T 0006/01 (Faktor VIII/OCTAPHARMA AG) of 2.12.2003

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2003:T000601.20031202
Datum der Entscheidung: 02 Dezember 2003
Aktenzeichen: T 0006/01
Anmeldenummer: 91901746.7
IPC-Klasse: A61K 35/16
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Stabile injizierbare Lösungen von Faktor VIII
Name des Anmelders: Octapharma AG
Name des Einsprechenden: Baxter International Inc.
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 84
Schlagwörter: Hauptantrag - Neuheit (nein)
Hilfsantrag - Klarheit (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0004/83
T 0165/84
T 0198/84
T 0124/87
T 0666/89
T 0412/91
T 0782/91
Anführungen in anderen Entscheidungen:
T 1089/11
T 0278/18
T 2220/18
T 1473/19

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der das Europäische Patent Nr. 0 511 234 in geändertem Umfang gemäß Artikel 102 (3) EPÜ aufrechterhalten wurde.

II. Anspruch 1 des geändert aufrechterhaltenen Patents lautete:

"1. Stabile injizierbare Lösung, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine für die Behandlung am Menschen geeignete Faktor VIII-angereicherte Plasmafraktion, natürliche oder synthetische Disaccharide in einer Konzentration von 0,1 bis 0,65 mol/l und eine oder mehrere Aminosäuren in einer Konzentration von 0,1 bis 1,0 mol/l enthält."

III. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass unter Berücksichtigung der von der Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) vorgenommenen Änderungen das Patent den Erfordernissen des EPÜ genügte, insbesondere, dass Anspruch 1 neu im Lichte der Offenbarung in folgender Entgegenhaltung wäre:

(1) US-A-4 297 344

IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, als Hauptantrag, die Beschwerde zurückzuweisen, und als Hilfsantrag die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents mit den in der mündlichen Verhandlung am 2. Dezember 2003 eingereichten Ansprüchen 1 bis 6.

V. Anspruch 1 des Hilfsantrages lautete:

"1. Verfahren zur Herstellung einer mehrere Wochen stabilen injizierbaren Lösung, dadurch gekennzeichnet, dass ein für die Behandlung am Menschen geeigneter Faktor VIII, natürliche oder synthetische Disaccharide in einer Konzentration von 0,1 bis 0,65 mol/l und eine oder mehrere Aminosäuren in einer Konzentration von 0,1 bis 1,0 mol/l in Wasser gelöst, steril filtriert und in Ampullen gefüllt werden."

VI. Die Argumente der Beschwerdeführerin können folgendermaßen zusammengefasst werden:

Entgegenhaltung (1) beschriebe in Spalte 5, Zeilen 60 bis 63 die Herstellung eines hepatitissicheren Faktor VIII Präparates, das alle Merkmale der Lösung von Anspruch 1 aufwiese, insbesondere die darin enthaltenen Mengen an Disacchariden und Aminosäuren. Die in Anspruch 1 angegebene Disaccharid-Konzentration von 0,1 bis 0,65 mol/l entspräche bei der angenommenen Dichte der Lösung 3,4 bis 19,87 Gewichts/Gewichts %. Obwohl an mehreren anderen Stellen der Beschreibung und in den Beispielen von Entgegenhaltung (1) höhere Werte an Disacchariden offenbart wären, würde der Leser dieses Dokumentes keinesfalls daraus schließen dass es sich bei den Angaben in Spalte 5, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, um einen Schreibfehler handelte.

Der in Anspruch 1 des Hilfsantrages verwendete Ausdruck "mehrere Wochen" wäre unbestimmt und unklar. Der Schutzbereich des Anspruchs könnte somit nicht eindeutig festgestellt werden.

VII. Die Beschwerdegegnerin argumentierte folgendermaßen:

Entgegenhaltung (1) beschrieb in Spalte 3, Zeile 62 bis Spalte 4, Zeile 5 das allgemeine Konzept der darin offenbarten Erfindung. Dabei handelte es sich um die Bereitstellung von hepatitissicheren Präparaten die verschiedene Blutgerinnungsfaktoren beinhalten, wie z. B. Faktor VIII. Diese Präparate enthielten 1,0 bis 3,0 mol/l einer oder mehrere Aminosäuren und 20 bis 60. Gewichts/Gewichts % eines Mono- oder Disaccharides oder eines Zuckeralkohols. Bezüglich des Aminosäuregehalts entspräche der untere Grenzwert gemäß Entgegenhaltung (1) dem oberen Grenzwert der Lösungen nach Anspruch 1, wodurch sich hier lediglich eine lineare Berührung der beanspruchten Wertebereiche ergäbe. Der Zuckergehalt der Präparate sei in Entgegenhaltung (1) mehrfach erwähnt (Spalte 4, Zeilen 34 bis 40; Tabelle in Spalte 7 und Beispiele 1 und 2), wobei die angegebenen Werte jeweils über dem in Anspruch 1 des Hauptanspruchs offenbarten Wert von 0,1 bis 0,65 mol/l lägen. Aus diesem Umstand ergäbe sich, dass es sich bei der einzigen Stelle in Entgegenhaltung (1), die sich auf einen niedrigeren Saccharosegehalt bezöge, nämlich bei der von der Beschwerdeführerin angeführten Stelle in Spalte 5, Zeilen 60 bis 63, um einen Schreibfehler handelte. Dokument (1) wäre somit nicht neuheitsschädlich.

Der Ausdruck "mehrere Wochen" in Anspruch 1 des Hilfsantrages wäre klar, da er vom Leser als gleichbedeutend mit "mehr als eine Woche" verstanden würde. Das Streitpatent enthielte im Vergleichsbeispiel 1. eine Tabelle mit den Messergebnissen der Stabilitätsmessung eines Faktor VIII Präparates nach 2, 5, 10 und 13 Wochen. Im klinischen Bereich wäre es üblich, derartige Präparate bis zu einem halben Jahr zu lagern.

Entscheidungsgründe

Hauptantrag

Neuheit (Artikel 54 EPÜ)

1. Anspruch 1 des Streitpatents bezieht sich auf eine Faktor VIII-haltige Lösung die (umgerechnet in Gewichts/Gewichts %) 3,4 bis 19,87 % eines Disaccharides und 0,1 bis 1,0 mol/l einer Aminosäure enthält. Entgegenhaltung (1) beschreibt in Spalte 5, Zeilen 60 bis 63 eine ebensolche Lösung, die 10 bis 60. % Saccharose und 1 bis 3 mol/l Glycin enthält.

2. Anspruch 1 ist ein Produktanspruch. Bei der Überprüfung der Neuheit ist das Rechtsprinzip zu beachten wonach nicht nur die Beispiele von Dokumenten des Standes der Technik zu beachten sind, sondern deren gesamte Lehre (T 4/83, ABl. EPA 1983, 498; T 198/84, ABl. EPA 1985, 209 und T 124/87, ABl. EPA 1989, 491, T 666/89 (ABl. 1993, 495)). Die Beispiele der Entgegenhaltung (1) liegen außerhalb des Bereiches, der sich mit dem Bereich gemäß Anspruch 1 überschneidet. Jedoch auch die Beispiele des Streitpatents liegen nicht in diesem Bereich, diese liegen vielmehr auch außerhalb des Schutzbereiches der Ansprüche.

3. Eine technische Lehre darf in einem Patent als in einem breiten Bereich praktizierbar angegeben und auch beansprucht werden. Um neu zu sein, darf sie sich jedoch nicht mit einer im Stand der Technik beschriebenen ähnlich breiten Lehre überschneiden.

Die Entgegenhaltung (1) offenbart eine Faktor VIII- haltige Lösung, die 10 bis 19,87 Gewichts/ Gewichts % eines Disaccharides und 1,0 mol/l einer Aminosäure enthält und somit unter den Schutzbereich von Anspruch 1 fällt.

Der Umstand, dass andere Teilbereiche von Anspruch 1 in der Entgegenhaltung (1) nicht offenbart sind spielt in diesem Kontext keine Rolle.

4. Nach einem bei derartiger Sachlage anzuwendenden Rechtsprinzip, ist der Offenbarungsgehalt eines Dokuments des Stands der Technik mit dem gleichen Maßstab zu messen wie der Offenbarungsgehalt des Streitpatents (vergleiche in etwas anderem Kontext Entscheidung T 782/91-3.3.2 vom 12. Dezember 1994, Punkt 2.2.3).

5. Die Einspruchsabteilung begründete ihre positive Entscheidung bezüglich der Neuheit von Anspruch 1 damit, dass dieser eine Auswahl von Werten aus zwei, in Entgegenhaltung (1) offenbarten, Bereichen enthalte. Hier hat die Einspruchsabteilung fälschlich den Offenbarungsgehalt der Entgegenhaltung (1) mit einem anderen Maßstab beurteilt als den Offenbarungsgehalt des Streitpatents. Um zu einem konkreten Beispiel für eine Faktor VIII-haltige Lösung nach Anspruch 1 zu kommen, muss der Fachmann zwangsweise Werte auswählen. Einige dieser Möglichkeiten sind von der Entgegenhaltung (1) neuheitsschädlich vorweggenommen.

6. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, wonach ein Fachmann die Offenbarung in Entgegenhaltung (1) nicht beachten würde, da es sich bei der Angabe "10 to 60 w/w % of saccharose" in Spalte 5 um einen Schreibfehler handle, der vom fachkundigen Leser als solcher erkannt würde, ist seitens der Kammer nicht nachvollziehbar.

7. Angaben in einer Entgegenhaltung, die zum Stand der Technik gehört, sind als korrekt anzusehen, es sei denn, sie stehen im krassen Widerspruch zu anderen Angaben in der gleichen Entgegenhaltung oder zum Allgemeinwissen des Fachmanns im betreffenden Gebiet, oder es werden Beweismittel vorgelegt, die zeigen, dass die Angaben falsch sind (vergleiche Entscheidung T 412/91; 27. Februar 1996).

8. Die Entgegenhaltung (1) bezieht sich auf die Bereitstellung von Präparaten, die verschiedene Koagulierungsfaktoren enthalten. Die Präparate werden zur Abtötung eventuell vorhandener Hepatitis-Viren erhitzt, wobei ihnen zur Stabilisierung zumindest eine Aminosäure, bevorzugt Glycin, und ein Zucker, bevorzugt Saccharose, zugesetzt werden. An mehreren Stellen der Entgegenhaltung (1) wird ein Bereich für die erfindungsgemäß zugesetzte Saccharosemenge angegeben. Als oberer Grenzwert wird stets 60 Gewichts/Gewichts % angeführt. Der angegebene untere Grenzwert schwankt zwischen 10 Gewichts/Gewichts % (Spalte 5, Zeilen 60 bis 63), und 40 Gewichts/Gewichts % (Spalte 4, Zeilen 34 bis 40). Laut Anspruch 1 beträgt der untere Grenzwert 20 Gewichts/Gewichts %, im Beispiel 1 werden 50 Gewichts/Gewichts % zugesetzt.

9. Die Kammer sieht keinen Grund, warum der Fachmann den in Spalte 5, Zeilen 60 bis 63 von Entgegenhaltung (1) angegebenen Wertebereich für Saccharose als Schreibfehler erkennen sollte. Dieser Bereich, der sich zu einem großen Teil mit dem in Anspruch 1 des Streitpatents angegebenen überschneidet (3,4 bis 19,87 Gewichts/Gewichts %), befindet sich in dem Teil der Beschreibung der Entgegenhaltung (1), der sich spezifisch mit der Herstellung Faktor VIII-haltiger Präparate befasst.

10. Insbesondere kann die Kammer nicht erkennen warum ein Fachmann die Angabe von 10% Saccharose als Untergrenze für eine Faktor VIII-haltige Lösung als nicht praktikabel ansehen sollte. Es erscheint durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen, dass diese Untergrenze für eine Faktor VIII-haltige Lösung niedriger sein kann als für andere Koagulierungsfaktoren. Auch die Tatsache, dass der untere Grenzwert für Saccharose im Anspruch 1 und in den Beispielen der Entgegenhaltung (1) höher liegt als in Spalte 5 angegeben, lässt keinen Schluss auf einen Fehler zu. Schließlich liegen auch im Streitpatent die einzigen Beispiele außerhalb des beanspruchten Bereichs.

11. Es ist in diesem Fall auch nicht vorgetragen oder gar mit Beweismitteln untermauert worden, dass die 10% Untergrenze für Saccharose für eine Faktor VIII-haltige Lösung nicht eine für die Zwecke von Entgegenhaltung (1) praktikable Lösung darstellt.

12. Somit steht für die Kammer fest, dass die Offenbarung in Spalte 5, Zeilen 60 bis 63 der Entgegenhaltung (1) Stand der Technik ist.

13. Der Gegenstand von Anspruch 1 wird somit durch die Offenbarung in Entgegenhaltung (1) neuheitsschädlich vorweggenommen und entspricht nicht den Erfordernissen von Artikel 54 EPÜ.

Hilfsantrag

Klarheit (Artikel 84 EPÜ)

14. Anspruch 1 bezieht sich auf ein Verfahren zur Herstellung einer mehrere Wochen stabilen Lösung.

Patentansprüche sind, entgegen den Anforderungen von Artikel 84 EPÜ, dann nicht deutlich gefasst, wenn sie den Schutzbereich nicht genau erkennen lassen (vergleiche Entscheidung T 165/84 (29. Januar 1987)).

Die Erfüllung dieser Vorraussetzung ist sowohl unverzichtbar für die Festlegung des Standes der Technik, als auch für den Wettbewerber, um die Frage zu beantworten, ob ein von ihm angewendetes Verfahren innerhalb oder außerhalb des Schutzbereiches des Anspruchs liegt.

15. Das Wort "mehrere" wird in der deutschen Sprache als Indefinitpronomen und unbestimmtes Zahlwort verwendet und bezeichnet eine unbestimmte, größere Anzahl oder Menge (vergleiche Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Auflage 1999, Band 6, Seite 2552).

Den Ausführungen der Beschwerdegegnerin, wonach "mehrere" ein S1ynonym für "mehr als ein(e)" ist, kann die Kammer nicht zustimmen, da nach obiger Definition im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Ausdruck "mehrere Wochen" nicht "zwei Wochen" bezeichnet werden. Auch der Verweis auf Versuchsbeispiel 1 und die dort nach 1, 2, 5, 10 und 13 Wochen durchgeführten Stabilitätsmessungen kann nicht zur Klärung der Bedeutung des Ausdrucks "mehrere Wochen" beitragen, da dieses Beispiel bezüglich der verwendeten Saccharose-Konzentration außerhalb des Bereichs gemäß Anspruch 1 des Hilfsantrages liegt. Letztendlich zeigt die Angabe der Beschwerdegegnerin, wonach im klinischen Bereich eine halbjährige Stabilität von Faktor VIII-haltigen Lösungen üblich ist, den unklaren Bereich des Ausdrucks "mehrere Wochen".

16. Die Kammer gelangt daher zu der Auffassung, dass Anspruch 1 des Hilfsantrags nicht den Erfordernissen von Artikel 84 EPÜ entspricht, da er den Gegenstand für den Schutz begehrt wird nicht klar und deutlich angibt.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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