European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2011:T048208.20110512 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 12 Mai 2011 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0482/08 | ||||||||
Anmeldenummer: | 00947966.8 | ||||||||
IPC-Klasse: | C09D 7/12 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Mit Nanopartikeln modifizierte Bindemittel für Überzugsmittel und deren Verwendung | ||||||||
Name des Anmelders: | E.I. DU PONT DE NEMOURS AND COMPANY | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Akzo Nobel Coatings International B.V. Consortium für elektrochemische Industrie GmbH |
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Kammer: | 3.3.01 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit der Beschwerde (ja) - nach Beseitigung der Mängel gemäß R. 101(2) EPÜ Ausführbarkeit (ja) - in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen Neuheit und erfinderische Tätigkeit (ja) |
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Orientierungssatz: |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Gegen das europäische Patent Nr. 1 216 278 legten die folgenden Parteien Einspruch ein:
Akzo Nobel Coatings International B.V. (Einsprechende 1) und
Consortium für elektrochemische Industrie GmbH (Einsprechende 2).
Die beiden Einsprüche richteten sich jeweils gegen das Patent im gesamten Umfang und beruhten auf Einspruchsgründen gemäß 100(a) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit). Die Einsprechende 1 machte zusätzlich den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100(b) EPÜ geltend.
II. Die Einspruchsabteilung entschied, das Patent in der gemäß den Ansprüchen vom 17. Juli 2006 geänderten Fassung genüge den Anforderungen des EPÜ.
III. Anspruch 1 dieser Ansprüche lautete wie folgt:
" 1. Mit Nanopartikeln modifiziertes Bindemittel erhältlich durch ein Verfahren, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass es die Synthese des Bindemittels aus seinen Edukten in Gegenwart der Nanopartikel umfaßt, worin
- die Nanopartikel eine reaktive
Funktionalität aufweisen, die komplementär zur
reaktiven Funktionalität des Bindemittels bzw. seiner Edukte ist,
- das Bindemittel bzw. seine Edukte eine zur
reaktiven Funktionalität der Nanopartikel komplementäre reaktive Funktionalität aufweisen, und
- die Umsetzung der genannten, zueinander
komplementären reaktiven Funktionalitäten vor, während und/oder nach der eigentlichen Synthese des Bindemittels erfolgt und die Umsetzung lösemittelfrei oder in Gegenwart von organischem Lösungsmittel erfolgt,
- und wobei die Kombination von Carboxylgruppen als
reaktive Funktionalität der Nanopartikel und Epoxidgruppen als komplementär reaktive Funktionalität der Bindemittel bzw. der Bindemitteledukte ausgeschlossen ist."
IV. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem die folgenden Druckschriften zitiert:
(D2) WO-A-00/05 284
(D6) EP-A-0 832 947
(D8) EP-A-0 505 230.
V. Die Einspruchsabteilung kam zu dem Schluss,
- es sei nicht hinreichend belegt worden, dass die Erfindung nicht über den gesamten Bereich ausführbar sei;
- der Gegenstand der Ansprüche sei neu;
- Dokument (D6) gelte als der nächstliegende Stand der Technik. Aufgabe der Erfindung sei es gewesen, mit Nanopartikeln versetzte Bindemittel beziehungsweise Überzugsmittel bereitzustellen, bei denen das Absetzen der Nanopartikel bei deren Einarbeitung weitgehend vermieden werden könne. Diese Aufgabe werde gelöst, indem die Bindemitteledukte in Gegenwart der funktionalisierten Nanopartikel polymerisiert würden. Eine derartige Vorgehensweise werde im Dokument (D6) nicht nahegelegt.
VI. Gegen diese Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung legte der Vertreter der Einsprechenden 1 im Namen der Akzo Nobel N.V. Beschwerde ein.
Auf die telefonische Rücksprache vom 26. April 2011 der Kammer mit Fristsetzung gemäß Regel 101(2) EPÜ bis zum 10. Mai 2011 hin beantragte der Vertreter der Einsprechenden 1 mit Telefax vom 27. April 2011 die Berichtigung des Namens der Beschwerdeführerin zu "Akzo Nobel Coatings International B.V." und stellte klar, dass auch die Beschwerdebegründung vom 14. Mai 2008 im Namen der Einsprechenden 1 unter der von ihr erteilten allgemeinen Vollmacht Nr. 47 185 erfolgt sei.
VII. Die Beschwerdegegnerin und Patentinhaberin reichte während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 12. Mai 2011 die Ansprüche 1 und 2 als Grundlage eines neuen Hauptantrags ein und zog alle anderen Anspruchssätze zurück.
Die Ansprüche des neuen Hauptantrags lauten wie folgt:
" 1. Duroplastische Überzugsmittel, enthaltend ein oder mehrere mit Nanopartikeln modifizierte fremdvernetzende Bindemittel, wobei die Bindemittel erhältlich sind durch ein Verfahren, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass es die Synthese des Bindemittels aus seinen Edukten in Gegenwart der Nanopartikel umfaßt, worin
- die Nanopartikel eine reaktive
Funktionalität aufweisen, die komplementär zur reaktiven Funktionalität des Bindemittels bzw. seiner Edukte ist,
- das Bindemittel bzw. seine Edukte eine zur reaktiven Funktionalität der Nanopartikel komplementäre reaktive Funktionalität aufweisen, und
- die Umsetzung der genannten, zueinander
komplementären reaktiven Funktionalitäten vor und/oder während der eigentlichen Synthese des Bindemittels unter Ausbildung einer kovalenten Bindung erfolgt und die Umsetzung lösemittelfrei oder in Gegenwart von organischem Lösungsmittel erfolgt,
- und wobei die Kombination von Carboxylgruppen als
reaktive Funktionalität der Nanopartikel und Epoxidgruppen als komplementär reaktive Funktionalität der Bindemittel bzw. der Bindemitteledukte ausgeschlossen ist,
und Vernetzer neben den mit Nanopartikeln modifizierten Bindemitteln."
"2. Überzugsmittel nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, dass die Nanopartikel eine mittlere Teilchengrösse von 5 bis 200 nm aufweisen."
VIII. Während des Beschwerdeverfahrens wurden unter anderem die folgenden Druckschriften zusätzlich zitiert:
(D11) H.-G. Elias, Makromoleküle, 5. Auflage, Band 2, Hüthig und Wepf Verlag, Basel/CH 1992, 473-475, 270-272
(D13) Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry, 5. Auflage, Band A23, VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim/DE 1993, 645-647, 659
(D14) W. Noll, Chemie und Technologie der Silicone, 2. Auflage, Verlag Chemie GmbH, Weinheim/DE 1968, 368-369
(D15) Organikum, Wiley-VCH Verlag GmbH, Weinheim/DE 2001, 66
IX. Die Beschwerdeführerin hielt die Lehre des Patents nicht für ausreichend offenbart, da es nicht lehre
- wie das vorzeitige Vernetzen der Nanopartikel mit dem Bindemittel, das heißt das Gelieren der Masse, vermieden werden könne; und
- wie funktionalisierte Nanopartikel hergestellt werden können.
Der Gegenstand der Ansprüche sei nicht neu im Hinblick auf die Offenbarung von Dokument (D6) oder (D2).
Der Gegenstand der Ansprüche sei auch nicht erfinderisch im Hinblick auf das Dokument (D8) oder (D6), die beide als nächstliegender Stand der Technik angesehen werden könnten.
X. Als Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung erließ die Kammer einen Bescheid, in dem sie u.a. begründete,
- warum bei der Diskussion der Neuheit auch das Dokument (D8) berücksichtigt werden könne und
- weshalb sie vorläufig das Dokument (D6) als den nächstliegenden Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ansehe.
XI. Die für die vorliegende Entscheidung relevanten Argumente der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Erfindung sei im Patent ausreichend offenbart. Die chemischen Reaktionen zur Einführung von funktionalen Gruppen in Nanoteilchen gehörten zum allgemeinen Fachwissen. Die Beispiele des Streitpatents zeigten, dass das Problem des Gelierens nicht auftrete. Eine Reaktion aller funktioneller Gruppen der Nanoteilchen mit denen des Bindemittels sei aufgrund sterischer Hinderung nicht zu erwarten oder sei vom Fachmann leicht zu verhindern.
Der Gegenstand der Ansprüche unterscheide sich von der Offenbarung im Dokument (D6) dadurch, dass letzteres nicht mit Nanopartikeln modifizierte, als Bindemittel taugliche Zusammensetzungen offenbare.
Dokument (D2) beschreibe weder Bindemittel, noch Massen, die sich zur Verwendung zur Herstellung von Überzugsmitteln eignen.
Dokument (D8) lehre nicht die Herstellung von Beschichtungen oder von Überzugsmitteln.
Der Gegenstand der Ansprüche hätte auch nicht nahegelegen. Ausgehend vom Dokument (D6) als nächstliegendem Stand der Technik werde die Aufgabe gelöst, die Lagerstabilität der mit Nanoteilchen modifizierten Bindemittel zu verbessern.
Dokument (D6) lehre, dass sich die Nanoteilchen in der Dispersion absetzen können, gebe jedoch keinen Hinweis darauf, wie dies zu verhindern sei.
XII. Die Beschwerdeführerin hat im schriftlichen Verfahren beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen. Die weitere Verfahrensbeteiligte hat sich im Beschwerdeverfahren nicht zur Sache geäußert und auch keine Anträge gestellt.
Die Beschwerdegegnerin hat beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent im Umfang der während der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2011 eingereichten Ansprüche des als einzigem Antrag weiterverfolgten Hauptantrags aufrechtzuerhalten.
XIII. Die Beschwerdeführerin sowie die weitere Verfahrensbeteiligte wurden ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer geladen. Sie sind jedoch nicht erschienen, wie sie in ihren Briefen vom 26. April beziehungsweise 5. April 2011 ankündigten.
Die mündliche Verhandlung wurde daher gemäß Regel 115(2) EPÜ in deren Abwesenheit fortgesetzt.
Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Beschwerde
1.1 Die Beschwerdeschrift nannte zwar die Anschrift, jedoch nicht den Namen der Einsprechenden 1, d.h. der Akzo Nobel Coatings International B.V.. Dies ist ein Mangel gemäß Regel 99(1)a) EPÜ. Dieser kann gemäß Regel 101(2) EPÜ nach Aufforderung der Beschwerdekammer innerhalb einer von ihr zu bestimmenden Frist beseitigt werden kann.
Dementsprechend forderte die Kammer die Einsprechende 1 während der telefonischen Rücksprache vom 26. April 2011 auf, diesen Mangel bis zum 10. Mai 2011 zu beheben.
In dem Telefax vom 27. April 2011 beantragte die Einsprechende 1, dass die Beschwerdeschrift zu berichtigen sei, indem die Akzo Nobel Coatings International B.V. als Beschwerdeführer zu benennen sei. Ferner wies sie darauf hin, dass die Unterzeichner der Beschwerdeschrift und der Beschwerdebegründung unter der dort genannten allgemeinen Vollmacht für die Einsprechende 1 bevollmächtigt seien. Die Kammer hat sich davon überzeugt, dass letzteres der Fall ist.
1.2 Die Beschwerdegegnerin erhob keine Einwände gegen die Zulässigkeit der Beschwerde.
1.3 Aus diesen Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Einsprechende 1 die gerügten Mängel fristgerecht behoben hat. Die Beschwerde ist daher zulässig.
2. Zulassung geänderter Ansprüche in das Verfahren
2.1 Während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 12. Mai 2011 reichte die Beschwerdegegnerin die Ansprüche 1 und 2 als Grundlage eines neuen Hauptantrags ein (siehe oben unter Punkt VII).
2.2 Gemäß Artikel 13(1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) steht es "im Ermessen der Kammer, Änderungen des Vorbringens eines Beteiligtenn nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung zuzulassen und zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des Ermessens werden insbesondere die Komplexität des neuen Vorbringens, der Stand des Verfahrens und die gebotene Verfahrensökonomie berücksichtigt."(siehe Beilage zum ABl. EPA 1/2011, 39).
2.2.1 Die geänderten Ansprüche unterscheiden sich nur durch die handschriftlichen Änderungen von den Ansprüchen des mit der Erwiderung vom 1. Dezember 2008 auf die Beschwerdebegründung eingereichten 3. Hilfsantrags. Die handschriftlichen Änderungen erschöpfen sich in der Streichung der Alternative "und/oder nach" und in einigen Klarstellungen im Anspruch 1. Das Vorbringen dieser neuen Ansprüche war also nicht komplex.
2.2.2 Die Notwendigkeit der Änderungen ergaben sich zum großen Teil erst während der mündlichen Verhandlung. Ihre Berücksichtigung verzögerten das Verfahren nicht wesentlich.
2.2.3 Auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin und die weitere Verfahrensbeteiligte der mündlichen Verhandlung fernblieben, sprach nicht gegen die Zulassung der geänderten Ansprüche in das Verfahren.
Gemäß Artikel 15(3) der VOBK ist nämlich die Kammer "nicht verpflichtet, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist; dieser kann dann so behandelt werden, als stütze er sich lediglich auf sein schriftliches Vorbringen."
Die Kammer hat in ihrem der Ladung vom 9. Februar 2011 beigefügten schriftlichen Bescheid angeregt, bei der Diskussion der Neuheit auch das Dokument (D8) zu berücksichtigen (siehe oben unter Punkt X).
Die abwesenden Parteien mussten daher damit rechnen, dass die Beschwerdegegnerin als Patentinhaberin im Rahmen der Diskussion des Dokuments (D8) während der mündlichen Verhandlung geänderte Ansprüche vorlegen könnte.
2.3 Die Kammer entschied daher, die geänderten Ansprüche zulassen.
3. Artikel 123 EPÜ
3.1 Die Beschwerdegegnerin hat während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, zu der die anderen Verfahrensbeteiligten nicht erschienen sind, geänderte Ansprüche vorgelegt. Daher hatte die Kammer zu prüfen, ob die geänderten Ansprüche die Erfordernisse von Artikel 123 erfüllen.
3.2 Artikel 123(2) EPÜ
Anspruch 1 basiert auf den ursprünglich eingereichten Ansprüchen 1 und 4, sowie Seite 4, Zeilen 1-3 (Ausbildung einer kovalenten Bindung zwischen Bindemittel und Nanopartikel) Seite 8, Zeile 27, bis Seite 9, Zeile 2, Seite 10, Zeilen 11 bis 13 (Umsetzung lösemittelfrei oder in Gegenwart von organischem Lösungsmittel) und Seite 11, Zeilen 8-14 (Duroplastische Überzugsmittel, die Vernetzer und fremdvernetzendes Bindemittel enthalten) der ursprünglichen Fassung der Beschreibung.
Die zusätzlichen Merkmale des Anspruchs 2 sind im ursprünglich eingereichten Anspruch 2 offenbart.
3.3 Artikel 123(3) EPÜ
Die nun beanspruchten Überzugsmittel unterscheiden sich vom Gegenstand des erteilten Anspruchs 5 nur durch zusätzliche Merkmale, die den Schutzbereich des erteilten Anspruchs einschränken.
3.4 Daher erfüllen die geänderten Ansprüche die Erfordernisse von Artikel 123(2) und (3) EPÜ.
4. Einspruchsgründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ
4.1 Die Beschwerdeführerin bemängelte, das Patent lehre nicht
- wie das vorzeitige Vernetzen der Nanopartikel mit dem Bindemittel, das heißt das Gelieren der Masse, vermieden werden könne; und
- wie funktionalisierte Nanopartikel hergestellt werden könnten.
4.2 Gründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ stehen der Aufrechterhaltung des Patents entgegen, wenn "das europäische Patent die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass ein Fachmann sie ausführen kann".
4.3 Es ist daher zu ermitteln, ob der Fachmann die Erfindung ausführen kann, obwohl das Patent die oben unter Punkt 4.1 genannten Maßnahmen nicht ausdrücklich offenbart. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Fachmann laut ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern hierbei die im Patent bzw. in der entsprechenden Anmeldung enthaltenen Informationen durch sein allgemeines Fachwissen vervollständigen kann (siehe T 212/88, ABl. EPA 1992, 28, Punkt 3.1 der Entscheidungsgründe; siehe auch T 206/83, ABl. EPA 1987, 5, Punkt 5 der Entscheidungsgründe). In der Regel stellen die einschlägigen Handbücher und allgemeinen Lehrbücher das allgemeine Fachwissen dar (T 206/83, loc. cit.). Das angefochtene Patent befasst sich mit Bindemitteln für Lacksysteme (siehe Absatz [0001]). Als Fachmann für dieses Gebiet ist ein Chemiker anzusehen, der gute Kenntnisse der Lacksysteme und der als Bindemittel eingesetzten Polymere besitzt, also insbesondere ein Polymerchemiker.
4.4 Dokument (D11) ist ein Auszug aus einem Standardlehrbuch der Polymerchemie und ist daher dem allgemeinen Fachwissen des Polymerchemikers zuzurechnen. Dieses Dokument beschreibt, dass die Reaktionsgeschwindigkeits-konstante der Polymerisation bereits vor Einsetzen des Geleffekts abnimmt (siehe Seite 473, den vorletzten Satz des ersten Absatzes; vergleiche das Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 12. April 2011, erster Absatz auf der Seite 6). Dies lehrt dem Fachmann, dass er das Gelieren verhindern kann, indem er die Polymerisation vor dem Gelieren abbricht.
Im Übrigen hat die Beschwerdeführerin zum Argument der Beschwerdegegnerin nicht Stellung genommen, der Fachmann wisse, wie er niedrige Vernetzungsgrade einstelle und somit das Gelieren verhindere. Auch die Kammer ist der Ansicht, dass der Fachmann weiß, dass er durch Verringerung der Dichte an reaktiven Gruppen, beispielsweise an den Nanopartikeln, das Gelieren des Bindemittels verhindern kann.
4.5 Die Beschwerdegegnerin hat unter anderem die Dokumente (D13) bis (D15) vorgelegt, um zu belegen, dass die Funktionalisierung der Nanoteilchen zum allgemeinen Fachwissen des Fachmanns gehört.
Diese Dokumente sind Auszüge aus Standardlehrbüchern und Nachschlagewerken auf dem Gebiet der Chemie und spiegeln somit das allgemeine Fachwissen des Chemikers wieder.
Die Dokumente (D13) bis (D15) beschreiben die Funktionalisierung der Silanolgruppen von Siliciumdioxid (Kieselsäure)(siehe (D13), Kapitel 7.3.2.; (D14), erster Absatz auf Seite 369; (D15), Formelschema [A.96]).
Die dort geschilderten Reaktionen sind keineswegs auf Silanolgruppen beschränkt, sondern auch auf andere Hydroxylgruppen übertragbar. Falls die Nanopartikel keine Hydroxylgruppen oder andere zur Funktionalisierung geeigneten reaktiven Zentren aufweisen, kann der Fachmann, wie im angefochtenen Patent vorgeschlagen, die Nanopartikel als Kerne mit Verbindungen umhüllen, welche die gewünschten funktionellen Gruppen aufweisen (siehe Absatz [0012] des Patents bzw. Seite 4, Zeile 31, bis Seite 5, Zeile 8 der entsprechenden Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung).
4.6 Die Kammer kommt daher zum Schluss, dass keine Gründe gemäß Artikel 100(b) EPÜ der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents entgegenstehen.
5. Neuheit
Als relevant für die Beurteilung der Neuheit wurden die Dokumente (D2), (D6) und (D8) genannt (siehe oben unter den Punkten IX und X).
5.1 Dokument (D2) beansprucht Zusammensetzungen enthaltend
(A) ein polymerisierbares Acrylmonomer,
(B) ein feinverteiltes Oxid mit einer mittleren Teilchengröße zwischen 1 und 50 nm, und
(C) einen mit dem Acrylmonomer mischbaren Linker, der an die Oberfläche des Oxids gebunden werden kann, und der eine funktionelle Gruppe aufweist, die vorzugsweise mit dem Acrylmonomer copolymerisierbar ist (siehe die Ansprüche 1, 2 und 6).
5.2 Dokument (D6) beansprucht klare Beschichtungsmittel enthaltend
(A) ein Bindemittel enthaltend ein vernetzbares Harz, (B) anorganische Teilchen mit Teilchengrößen von
1 bis 1000 nm, die mit dem vernetzbaren Teil des
Bindemittels reagieren können, und gegebenenfalls
(C) Vernetzer
(siehe Anspruch 1).
5.3 Dokument (D8) offenbart Teilchen mit einer mittleren Teilchengöße von 20 bis 1000 nm aus Siliciumdioxid, das durch Si-O-Si-Bindungen an der Oberfläche an eine polymere Matrix mit filmbildenden Eigenschaften gebunden ist (siehe die Ansprüche 1 und 2).
5.4 Keines der Dokumente (D2), (D6) und (D8) offenbart die in den vorliegenden Ansprüchen definierte Zusammensetzung enthaltend einen Vernetzer und ein Bindemittel, welches schon mit den Nanopartikeln unter Ausbildung kovalenter Bindungen reagiert hat.
5.5 Die Kammer hat sich auch vergewissert, dass auch keines der anderen genannten Dokumente den Gegenstand der vorliegenden Ansprüche offenbart. Daher ist dieser Gegenstand neu.
6. Erfinderische Tätigkeit
6.1 Nächstliegender Stand der Technik
Der nächstliegende Stand der Technik ist normalerweise ein Dokument, das einen Gegenstand offenbart, der auf die gleichen Ziele wie die beanspruchte Erfindung gerichtet ist und mit ihr die meisten technischen Merkmale gemeinsam hat.
Ziel der Erfindung war es, mit Nanopartikeln modifizierte Bindemittel für Lacksysteme bereitzustellen (siehe Absatz [0001] des Streitpatents).
Es war strittig, ob (D6) oder (D8) als der nächstliegende Stand der Technik anzusehen sei (siehe oben unter den Punkten IX und XI).
Für die vorliegenden Ansprüche erachtet die Kammer das Dokument (D6) als den nächstliegenden Stand der Technik, da es ausschließlich Lacksysteme betrifft, während (D8) vorrangig Folien betrifft (siehe (D6), Seite 2, Zeilen 5-6; vergleiche (D8), Seite 2, Zeilen 1-4 und 30-33).
6.2 Aufgabe
6.2.1 In der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung wird die Aufgabe darin gesehen, eine inhomogene Verteilung der Nanopartikel im Bindemittel zu verhindern (siehe Seite 2, Zeile 27, bis Seite 3, Zeile 2 der ursprünglichen Fassung; vergleiche die Absätze [0004] und [0005] des angefochtenen Patents).
6.2.2 Dass diese Aufgabe bestand, ergibt sich aus dem Dokument (D6). Dort wird geschildert, dass die Nanopartikel dazu neigen, sich innerhalb des Bindemittels abzusetzen (siehe (D6), Seite 5, Zeile 58, bis Seite 6, Zeile 4).
6.2.3 Die vorliegenden Ansprüche schlagen zur Lösung dieser Aufgabe die kovalente Bindung der Nanopartikel an das Bindemittel vor. Die Beschwerdegegnerin hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass durch diese Bindung Unterschiede im spezifischen Gewicht zwischen Bindemittel und Nanopartikeln nivelliert würden, so dass die Nanopartikel weniger zur Sedimentation neigen. Dieses Argument erscheint schlüssig. Einerseits sind Unterschiede im spezifischen Gewicht eine Ursache der Sedimentation; andererseits liegt das spezifische Gewicht der durch Bindung der Nanopartikel an das Bindemittel erhaltenen Teilchen zwischen dem der beiden Ausgangskomponenten, so dass sich diese an das Bindemittel gebundenen Nanopartikel im spezifischen Gewicht an das des Bindemittels annähern.
Es ist daher glaubhaft, dass diese Aufgabe mit den Mitteln der vorliegenden Ansprüche in deren voller Breite gelöst wird.
6.3 Lösung
6.3.1 Dokument (D6) spricht diese Aufgabe an (siehe oben unter Punkt 6.2.2). Als Lösung wird dort vorgeschlagen, die Nanopartikel in einer geeigneten Dispersion einzusetzen und, falls die Partikel dennoch sedimentieren, sie zu redispergieren (siehe Seite 5, Zeile 55, bis Seite 6, Zeile 4). Dokument (D6) gibt keinen Hinweis darauf, die Nanopartikel an das Bindemittel vor dessen Vernetzung chemisch zu binden, geschweige denn, dass diese Maßnahme zur Lösung der oben geschilderten Aufgabe beitragen könnte.
6.3.2 Dokument (D2) zählt zum Stand der Technik gemäß Artikel 54(3) EPÜ und ist daher gemäß Artikel 56 EPÜ bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht heranzuziehen.
6.3.3 Dokument (D8) verfolgt ein anderes Ziel, nämlich die Verbesserung der Elastizität und der Zugfestigkeit von Folien (siehe Seite 2, Zeilen 30-36). Es gibt keinen Hinweis darauf, wie die Sedimentation der Nanopartikel im Bindemittel eines Überzugsmittels verhindert werden könnte.
6.3.4 Die Kammer hat sich auch davon überzeugt, dass keines der anderen zitierten Dokumente den Gegenstand der vorliegenden Ansprüche nahelegt. Daher beruht der Gegenstand der vorliegenden Ansprüche auf einer erfinderischen Tätigkeit.
7. Zurückverweisung an die erste Instanz (Artikel 111(1) EPÜ)
Im vorliegenden Fall kann die Kammer nicht über die Aufrechterhaltung des Patent in geänderter Fassung entscheiden, da die Voraussetzungen gemäß Regel 82(2) EPÜ, zweiter Satz, hierfür noch nicht erfüllt sind. Ferner ist die Beschreibung an die geänderten Ansprüche anzupassen. Daher verweist die Kammer die Angelegenheit an die erste Instanz zurück.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der
Anordnung zurückverwiesen, das Patent mit folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten:
Ansprüche:
Nr. 1 und 2, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2011.