdegegnerin lediglich als Lösungsmittel für Imidacloprid eingesetzt wurde, spielt keine Rolle, da dem Fachmann bewusst war, dass es auch resorptionsfördernd wirkt. Auch ist der Anmeldung bzw. dem Streitpatent nicht zu entnehmen, das das DMSO als Lösungsmittel eingesetzt wurde. Vielmehr wird dort, wo geeignete Lösungsmittel genannt sind, Dimethylsulfoxid nicht erwähnt (siehe Seite 10, Zeilen 8-11 und 14-17 sowie Seite 11, Zeilen 9-15 der ursprünglichen Anmeldung; vergleiche die Absätze [0018], [0020] und [0026] des Streitpatents).

Es muss daher davon ausgegangen werden, dass schon die ursprüngliche Anmeldung die Zugabe von resorptionsfördernden Stoffen im Allgemeinen und von Dimethylsulfoxid im Besonderen als mit der nicht-systemischen Wirkung vereinbar erachtete. Dies steht in klarem Gegensatz zum letzten Satz des oben zitierten Absatzes aus dem Dokument (4). Daher kann die Kammer der Argumentation der Beschwerdeführerin nicht folgen, der Begriff "nicht-systemisch" im Sinne des Streitpatents schließe den Eintritt des Mittels in die Blutbahn weitgehend aus.

Vielmehr ist der begriff "nicht-systemisch" im Sinne des Patents weiter auszulegen, beispielsweise als "äußerlich".

6. Erfinderische Tätigkeit

6.1 Bestimmung des nächstliegenden Standes der Technik

Als nächstliegender Stand der Technik wird im Allgemeinen eine Druckschrift angesehen, die einen Gegenstand offenbart, der zum gleichen Zweck oder mit demselben Ziel entwickelt wurde wie die beanspruchte Erfindung, und die wichtigsten technischen Merkmale mit ihr gemeinsam hat.

6.1.1 Die Druckschrift (4) offenbart zwar die Verwendung eines nicht-systemischen Insektizids zur Bekämpfung von Flöhen an Hunden (siehe Spalte 1, Zeilen 4 bis 10).

Jedoch wird weder Imidacloprid noch eine strukturell ähnliche Verbindung in dieser Druckschrift erwähnt (siehe Spalte 1, Zeilen 42-64, und Spalte 2, Zeilen 40-65).

Ferner sollen die Formulierungen gemäß Dokument (D4) die Penetration des Wirkstoffes durch die Haut vermeiden, während das angefochtene Patent sie zumindest teilweise fördert (siehe oben unter Punkt 5).

Die Druckschrift (4) unterscheidet sich daher vom Gegenstand des Streitpatents nicht nur durch die Natur des Wirkstoffs, sondern auch durch die spezifische Art und Wirkweise von dessen Formulierungen.

Die Druckschrift (8) offenbart neue Verbindungen, die in der Tiermedizin zur Bekämpfung von Endo- und Ectoparasiten einsetzbar sind, beispielsweise gegen den Hundefloh Ctenocephalides canis und gegen die Läuse Trichdectes spp. (siehe Spalte 52, Zeilen 45 bis 56). Imidacloprid ist Gegenstand des Anspruchs 20 (vergleiche die Formel im Absatz [0006] des Streitpatents); seine Herstellung wird im Beispiel 11-ii beschrieben (siehe Spalte 58, Zeilen 29 bis 52).

Dokument (8) offenbart daher nicht nur die Bekämpfung von Hundeflöhen, sondern auch - im Gegensatz zum Dokument (4), Imidacloprid als Wirkstoff. Die Tatsache, dass die Verwendungsbeispiele 54-56 den Pflanzenschutz betreffen, ist hier nicht von Bedeutung. Die Offenbarung einer Patentschrift beschränkt sich nicht auf deren Beispiele.

6.1.2 Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass die Druckschrift (8) den nächstliegenden Stand der Technik darstellt.

6.2 Aufgabe

6.2.1 Die Beschwerdegegnerin sah die im Hinblick auf das Dokument (8) zu lösende Aufgabe darin, bei der Verwendung von Imidacloprid enthaltenden Formulierungen zur Bekämpfung von parasitierenden Insekten an Tieren und Menschen eine lang anhaltende Wirkung zu erzielen (siehe oben unter Punkt X).

6.2.2 Zum Beleg der lang anhaltenden Wirkung bezog sich die Beschwerdegegnerin auf die Versuchsergebnisse des Dokuments (29).

Tatsächlich zeigt die Tabelle auf Seite 9 für den Stoff "IMIDACLORPID" (sic), dass bei äußerlicher Anwendung von Imidacloprid im "Spot-on"-Verfahren noch nach 39 Tagen 91,1 % der Anfangswirkung erzielt wird, während die Wirksamkeit nach oraler Verabreichung bereits nach sieben Tagen auf 13,4 % sinkt.

Daher wird die oben genannte Aufgabe durch den Gegenstand des vorliegenden Anspruchs 1, nämlich durch die "nicht-systemische" Verwendung, gelöst.

6.3 Naheliegen der Lösung der Aufgabe

Die Lösung dieser Aufgabe gemäß Anspruch 1 konnte nur nahegelegen haben, wenn

- dem Fachmann klar war, dass Imidacloprid bei äußerlicher Anwendung wirksam ist,

- ihm offensichtlich war, dass bei äußerlicher Anwendung eine längere Wirksamkeit gegenüber der oralen Gabe zu erwarten war, und

- solche äußerlichen Anwendungen zum Prioritätstag des Streitpatents üblich waren.

6.3.1 Der Fachmann hätte Imidacloprid nur dann äußerlich verwendet, wenn er überzeugt war, dass es nicht nur systemisch, sondern auch bei äußerer Anwendung als Insektizid wirksam ist. Äußerlich wirksam ist ein Insektizid, wenn das Insekt bereits durch den Kontakt mit dem Insektizid getötet wird, also eine Aufnahme des Insektizids über das Blut des Opfers für den Eintritt der Wirkung nicht notwendig ist. Die Beschwerdeführerin verwies als Beleg für ihre Behauptung, es sei bekannt gewesen, dass Imidacloprid ein Kontaktinsektizid sei, auf das Dokument (19). Dieses Dokument befasst sich mit der Toxizität von Imidacloprid gegen gewisse Gliederfüßler. Es belegt, dass Imidacloprid schon gegen die Eier der Florfliege Chrysoperla rufilabris wirksam ist (siehe Tabelle 1 auf Seite 278 in der Zeile 

"Chrysoperla rufilabris (egg), Georgia"). Da bei Eiern die orale Aufnahme des Insektizids nicht möglich ist, muss Imidacloprid bereits durch den Kontakt wirken. Dem Fachmann war daher bewusst, dass Imidacloprid ein Kontaktinsektizid, und somit bei äußerlicher Anwendung wirksam ist.

6.3.2 Wirkstoffe werden im menschlichen und tierischen Körper üblicherweise innerhalb kurzer Zeit metabolisiert oder unverändert ausgeschieden. Bei äußerlicher Anwendung ist der Wirkstoff diesen Mechanismen von Metabolisierung und Ausscheidung entzogen. Er kann also länger wirksam sein. Folglich hätte der Fachmann erwartet, dass Imidacloprid bei äußerer Anwendung länger wirksam ist als bei oraler Gabe.

6.3.3 Die Beschwerdeführerin hat das Dokument (20) als Beleg dafür zitiert, dass die äußerliche Behandlung von Ektoparasiten am Prioritätstag des Streitpatents üblich gewesen sei. Beim Dokument (20) handelt es sich um einen Übersichtartikel über die Anwendung von Wirkstoffen gegen Ektoparasiten, beispielsweise Läusen und Fliegen, bei Nutztieren, insbesondere Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen (siehe die Zusammenfassung auf der Seite 111). In den Schlussbemerkungen wir erwähnt, ein Trend gehe zur allmählichen Verminderung der dermal aufgebrachten Wirkstoffmengen, von Sprüh- oder Tauchmassen zu Gieß- oder Spot-on-Formulierungen und mit Insektizid imprägnierten Ohrmarken (siehe Seite 116, zweiter Absatz unter der Überschrift "FINAL REMARKS").

6.3.4 Hieraus ergibt sich, dass dem Fachmann klar war, dass Imidacloprid bei äußerlicher Anwendung wirksam ist, dass bei äußerlicher Anwendung eine längere Wirksamkeit gegenüber der oralen Gabe zu erwarten war, und solche äußerlichen Anwendungen zum Prioritätstag des Streitpatents üblich waren.

Er war daher für ihn naheliegend, Imidacloprid "nicht-systemisch" zur Bekämpfung von parasitierenden Flöhen, Läusen und Fliegen bei Tieren anzuwenden, und es somit gemäß dem vorliegenden Anspruch 1 zu verwenden.

6.4 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand von Anspruch 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Die Kammer über einen Antrag nur als Ganzes entscheiden. Deshalb ist der Hauptantrag nicht gewährbar.

Entscheidungsformel

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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