T 0234/02 () of 4.3.2004

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2004:T023402.20040304
Datum der Entscheidung: 04 März 2004
Aktenzeichen: T 0234/02
Anmeldenummer: 92118088.1
IPC-Klasse: F25J 3/04
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Anlage zur Tieftemperaturzerlegung von Luft
Name des Anmelders: Linde Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: L'AIR LIQUIDE, Société Anonyme pour l'étude et l'exploitaton
des procédés Georges Claude
Kammer: 3.2.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag und erster Hilfsantrag (nein) - zweiter Hilfsantrag (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 7. Dezember 2001, zur Post gegeben am 27. Dezember 2001, das Europäische Patent Nr. 0 538 857 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit im Hinblick auf die Druckschriften

D1: JP-A-61-31872 mit Englischer Übersetzung

D16: E. Schoenpflug et al., "Recent Advances in Air Separation Technology", Cryogenics 1990, Band 30, September Supplement, Seiten 17 und 20 bis 22

zu widerrufen.

II. Das Streitpatent war nach Zurückverweisung, mit der früheren Entscheidung T 0602/98 der Kammer (in anderer Besetzung), an die Prüfungsabteilung mit den folgenden unabhängigen Ansprüchen erteilt worden:

"1. Anlage zur Tieftemperaturzerlegung von Luft, mit einer Rektifiziersäule (2), die mit einer Luftleitung (3) zur Zufuhr von Zerlegungsluft, mit einer Stickstoffleitung (14) zum Abzug einer Stickstofffraktion und mit einer Sauerstoffleitung (10) zum Abzug einer Sauerstofffraktion verbunden ist, sowie mit einem Flüssigtank (1), der über eine erste Speiseleitung (11) mit der Rektifiziersäule (2) verbunden ist, wobei der Flüssigtank (1) und die Rektifiziersäule (2) im Inneren eines gemeinsamen Vakuumbehälters (5) angeordnet sind, dadurch gekennzeichnet, dass die Rektifiziersäule (2) Packungen oder Füllkörper enthält."

"11. Verfahren zur Tieftemperaturzerlegung von Luft, bei dem Zerlegungsluft (3) einer Rektifiziersäule (2) zugeführt und eine Stickstofffraktion (14) und eine Sauerstofffraktion (10) aus der Rektifiziersäule (2) abgezogen werden und bei dem der Rektifikation Kälte in Form eines verflüssigten Luftgases aus einem vakuumisolierten Flüssigtank (1) zugeführt wird, wobei der Flüssigtank (1) und die Rektifiziersäule (2) im Inneren eines gemeinsamen Vakuumbehälters (5) angeordnet sind, dadurch gekennzeichnet, dass der Stoffaustausch in der Rektifiziersäule (2) mindestens teilweise durch Packungen und/oder Füllkörper bewirkt wird."

III. Der Einspruch war auf die Gründe der mangelnden erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 100 a) EPÜ und der unzulässigen Erweiterung nach Artikel 100 c) EPÜ gestützt. Die Einspruchsabteilung hat den Widerruf des Patents im wesentlichen damit begründet, daß es ausgehend von der D1 durch die D16 nahegelegt sei, zur Verbesserung der Flexibilität im Hinblick auf schwankende Betriebsbedingungen einen Austausch von Siebböden durch Packungen in der Rektifiziersäule vorzunehmen.

IV. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hat die Beschwerde am 28. Februar 2002 eingelegt und die Beschwerdegebühr am gleichen Tag bezahlt. Mit der am 2. Mai 2002 eingegangenen Beschwerdebegründung hat sie eine geänderte Beschreibungsseite 2 für einen ersten Hilfsantrag und einen Satz neuer Ansprüche 1 bis 15 zusammen mit geänderten Beschreibungsseiten 2 bis 4 für einen zweiten Hilfsantrag eingereicht.

Mit Bescheid vom 12. März 2003 hat die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung der Sachlage zur Kenntnis gebracht und zum Stand der Technik noch auf die Seiten 245 und 246 von Hausen/Linde, Tieftemperaturtechnik, zweite Auflage 1985, sowie die folgenden, bereits im erstinstanzlichen Verfahren genannten Druckschriften verwiesen:

D4: US-A-5 058 387

D8: EP-A-0 144 430

D9: JP-A-62-158975 mit Englischer Übersetzung der Ansprüche und der Kurzbeschreibung der Figuren

D10: JP-A-62-158976, ebenfalls mit Englischer Übersetzung der Ansprüche und der Kurzbeschreibung der Figuren.

Am 1. April 2004 hat die Beschwerdeführerin eine Kopie der Seiten 479 bis 482 des obengenannten Lehrbuchs "Tieftemperaturtechnik" und neue geänderte Beschreibungsseiten 2 bis 5 (Spalten 1 bis 8) eingereicht.

In einer mündlichen Verhandlung, die am 4. März 2004 stattfand, reichte die Beschwerdeführerin als zweiten Hilfsantrag einen geänderten Anspruchssatz ein, dessen unabhängige Ansprüche 1 und 10 den folgenden Wortlaut haben:

"1. Anlage zur Tieftemperaturzerlegung von Luft, mit einer Rektifiziersäule (2), die mit einer Luftleitung (3) zur Zufuhr von Zerlegungsluft, mit einer Stickstoffleitung (14) zum Abzug einer Stickstofffraktion und mit einer Sauerstoffleitung (10) zum Abzug einer Sauerstofffraktion verbunden ist, sowie mit einem Flüssigtank (1), der über eine erste Speiseleitung (11) mit der Rektifiziersäule (2) verbunden ist, wobei der Flüssigtank (1) und die Rektifiziersäule (2) im Inneren eines gemeinsamen Vakuumbehälters (5) angeordnet sind, der Flüssigtank (1) als Stickstofftank ausgebildet ist oder ein zusätzlicher Stickstofftank vorhanden ist und die erste Speiseleitung (11) beziehungsweise eine mit dem zusätzlichen Stickstofftank verbundene Speiseleitung mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule (2) verbunden ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Rektifiziersäule (2) Packungen oder Füllkörper enthält und dass die Vorrichtung Steuerungsmittel zum Einspeisen flüssigen Stickstoffs über die Speiseleitung, die mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule verbunden ist, unmittelbar in die Rektifiziersäule (2) beim Anfahren nach einer Betriebsunterbrechung aufweist."

"10. Verfahren zur Tieftemperaturzerlegung von Luft, bei dem Zerlegungsluft (3) einer Rektifiziersäule (2) zugeführt und eine Stickstofffraktion (14) und eine Sauerstofffraktion (10) aus der Rektifiziersäule (2) abgezogen werden und bei dem der Rektifikation Kälte in Form eines verflüssigten Luftgases aus einem vakuumisolierten Flüssigtank (1) zugeführt wird, wobei der Flüssigtank (1) und die Rektifiziersäule (2) im Inneren eines gemeinsamen Vakuumbehälters (5) angeordnet sind, der Flüssigtank (1) als Stickstofftank ausgebildet ist und der Flüssigtank (1) oder ein zusätzlicher Stickstofftank über eine Speiseleitung (11) mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule (2) verbunden ist, dadurch gekennzeichnet, dass der Stoffaustausch in der Rektifiziersäule (2) mindestens teilweise durch Packungen und/oder Füllkörper bewirkt wird und dass beim Anfahren nach einer Betriebsunterbrechung flüssiger Stickstoff über die Speiseleitung (11) unmittelbar in die Rektifiziersäule (2) eingeführt wird."

V. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt (Hauptantrag) oder hilfsweise auf der Grundlage entweder des am 2. Mai 2002 eingereichten ersten Hilfsantrags oder des während der mündlichen Verhandlung eingereichten zweiten Hilfsantrags.

Die Beschwerdegegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde.

VI. Zur Begründung ihrer Anträge stützt sich die Beschwerdeführerin im wesentlichen auf die folgenden Argumente:

Hauptantrag:

Ausgangspunkt für die Frage der erfinderischen Tätigkeit sei die auch in der Patentschrift diskutierte Druckschrift D1, die eine einfache Einsäulen-Anlage zur Stickstofferzeugung zeige. Da derartige Anlagen üblicherweise nicht in unterschiedlichen Lastbereichen betrieben und Bedarfsschwankungen durch Zuspeisung flüssigen Stickstoffs aus dem Tank ausgeglichen würden, könne von den im Absatz 0006 der Patentschrift genannten Vorteilen der Packung nur das schnellere Anfahren nach Betriebsunterbrechungen als Grundlage für die objektive Aufgabenstellung in Frage kommen. Beim Anfahren seien Packungen oder Füllkörper insofern vorteilhaft, als diese auf der gesamten Höhe der Säule benetzt würden, wenn Rücklaufflüssigkeit von oben aufgegeben werde, und so im Unterschied zu Böden zum Stoffaustausch beitrügen, weshalb unmittelbar nach dem Einblasen von Luft in die Säule reines Produkt am Kopf der Säule zur Verfügung stehe. Im Stand der Technik finde sich kein Hinweis darauf, die Zeitdauer des Wiederanfahrens einer vakuumisolierten Einzelsäule gemäß D1 durch den Einsatz von Packungen oder Füllkörpern zu verkürzen. Insbesondere seien in der D16 nur Vorteile der Packungen für den Betrieb in einem weiten Lastbereich für große Zweisäulen-Anlagen erwähnt, was für die D1 nicht relevant sei, so daß der Fachmann diese Druckschrift nicht in Betracht zöge. Der weitere Hinweis in der D16 auf die schnellere Reaktionsmöglichkeit einer Anlage mit Packungen auf Bedarfsänderungen sei nur im Zusammenhang mit diesem großen Lastbereich zu sehen. Hierbei gehe es um die Anpassung des Konzentrationsprofils über die Säule bei großen Laständerungen, während in der Anlage der D1 bei Lastschwankungen nur der Kältebedarf angepaßt werden solle.

Erster Hilfsantrag:

Durch die Streichung der Beschreibungsteile, die sich auf Vorteile der Packungen bei schwankenden Betriebsbedingungen bezögen, sei klargestellt, daß sich die Erfindung auf das Anfahren der Anlage beziehe.

Zweiter Hilfsantrag:

Eine Offenbarung für die Steuerung der Einspeisung des flüssigen Stickstoffs aus dem Flüssigkeitstank oder dem zusätzlichen Stickstofftank in den oberen Bereich der Säule beim Anfahren ergebe sich aus Spalte 3 oben des Streitpatents bzw. dem entsprechenden Text der ursprünglichen Anmeldung im Kontext mit den ursprünglichen Ansprüchen 1 bzw. 12 und 6. Für die Bereitstellung der Rücklaufflüssigkeit müsse die Einspeisung nicht unbedingt durch die erste Speiseleitung, sondern nur durch eine mit dem oberen Bereich der Säule verbundene Speiseleitung erfolgen. Damit kann insbesondere dann, wenn der in jedem Fall vorhandene Flüssigtank nicht als Stickstofftank ausgebildet ist und der Stickstoff aus einem zusätzlichen Tank eingespeist wird, zusätzlich zur ersten Speiseleitung eine weitere Speiseleitung vorhanden sein. Die Existenz von Steuerungsmitteln ergebe sich implizit aus der beschriebenen Steuerung der Einspeisung.

Abgesehen von der schnelleren Anfahrmöglichkeit wegen der Vorkühlung der Säule sei über den Anfahrvorgang selbst in der D1 nichts ausgesagt. Das dort gezeigte Ventil in der Speiseleitung diene offensichtlich nur zur Steuerung im stationären Betrieb und sei nicht für eine Einspeisung beim Anfahren ausgebildet. Eine Einspeisung von flüssigem Stickstoff bereits beim Anfahren sei bei der D1 auch sinnlos, da dieser entweder durch die Säule hindurchregne oder von der Gasströmung auf dem obersten Boden gehalten werde, und nicht notwendig, da der Kältebedarf durch die im Sumpf und im Kopfkondensator vorhandene Flüssigkeit gedeckt werde. Diese Einspeisung sei nur bei Verwendung von Packungen vorteilhaft, da diese über die Höhe der Säule benetzt würden und somit von Beginn an für den Stoffaustausch mit der in der Säule nach oben strömenden Luft zur Verfügung ständen.

VII. Die wesentlichen Gegenargumente der Beschwerdegegnerin können folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Hauptantrag und erster Hilfsantrag:

Am Prioritätstag des Streitpatents war der Einsatz von Packungen bei Luftzerlegungsanlagen bereits bekannt. Hinsichtlich der im Streitpatent genannten Vorteile dieses Einsatzes sei aus der D16 entnehmbar, daß Rektifiziersäulen mit Packungen gegenüber solchen mit Böden über einen größeren Lastbereich betrieben werden und wegen des geringeren Flüssigkeitsinventars Lastschwankungen schneller folgen könnten. Beide Aspekte träfen auch auf den Einsäulen-Apparat der D1 zu, wobei die schnelle Anpassung an Lastschwankungen dort explizit erwähnt sei. Der Fachmann erhalte damit von der D16 den Hinweis, bei der D1 Packungen einzusetzen, um eine Verbesserung hinsichtlich beider Aspekte zu erreichen. Dabei sei es irrelevant, ob die D16 und die D1 unterschiedliche Anlagentypen betreffen oder nicht, da das Patent auf jeden Fall beide Anlagentypen abdecke. Es sei auch zu berücksichtigen, daß beim Streitpatent zusätzliche Böden nicht ausgeschlossen seien, sodaß die möglichen Vorteile auch nicht uneingeschränkt erreicht würden.

Zweiter Hilfsantrag:

Es sei nicht klar, wieviele Speiseleitungen vorhanden seien und in welcher dieser Speiseleitungen die Steuerungsmittel angeordnet sein sollen. Mehr als eine Speiseleitung und ein darin vorhandenes Ventil (20) für den stationären Betrieb seien der ursprünglichen Anmeldung nicht entnehmbar. Durch die Einführung der Einspeisung des flüssigen Stickstoffs aus dem zusätzlichen Tank als Alternative zur Einspeisung aus dem Flüssigtank sei letztere auch nur noch fakultativ, was den Schutzbereich erweitere.

Die Einspeisung von flüssigem Stickstoff beim Anfahren ergebe sich bei der Anlage der D1 automatisch, da diese Einspeisung im Betrieb erfolge und damit auch irgendwann beim Anfahren begonnen werden müsse. Ferner sei der flüssige Stickstoff die einzige Kältequelle und müsse damit zum Erreichen des Betriebszustands eingespeist werden. Damit würde der Fachmann dem in der Speiseleitung der D1 gezeigten Ventil die gleiche Funktion wie den Steuerungsmitteln beim Streitpatent zuschreiben. Der Gegenstand des zweiten Hilfsantrags würde sich damit von der D1 ebenso wie der Hauptantrag nur durch die Verwendung von Packungen unterscheiden und aus den gleichen Gründen nicht erfinderisch sein. Ferner würde der Fachmann bei dem naheliegenden Einsatz von Packungen in der Anlage der D1 auch die Vorteile der Einspeisung von flüssigem Stickstoff bereits beim Anfahren erkennen und das Ventil in der Speiseleitung entsprechend ausbilden.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Bestimmungen der Artikel 106 bis 108 EPÜ und der Regeln 1 (1) und 64 EPÜ und ist damit zulässig.

2. Hauptantrag

2.1. Beim dem auf die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung gerichteten Hauptantrag der Beschwerdeführerin ist nur noch über die Frage der erfinderischen Tätigkeit zu entscheiden, da die Kammer bereits in der früheren Entscheidung T 0602/98 (siehe Punkt 2 der Begründung) festgestellt hatte, daß der Gegenstand der erteilten Ansprüche nicht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgeht. Weitere Einwände gegen den Hauptantrag zum Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) hat die Beschwerdegegnerin auch nicht vorgebracht.

2.2. Es ist unstrittig, daß die Druckschrift D1 nach wie vor den nächstkommenden Stand der Technik darstellt und wie in der angefochtenen Entscheidung dargelegt eine Anlage mit den im Oberbegriff des Anspruchs 1 enthaltenen Merkmalen bzw. ein Verfahren nach dem Oberbegriff des Anspruchs 11 beschreibt. Es ist nicht ausdrücklich erwähnt, welche Einbauten in der Säule zur Rektifikation vorgesehen sind; allerdings sind in den Figuren 1 und 2 in üblicher Weise Rektifizierböden angedeutet. Beim Gegenstand des Streitpatents nach dem Hauptantrag sind dagegen in der Rektifiziersäule Packungen oder Füllkörper vorgesehen. Nach Absatz 0006 des Patents ergeben sich hieraus Vorteile hinsichtlich einer Verminderung der Zeitdauer des Wiederanfahrens der Anlage (Vorteil I) und einer höheren Flexibilität gegenüber schwankenden Betriebsbedingungen (Vorteil II). Zur Frage der erfinderischen Tätigkeit kommt es damit darauf an, ob es im Hinblick auf diese Vorteile naheliegend war, in der Rektifiziersäule der D1 Packungen oder Füllkörper anstelle der bekannten Rektifizierböden einzusetzen.

2.3. Die Beschwerdeführerin macht hierzu geltend, daß die objektive Aufgabenstellung nur in einem schnelleren Anfahren der Anlage nach Betriebsunterbrechungen gesehen werden könne, da eine einfache Einsäulen-Anlage wie bei der D1 üblicherweise nicht in unterschiedlichen Lastbereichen betrieben und Bedarfsschwankungen durch Zuspeisung flüssigen Stickstoffs aus dem Tank ausgeglichen würden. Zu diesem Argument wurde bereits in der angefochtenen Entscheidung dahingehend Stellung genommen, daß auch in der D1 ausdrücklich eine Steigerung der Flexibilität gegenüber schwankenden Betriebsbedingungen als wünschenswert dargestellt ist und daher als Aufgabe angesehen werden kann.

Hieran ist nichts auszusetzen. Im Kapitel "Advantageous Effects of the Invention" auf Seite 8, rechte Spalte, und Seite 9, linke Spalte der Englischen Übersetzung von D1 ist der Vorteil der Anlage nach D1 beschrieben, bei Laständerungen schneller und genauer reagieren zu können. Wenn sich dieser Vorteil auch auf die den Ersatz einer Expansionsturbine zur Kälteerzeugung durch die Einspeisung von flüssigem Stickstoff als Kältequelle bezieht, so folgt doch hieraus eindeutig, daß auch die Anlage der D1 bei schwankender Last betrieben werden soll und zur Aufrechterhaltung der Produktreinheit schnell auf diese Laständerungen reagieren muß. Damit kann dieser Aspekt der Flexibilität gegenüber schwankenden Betriebsbedingungen (Vorteil II) zur Festlegung der objektiven Aufgabe unabhängig davon herangezogen werden, ob auch die weiteren im Patent geschilderten Vorteile wie ein schnelleres Anfahren (Vorteil I) oder ein Betrieb in einem größeren Lastbereich (ein weiterer Aspekt des Vorteils II) auf die Anlage der D1 anwendbar sind.

2.4. Zur Lösung der gestellten Aufgabe wurde in der angefochtenen Entscheidung auf die Seite 21, Zeilen 1 bis 4, der D16 hingewiesen, woraus der Fachmann entnehmen könne, daß auf Grund des geringeren Flüssigkeitsinhaltes der Packungen die Flexibilität der Anlage gegenüber schwankenden Betriebsbedingungen erhöht werden kann. Nach Ansicht der Kammer ist die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung überzeugend, daß dieser Hinweis den Fachmann dazu anregen wird, auch bei der Anlage der D1 Packungen vorzusehen, um eine schnellere Reaktion auf Laständerungen zu erreichen. Der Hinweis in der D16 ist nämlich nicht, wie die Beschwerdeführerin argumentiert, allein für große Zwei-Säulen- Anlagen, auf die sich D16 bezieht, und nur im Zusammenhang mit dem auf Seite 20 unten geschilderten Betrieb in einem großen Lastbereich zu sehen. Vielmehr läßt in der D16 die Formulierung "another factor of considerable importance" auf Seite 21 oben erkennen, daß dieser Effekt unabhängig von den vorher geschilderten Effekten zu sehen ist, und die sich auf den geringen Flüssigkeitsinhalt einer Packungssäule beziehende Begründung trifft offensichtlich ebenso auf kleine Einsäulen- Anlagen wie auf größere Zweisäulen-Anlagen zu. Da in beiden Fällen vergleichbare Stoffaustauschprozesse in der Säule bzw. den Säulen stattfinden, wird auch in beiden Fällen ein geringerer Flüssigkeitsinhalt zu einer schnelleren Anpassung an die einer neuen Last entsprechenden Stoffströme in der Säule, mit dem entsprechenden Kältebedarf, führen. Auf weitere Überlegungen hinsichtlich der Konzentrationsprofile in der Säule bzw. den Säulen kommt es daher nicht an.

2.5. Der Gegenstand der Ansprüche 1 und 11 nach dem Hauptantrag ergibt sich damit in naheliegender Weise aus den Druckschriften D1 und D16, sodaß es an der erforderlichen erfinderischen Tätigkeit fehlt.

3. Erster Hilfsantrag

Der erste Hilfsantrag unterscheidet sich vom Hauptantrag nur bezüglich der Beschreibung, in der die Vorteile des Einsatzes von Packungen bezüglich der Flexibilität gegenüber schwankenden Betriebsbedingungen gestrichen sind. Diese Änderung hat jedoch keine Auswirkungen auf den Gegenstand des Patents, da die Ansprüche unverändert sind und es für die objektive Aufgabenstellung nur auf die tatsächlichen Unterschiede des beanspruchten Gegenstands vom Stand der Technik und die damit verbundenen Wirkungen, die nicht unbedingt im Patent beschrieben sein müssen, ankommt. Der erste Hilfsantrag ist damit aus den gleichen Gründen wie der Hauptantrag nicht gewährbar.

4. Zweiter Hilfsantrag

4.1. Im unabhängigen Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags ist gegenüber dem Anspruch 1 des Hauptantrags zusätzlich enthalten, daß der Flüssigtank als Stickstofftank ausgebildet ist oder ein zusätzlicher Stickstofftank vorhanden ist, die erste Speiseleitung beziehungsweise eine mit dem zusätzlichen Stickstofftank verbundene Speiseleitung mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule verbunden ist, und Steuerungsmittel zum Einspeisen flüssigen Stickstoffs über die Speiseleitung, die mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule verbunden ist, unmittelbar in die Rektifiziersäule beim Anfahren nach einer Betriebsunterbrechung vorgesehen sind. Die Einspeisung erfolgt also mittels der Steuerung über die erste Speiseleitung, wenn der Flüssigtank als Stickstofftank ausgebildet ist, oder im Falle eines zusätzlichen Stickstofftanks über eine an diesen angeschlossene weitere Speiseleitung unmittelbar in den oberen Bereich der Rektifiziersäule beim Anfahren der Säule. Auch der unabhängige Verfahrensanspruch 10 des zweiten Hilfsantrags ist entsprechend eingeschränkt mit dem einzigen Unterschied, daß dort der Flüssigtank in jedem Fall als Stickstofftank ausgebildet sein soll.

4.2. Die Beschwerdegegnerin hat die neuen Ansprüche als nicht klar und gegen Artikel 123 (2) und (3) verstoßend beanstandet. Im einzelnen argumentiert sie, daß es nicht klar sei, wie viele Speiseleitungen vorhanden seien und in welcher dieser Speiseleitungen die Steuerungsmittel angeordnet sein sollen. Ferner seien mehr als eine Speiseleitung und ein darin vorhandenes Ventil (20) für den stationären Betrieb der ursprünglichen Anmeldung nicht entnehmbar. Schließlich sei durch die Einführung der Einspeisung des flüssigen Stickstoffs aus dem zusätzlichen Tank als Alternative zur Einspeisung aus dem Flüssigtank letztere auch nur noch fakultativ, was den Schutzbereich erweitere.

Diese Einwände sind nicht überzeugend. Nach Anspruch 1 sind die Steuerungsmittel in derjenigen Steigleitung vorgesehen, die den Flüssigtank oder den zusätzlichen Stickstofftank mit dem oberen Bereich der Rektifiziersäule verbindet. Dies schließt eine weitere Verbindung des Flüssigtanks mit der Rektifiziersäule über die "erste" Steigleitung nicht aus, beispielsweise wenn die Rücklaufflüssigkeit nicht aus dem Flüssigtank, der beim Anspruch 1 auch ein Sauerstofftank sein kann, eingespeist werden soll.

Diese Möglichkeit ergibt sich auch aus der Darstellung der Einspeisung von Flüssigsauerstoff beim Anfahren im letzten Absatz der Seite 3 der ursprünglichen Beschreibung (entsprechend dem Absatz 0015 des Streitpatents): im Falle des dort angesprochenen zusätzlichen Stickstofftanks wird der flüssige Stickstoff über eine Speiseleitung unmittelbar in die Säule eingespeist, wobei die im ursprünglichen Anspruch 1 enthaltene erste Speiseleitung zur Verbindung des Flüssigtanks mit der Rektifiziersäule nach wie vor vorhanden ist. Da der eingespeiste Stickstoff als Rücklaufflüssigkeit dienen soll, muss er in den oberen Bereich der Säule eingespeist werden, wie es für den Fall der Einspeisung aus dem Flüssigtank im ursprünglichen Anspruch 6 enthalten ist. Die in der ursprünglichen Beschreibung nicht explizit genannten Steuerungsmittel ergeben sich zwangsläufig aus der beschriebenen Einspeisung des Flüssigstickstoffs beim Anfahren.

Eine Erweiterung des Schutzbereichs liegt schon deshalb nicht vor, weil die erteilten Ansprüche 1 und 10 nicht auf eine Einspeisung des flüssigen Stickstoffs in die Säule über die erste Steigleitung beschränkt waren. Vielmehr war im erteilten Anspruch 1 nur von eine Verbindung des Flüssigtanks mit der Rektifiziersäule über die erste Steigleitung und im erteilten Anspruch 11 nur von einer Zufuhr eines verflüssigten Luftgases aus dem Flüssigtank in die Säule die Rede, was in den Ansprüchen 1 bzw. 10 des zweiten Hilfsantrags weiterhin der Fall ist. Die Alternative im Oberbegriff der Ansprüche 1 und 10 bezieht sich aber lediglich darauf, ob der beim Anfahren eingespeiste flüssige Stickstoff aus dem in jedem Fall vorhandenen Flüssigtank oder aus einem zusätzlichen Tank entnommen wird.

Damit bestehen gegen die neuen Ansprüche 1 und 10 des zweiten Hilfsantrags keine Bedenken im Hinblick auf die Bestimmungen der Artikel 84, 123 (2) und 123 (3) EPÜ. Dies trifft auch für die abhängigen Ansprüche 2 bis 9 und 11 bis 15 zu, die den erteilten Ansprüchen 2 bis 4 und 6 bis 10 bzw. 12 bis 16 entsprechen.

4.3. Beim zweiten Hilfsantrag liegen die Unterschiede zum Stand der Technik nach der D1 nicht nur im Einsatz von Packungen oder Füllkörpern in der Rektifiziersäule, sondern auch in der Einspeisung von flüssigem Stickstoff unmittelbar in die Rektifiziersäule beim Anfahren nach einer Betriebsunterbrechung. Der Vorrichtungsanspruch 1 enthält dieses weitere Merkmal nicht nur in Form eines möglichen Betriebs der Steuerungsmittel, sondern ist über die funktionelle Definition der Steuerungsmittel auf deren entsprechende Ausbildung beschränkt.

Die Beschwerdeführerin hat glaubhaft vorgetragen, daß beide Unterschiedsmerkmale beim Anfahren der Anlage insofern zusammenwirken, als die Packungen über die Höhe der Säule mit dem eingespeisten Stickstoff benetzt werden und somit von Beginn an für den Stoffaustausch mit der aufströmenden Luft zur Verfügung stehen, was die Zeitdauer des Anfahrens bedeutend verkürzt. Die Beschwerdegegnerin hat diesen Vorteil in Zweifel gezogen, da die Ansprüche 1 und 10 nicht auf einen ausschließlichen Einsatz von Packungen in der Säule beschränkt seien. Dieser Einwand greift aber nicht durch, da der Vorteil der Benetzung der Packungen auch schon dann zumindest teilweise vorliegt, wenn neben Packungen noch konventionelle Rektifizierböden vorhanden sind.

4.4. Daß auch bei der Anlage der D1 eine verkürzte Anfahrphase erstrebenswert ist, ergibt sich aus Seite 9 der Englischen Übersetzung, erster Absatz der rechten Spalte. Allerdings ist dort die verkürzte Anfahrphase nur im Zusammenhang mit der Vorkühlung der Rektifiziersäule durch die gemeinsame Unterbringung mit dem Flüssigstickstofftank im Vakuumbehälter und nicht mit einer Flüssigeinspeisung von Stickstoff in die Säule beim Anfahren angesprochen. In den ebenfalls eine Anlage mit Flüssigstickstofftank betreffenden Druckschriften D4 und D8 bis D10 ist nur ein stationärer Betrieb der Anlage beispielsweise durch Steuerung der Einspeisung des Flüssigstickstoffs in die Säule in Abhängigkeit vom Flüssigkeitsstand im Kopfkondensator beschrieben. Weiterer relevanter Stand der Technik ist nicht im Verfahren. Damit ist nur noch zu prüfen, ob es für den Fachmann naheliegende Gründe dafür gab, eine Anlage gemäß der D1 nach einer Betriebsunterbrechung unter Einspeisung von flüssigem Stickstoff in den oberen Bereich der Säule anzufahren.

4.5. Die Beschwerdegegnerin argumentiert, daß sich die Einspeisung von flüssigem Stickstoff beim Anfahren bei der Anlage der D1 automatisch ergebe, da diese Einspeisung im Betrieb erfolge und damit auch irgendwann beim Anfahren begonnen werden müsse. Ferner sei der flüssige Stickstoff die einzige Kältequelle und müsse damit zum Erreichen des Betriebszustands eingespeist werden, was mittels des in der Speiseleitung der D1 gezeigten Ventils erfolgen könne und daher keine Änderung der Anlage erfordere.

Diese Argumente können jedoch nicht überzeugen. Beim Anfahren nach einer Betriebsunterbrechung befindet sich noch sauerstoffreiche Flüssigkeit im Sumpf der Säule und im Kopfkondensator, sodaß aus Gründen der Kälteversorgung eine Einspeisung von flüssigem Sauerstoff beim Anfahren nicht notwendig ist. Eine solche Einspeisung würde aber auch bei einer Ausrüstung des Säule mit Rektifizierböden wie bei der D1 keinen günstigen Einfluß auf das Anfahren haben, da beim Einspeisen vor der Beaufschlagung der Säule mit Luft der flüssige Stickstoff durch die Öffnungen in den üblicherweise verwendeten Siebböden nach unten bis in den Sumpf durchregnen würde und beim Einspeisen während der Beaufschlagung mit Luft der flüssige Stickstoff von der Luftströmung auf den obersten Böden gehalten wird und nur langsam nach unten wandern kann. Der Fachmann hat daher keinen Anlaß, bereits beim Anfahren der Anlage der D1 den flüssigen Stickstoff als Rücklaufflüssigkeit einzuspeisen. Vielmehr wird er diese Anlage in üblicher Weise anfahren, wobei ein kondensierter Anteil des Kopfgases als Rücklaufflüssigkeit verwendet wird und nach dem Anfahren zusätzlich flüssiger Stickstoff aus dem Flüssigkeitstank zum Kompensation von Kälteverlusten eingespeist wird, und eine entsprechende Steuerung des Ventils in der Speiseleitung im stationären Betrieb vorsehen.

Ein weiteres Argument der Beschwerdegegnerin zielt darauf ab, daß der Fachmann die Einspeisung von flüssigem Stickstoff beim Anfahren zwar nicht bei einer Säule mit Rektifizierböden, aber bei der als naheliegend angesehenen (siehe Hauptantrag) Säule mit Packungen als vorteilhaft erkennt und damit einsetzen wird. Dieses Argument verkennt aber, daß der Einsatz von Packungen in der Anlage der D1 wegen der schnelleren Anpassung an Laständerungen aufgrund des geringeren Flüssigkeitsinhalts des Säule als naheliegend angesehen wurde, während sich der Vorteil des Einspeisens von flüssigem Stickstoff beim Anfahren auf den Benetzungseffekt der Packungen und damit einen völlig anderen Effekt gründet. Ohne Kenntnis dieses Effekts kann der Fachmann auch keinen Vorteil der Einspeisung von Flüssigstickstoff beim Anfahren erwarten. Ein Hinweis auf diesen Effekt findet sich aber im verfügbaren Stand der Technik nicht.

4.6. Im Ergebnis kann der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche 1 und 10 nach dem zweiten Hilfsantrag nicht als naheliegend angesehen werden, sodaß der Einspruchsgrund der erfinderischen Tätigkeit der Aufrechterhaltung des Patents auf dieser Grundlage nicht entgegensteht.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent in geändertem Umfang mit den folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:

Ansprüche:

1. bis 15, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 4. März 2004

Beschreibung:

Spalten 1 bis 8, eingereicht am 1. April 2003

Figuren:

1. bis 3, wie erteilt

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