T 0849/03 (Ablaufumgebungssystem/SIEMENS) of 19.8.2004

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2004:T084903.20040819
Datum der Entscheidung: 19 August 2004
Aktenzeichen: T 0849/03
Anmeldenummer: 96930159.7
IPC-Klasse: H04Q 3/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Ablaufumgebungssystem für Service-Applikationen eines Kommunikationsnetzes
Name des Anmelders: Siemens Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: -
Kammer: 3.5.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 111(1)
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 116(1)
European Patent Convention 1973 R 67
Rules of procedure of the Boards of Appeal Art 10
Schlagwörter: Verletzung des rechtlichen Gehörs - wesentlicher Verfahrensfehler (ja)
Zurückverweisung - Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Orientierungssatz:

Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn die Prüfungsabteilung die Anmeldung zu einem Zeitpunkt zurückweist, an dem der Anmelder mit einer solchen Entscheidung nicht rechnen konnte.

Angeführte Entscheidungen:
T 0892/92
T 1022/98
T 0922/02
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1488/05
T 0781/08
T 1423/13

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 96 930 159.7 zurückzuweisen.

II. Die europäische Patentanmeldung 96 930 159.7 basiert auf der als WO 97/10683 veröffentlichten internationalen Anmeldung PCT/EP96/03865, die in die regionale Phase vor dem EPA als ausgewähltem Amt eingetreten ist und für die das EPA als mit der internationalen vorläufigen Prüfung beauftragte Behörde einen internationalen vorläufigen Prüfungsbericht erstellt hat.

III. In einem ersten Prüfungsbescheid vom 28. Dezember 2000 erhob die Prüfungsabteilung eine Reihe von Einwänden unter Artikel 84, 54 und 56 EPÜ. Unter Punkt 14 des Bescheides teilte sie der Anmelderin folgendes mit:

"Mit Blick auf das europäische Prüfungsverfahren, insbesondere bei bereits vorausgegangenem PCT-Verfahren, wird auf folgendes hingewiesen. Sollte nach einem Erstbescheid keine direkte Erteilung eines europäischen Patents erfolgen können, so wird in Zukunft - unter Abkehr vom bisherigen Verfahrensablauf - die Prüfungsabteilung nach einem Erstbescheid im Regelfall als zweite und finale Aktion die Anmelderin zu einer mündlichen Verhandlung gemäß Artikel 116 EPÜ laden, damit die Rechte der Anmelderin gewahrt bleiben. Die Anmelderin sollte daher bemüht sein, alle im Erstbescheid genannten Einwände auszuräumen, damit die eingeräumten Änderungsmöglichkeiten (vgl. Regel 86 (3) EPÜ) optimal genutzt werden."

IV. Die Anmelderin nahm zu den erhobenen Einwänden Stellung und reichte einen neuen Anspruch 1 ein. Einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellte sie nicht. Die Prüfungsabteilung wies daraufhin die Anmeldung ohne Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zurück.

V. Die Beschwerdekammer gab in einem Bescheid ihre vorläufige Auffassung kund, daß die Entscheidung der Prüfungsabteilung möglicherweise auf einem Verfahrensfehler beruhte und daß die Angelegenheit aus diesem Grund an die erste Instanz zurückverwiesen werden könnte.

VI. Die Anmelderin bat daraufhin die Beschwerdekammer, sich mit dem möglichen Verfahrensfehler zu befassen. Die Verlängerung des Verfahrens aufgrund einer Zurückverweisung würde in Kauf genommen werden. Es handele sich um einen wesentlichen Verfahrensfehler. Die Anmelderin beantragte die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.

Entscheidungsgründe

1. Die Garantie rechtlichen Gehörs gehört zu den wichtigsten prozessualen Rechten der Beteiligten in allen Verfahren vor dem EPA. Aus dem in Artikel 113 (1) EPÜ verankerten Grundsatz, daß Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten, ergibt sich insbesondere, daß die Beteiligten nicht von einer Entscheidung überrascht werden dürfen. Im Rahmen des Prüfungsverfahrens wird das Recht auf rechtliches Gehör daher nicht nur dann verletzt, wenn die Gründe, auf denen eine Zurückweisungsentscheidung gestützt wird, dem Anmelder nicht vorher mitgeteilt wurden, sondern auch dann, wenn der Anmelder zu dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung überhaupt nicht mit einer solchen rechnen konnte (ebenso T 1022/98 vom 10. November 1999, Punkt 1; T 892/92, ABl. EPA 1994, 664, Punkt 2.1; T 922/02 vom 10. März 2004, Punkt 4).

2. Im vorliegenden Fall hat die Prüfungsabteilung in ihrem Erstbescheid ausdrücklich darauf hingewiesen, wie sie zu verfahren beabsichtigt, wenn nach der Antwort der Anmelderin noch keine Patenterteilung möglich sein sollte: Unter Abkehr von ihrer bisherigen Praxis würde sie dann im Regelfall "als zweite und finale Aktion" zur mündlichen Verhandlung laden.

3. Aufgrund dieses überaus deutlichen Hinweises mußte die Anmelderin davon ausgehen, daß eine Zurückweisungsentscheidung noch nicht unmittelbar bevorstand, sondern daß dann, wenn es ihr nicht gelingen sollte, in Antwort auf den Erstbescheid die Einwände der Prüfungsabteilung sofort vollständig auszuräumen, eine mündliche Verhandlung stattfinden würde. Da sich die Befugnis der Prüfungsabteilung, eine mündliche Verhandlung von Amts wegen anzuberaumen, unmittelbar aus Artikel 116 (1) EPÜ ergibt und der Erstbescheid ferner in keiner Weise zu erkennen gab, daß die angekündigte Verfahrensweise möglicherweise von der Stellung eines Antrags auf mündliche Verhandlung abhängig sein sollte, konnte die Anmelderin mit Sicherheit davon ausgehen, daß sie - über ihre Antwort auf den Erstbescheid hinaus - noch eine weitere Chance erhalten würde, Argumente vorzutragen und in sonstiger Weise auf die Einwände der Prüfungsabteilung zu reagieren.

4. Dadurch daß die Prüfungsabteilung von ihrer angekündigten Vorgehensweise Abstand nahm und nach Eingang der Antwort der Anmelderin die Anmeldung ohne weitere Warnung unmittelbar zurückwies, hat sie eine Überraschungsentscheidung getroffen und das Gebot des rechtlichen Gehörs verletzt. Dies stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler dar. Die Feststellung eines solchen Verfahrensfehlers ist grundsätzlich unabhängig davon, ob er von der Anmelderin in ihrer Beschwerdebegründung explizit geltend gemacht worden ist oder nicht.

5. Bei Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers hat die Kammer gemäß Artikel 10 VerfOBK i.V. mit Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ der Beschwerde stattzugeben und die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen, sofern nicht besondere Gründe gegen die Zurückverweisung sprechen. Derartige besondere Gründe sind hier nicht ersichtlich. Im übrigen hat die Anmelderin selbst die Zurückverweisung beantragt.

6. Nach Regel 67 EPÜ ist die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen, wenn der Beschwerde stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Diese Voraussetzungen sind grundsätzlich als erfüllt anzusehen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers aufhebt und die Angelegenheit an die erste Instanz zurückverweist.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Prüfung zurückverwiesen.

3. Dem Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird stattgegeben.

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