T 1159/01 () of 7.6.2004

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2004:T115901.20040607
Datum der Entscheidung: 07 Juni 2004
Aktenzeichen: T 1159/01
Anmeldenummer: 90810706.3
IPC-Klasse: D01G 9/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren und Vorrichtung zur Feinreinigung von Textilfasern
Name des Anmelders: MASCHINENFABRIK RIETER AG
Name des Einsprechenden: TRÜTZSCHLER GmbH & Co. KG Textilmaschinenfabrik
Kammer: 3.2.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 52(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 102(1)
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
European Patent Convention 1973 Art 123(3)
Schlagwörter: Zulässigkeit der Änderungen - ja
Zulassung verspätet eingereichten Standes der Technik - ja
Neuheit - nein
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die am 18. September 1990 unter Inanspruchnahme von vier schweizerischen Prioritäten vom 21. September 1989, 29. August 1990 und 13. September 1990 (zwei Anmeldungen) eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 90 810 706.3 wurde das europäische Patent Nr. 419 415 erteilt.

II. Gegen das erteilte Patent legte die Beschwerdeführerin (Einsprechende), gestützt auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) und c) EPÜ, Einspruch ein und beantragte den Widerruf des Patents.

III. Die Einspruchsabteilung wies den Einspruch mit ihrer am 1. Oktober 2001 zur Post gegebenen Entscheidung zurück.

Sie kam in ihrer Entscheidung zu dem Ergebnis, daß das erteilte Patent nicht unzulässig erweitert worden war und daß die Gegenstände der unabhängigen Ansprüche 1 und 16. sowohl das Erfordernis der Neuheit als auch das der erfinderischen Tätigkeit erfüllten.

IV. Die Beschwerdekammer hat in ihrem mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übersandten Bescheid vom 12. März 2004 mitgeteilt, daß sie die Beurteilung der Neuheit durch die Einspruchsabteilung für zutreffend halte und daß auch die neu eingereichten Entgegenhaltungen die Neuheit nicht in Frage stellen dürften.

Im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit werde zu diskutieren sein, welche Kenntnisse beim zuständigen Fachmann am Prioritätstag vorauszusetzen seien, wie er den einschlägigen Stand der Technik bewertete und ob er dadurch zu beanspruchten Lösung angeregt war.

V. Bis zum Termin der mündlichen Verhandlung machten die Parteien noch mehrere Eingaben, wobei die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 8. April 2004 u. a. folgendes, ihrer Meinung nach neuheitsschädliches Dokument einreichte:

E21: EP-A-0 399 315

VI. Am 7. Juni 2004 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der vom vorgelegten Stand der Technik nur E21 und

E15: EP-A-0 275 471 diskutiert wurden.

Der in der Verhandlung eingereichte unabhängige Anspruch 16 lautet wie folgt:

"16. Vorrichtung zum Feinreinigen von Textilfasern verschiedener Provenienzen zum Weitergeben an eine Karde in einer Spinnerei mit Mitteln, die aus den zugeführten Faserflocken eine Faserwatte erzeugen, und die ein Watteeinspeisemittel, eine Öffnungswalze (24) und im Zusammenhang mit der Öffnungswalze arbeitenden Auflösungs- und Trennmitteln mit mindestens einer verstellbaren Trennklinge (49.1, 49.2) umfassen, dadurch gekennzeichnet,

dass die Watteeinspeisemittel eine zwischen einer Speisewalze (32) und einer Speisemulde (34) gebildete Klemmstelle umfassen, so dass die Faserwatte zwischen der Speisewalze und der Speisemulde verdichtet und mit einer Klemmkraft in der Klemmstelle geklemmt werden kann, dass die Klemmstelle derart gegenüber der Öffnungswalze angeordnet ist, dass die Faserwatte an einer Faserübernahmestelle an der Öffnungswalze von der Öffnungswalze durch Zupfen verzogen und übernommen wird, wobei in der Transportrichtung auf dem Umfang der Öffnungswalze (24) auf die Übernahmestelle die Trennmittel folgen, und dass die Klemmstelle einstellbar ist, wobei die Distanz zwischen der Klemmstelle und der Faserübernahmestelle einstellbar in Abhängigkeit von den Charakteristika der Faserprovenienz gewählt wird, und dass die zwischen der Speisewalze und der Speisemulde ausgeübte Klemmkraft auch einstellbar ist."

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 419 415.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent auf Grundlage der Ansprüche 1 und 16, wie in der mündlichen Verhandlung überreicht, aufrechtzuerhalten.

VII. Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung der Gegenstand des Anspruchs 16 sei nicht neu gegenüber dem in E21 offenbarten Stand der Technik. Diese von ihr zufällig aufgefundene Druckschrift sei aus diesem Grund so relevant, daß sie zum Verfahren zugelassen werden müsse. Die Begriffe "Speisemulde" und "Speiseplatte" würden ebenso wie "Speisetisch" in Vorrichtungen für die Faserzuführung synonym verwendet, so daß der Fachmann hier keinen Unterschied sehe. Die Einstellung der Klemmkraft zwischen Speisewalze und Speisemulde werde bereits beim Einbau einer Feder mit einer bestimmten Federkonstante in die Maschine bewirkt und könne durch Austausch der Feder anders eingestellt werden.

VIII. Die Beschwerdegegnerin war der Meinung, sowohl das Verfahren nach Anspruch 1 als auch die Vorrichtung nach Anspruch 16 seien neu gegenüber E21.

Diesem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ seien die Merkmale des Anspruchs 1 nicht entnehmbar, sowohl die Distanz zwischen Klemmstelle und Faserübernahmestelle als auch die Klemmkraft zwischen Speisewalze und Speisemulde in Abhängigkeit von der Stapellänge und der Festigkeit der Fasern einzurichten.

In E21 sei die Klemmstelle zwischen einer Speisewalze einer Speiseplatte gebildet, während nach ihrem Patent die Klemmung zwischen einer Speisewalze und einer Speisemulde stattfinde. Hierin sei ein wesentlicher Unterschied zu sehen, da eine Platte eine ebene, eine Mulde dagegen eine gewölbte Fläche aufweise.

Außerdem sei in E21 nicht offenbart, daß die Faserwatte an der Übernahmestelle durch Zupfen verzogen werde.

Weiterhin sei das Merkmal in E21 nicht vorhanden, wonach die Klemmkraft zwischen Speisewalze und Speisemulde auch einstellbar sei, so daß die Neuheit jedenfalls vorhanden sei.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Zulässigkeit der Änderungen

2.1. Die Kammer hat keine Bedenken gegen die formale Zulässigkeit der geänderten Ansprüche 1 und 16, denn der neue Anspruch 1 wurde durch Zusammenfassung der erteilten Ansprüche 1 und 5 mit einer weiteren Einschränkung aus der Beschreibung gebildet (A1-Schrift: Spalte 6, Zeilen 34 bis 38; B-Schrift: Seite 5, Zeilen 25 bis 27). Der neue Anspruch 16 geht auf die erteilte Fassung zurück und enthält zusätzlich die Merkmale des erteilten Anspruchs 19 (Artikel 123 (2) und (3) EPÜ).

3. Zulassung der neuen Entgegenhaltung

Die Druckschrift E21 wurde von der Beschwerdeführerin erst mit der am 10. April 2004 eingegangenen Eingabe vom 8. April 2004 eingereicht. Es handelt sich um einen Stand der Technik gemäß Artikel 54 (3) EPÜ, der eine Patentanmeldung der Beschwerdegegnerin betrifft.

Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts sind an die Zulassung neuen Standes der Technik um so höhere Anforderungen zu stellen, je später er in das Verfahren gelangt. In diesem Fall liegt der Eingangstag des neuen Dokuments, etwa zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung. Prima facie erscheint die neue Entgegenhaltung wesentlich relevanter als das bisher im Verfahren befindliche Material, da sie die Neuheit der Gegenstände der unabhängigen erteilten Ansprüche in Frage stellt.

Normalerweise muß der Zeitraum von zwei Monaten genügen, damit sich eine Partei mit einem neu in das Verfahren eingebrachten Dokument auseinandersetzen kann. Das gilt im vorliegenden Fall umsomehr, da es sich um eine Patentanmeldung der Beschwerdeführerin selbst handelt und ihr daher bekannt war. Da die Kammer keine Anzeichen dafür sieht, daß die Einreichung in verfahrensmißbräuchlicher Weise so spät erfolgt ist, wird die Druckschrift E21 zum Verfahren zugelassen.

4. Neuheit

4.1. Die Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 steht außer Zweifel, denn E21 lehrt keine Abhängigkeit der Einstellung der Distanz zwischen Klemmstelle und Faserübernahmestelle und der Klemmkraft zwischen Speisewalze und Speisemulde von den beiden Charakteristika Stapellänge und Festigkeit der Fasern.

4.2. Jedoch kommt die Kammer entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin zu dem Ergebnis, daß die Vorrichtung nach Anspruch 16 durch E21 vorweggenommen ist.

Dieses Dokument zeigt und beschreibt (Figur 1; Spalte 4, Zeile 49 bis Spalte 5, Zeile 37) eine Vorrichtung zum Feinreinigen von Textilfasern (Feinreinigungsmaschine 6) verschiedener Provenienzen (Spalte 1, Zeilen 27 bis 41) zum Weitergeben an eine Karde 11 in einer Spinnerei mit Mitteln, die aus den zugeführten Faserflocken eine Faserwatte erzeugen, und die ein Watteeinspeisemittel, eine Öffnungswalze (Reinigungswalze 25) und im Zusammenhang mit der Öffnungswalze arbeitende Auflösungs- und Trennmittel mit mindestens einer verstellbaren Trennklinge (verstellbare 29 Reinigungselemente 28 wie z. B. Messer) umfassen. Die Watteeinspeisemittel enthalten eine Klemmstelle (Klemmlinie) zwischen der Speisewalze 26 und der Speisemulde (Speiseplatte 27), wo die Faserwatte verdichtet und mit einer Klemmkraft in der Klemmstelle geklemmt werden kann. Die Klemmstelle ist derart gegenüber der Öffnungswalze angeordnet, daß die Faserwatte an einer Faserübernahmestelle von der Öffnungswalze durch Zupfen verzogen und übernommen wird, wobei in der Transportrichtung auf dem Umfang der Öffnungswalze 25 auf die Übernahmestelle die Trennmittel 28 folgen. Die Klemmstelle ist verschiebbar, wobei die Distanz zwischen der Klemmstelle und der Faserübernahmestelle in Abhängigkeit von den Charakteristika der Faserprovenienz (z. B. Faserlänge) eingestellt wird. Die zwischen der Speisewalze und der Speisemulde ausgeübte Klemmkraft ist einstellbar.

4.3. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin seien folgende Merkmale in E21 nicht vorhanden:

- Verziehen durch Zupfen;

- Speisemulde;

- Klemmkraft einstellbar

4.3.1. Die Aussage der Beschreibung gemäß E21 richtet sich an den auf dem einschlägigen Fachgebiet tätigen Fachmann, der ihren Inhalt im Lichte seines allgemeinen Fachwissens liest und versteht. Dabei impliziert er allgemein bekannte Maßnahmen und Funktionen als mitoffenbart, selbst wenn sie nicht explizit erwähnt sind (vgl. auch Spalte 5, Zeilen 1 bis 2). Im vorliegenden Fall muß daher untersucht werden, welche nicht explizit genannten relevanten Merkmale dennoch Offenbarungsgehalt von E21 sind.

Die Öffnungswalze erfaßt die ihr zugeführten Faserflocken und führt sie dann an den Reinigungselementen 28 vorbei (Spalte 5, Zeilen 26 bis 30). Der Fachmann weiß, daß eine solche Öffnungswalze mit einer Garnitur bestückt ist, um die Fasern mitnehmen zu können. Wenn die Fasern im Umfangsbereich mit den Garniturspitzen in Berührung kommen, werden sie zunächst etwas gekämmt, dann ganz aus der Klemmstelle herausgezogen und anschließend stark beschleunigt. Dieser Vorgang des Erfassens und Mitnehmens bedeutet für den fachkundigen Leser daher in anderen Worten nichts anderes, als daß die Faserwatte an der Faserübernahmestelle von der Öffnungswalze durch Zupfen verzogen und übernommen wird (siehe auch Spalte 4, Zeile 49 bis Spalte 5, Zeile 19).

4.3.2. Nach Meinung der Beschwerdeführerin werden in der Fachwelt die Begriffe "Speisemulde" und "Speiseplatte" synonym verwendet. Sie verwies hierzu beispielhaft auf das ebenfalls von der Beschwerdegegnerin stammende Dokument E15, welches ein Watteeinspeisemittel offenbart, bestehend aus einer Speisewalze 9 und einer Speiseplatte 10 (Figuren 1 bis 4; Zusammenfassung). Das hier mit "Speiseplatte" bezeichnete Element hat eine Funktionsfläche, die von einer ebenen in eine etwa zylindrische Fläche übergeht.

Nachdem aus dieser Druckschrift hervorgeht, daß die "Speiseplatte" auch eine gekrümmte Fläche, eben eine "Mulde" aufweisen kann, und die Beschwerdegegnerin auch kein stichhaltiges Argument für das Gegenteil vorbringen konnte, ist davon auszugehen, daß diese Begriffe für die gleichen technische Vorrichtungen austauschbar verwendet werden, zumal es sich bei der Darstellung in E21 um eine schematische Zeichnung handelt, die für die praktische Ausgestaltung, z. B. in Form einer "Mulde", Raum läßt. Für den Fachmann ist es nämlich selbstverständlich, daß er die definierte Klemmlinie nur dann erhält, wenn er die Klemmstelle mit einer Kante an der Speiseplatte ausbildet, weil sich bei tangentialer Anlage der Speiseplatte an der Speisewalze im Hinblick auf das zu verarbeitende Material keine ausreichend genau definierte Klemmlinie ausbilden ließe.

4.3.3. Im Text der E21 (Spalte 5, Zeilen 3 bis 5) heißt es, daß die federbelastete Speiseplatte mit einer vorgegebenen Kraft in Richtung Speisewalze gedrückt wird. Hieraus entnimmt der fachkundige Leser, daß diese Kraft auch in irgendeiner Weise eingestellt werden muß, zumindest bei der Herstellung der Maschine.

Die Beschwerdegegnerin hat hierzu vorgebracht, daß E21 keinen Hinweis auf eine Verstellung der Kraft je nach den zu reinigenden Fasern offenbare. Da jedoch Anspruch 16. kein Merkmal enthält, das eine solche Variation der Klemmkraft konstruktiv erfordern oder zumindest implizieren würde, geht diese Argumentation ins Leere. Somit ist die Einstellbarkeit der Klemmkraft zwischen Speisewalze und Speisemulde, zumindest hinsichtlich eines Grundwertes der Klemmkraft, aus E21 zu entnehmen.

4.4. Da folglich alle Merkmale des Anspruchs 16 aus E21 bekannt sind, erfüllt sein Gegenstand nicht das Erfordernis der Neuheit (Artikel 54 (1) EPÜ).

Der unabhängige Anspruch 16 ist Bestandteil des Antrags auf beschränkte Aufrechterhaltung des Patents, über den nur insgesamt entschieden werden kann. Deshalb war das Patent zu widerrufen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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