T 0791/00 () of 5.7.2002

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2002:T079100.20020705
Datum der Entscheidung: 05 Juli 2002
Aktenzeichen: T 0791/00
Anmeldenummer: 94916876.9
IPC-Klasse: B23B 27/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Wendeschneidplatte
Name des Anmelders: WALTER AG
Name des Einsprechenden: (01) Widia GmbH
(02) Plansee Tizit AG
Kammer: 3.2.06
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 52(1)
European Patent Convention 1973 Art 54(1)
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
European Patent Convention 1973 Art 123(3)
Schlagwörter: Zulässigkeit der Änderungen (ja)
Neuheit und erfinderische Tätigkeit (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0468/95
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Das europäische Patent 0 702 609 wurde auf die am 4. Juni 1994 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 12. Juni 1993 eingereichte europäische Patentanmeldung 94 916 876.9 erteilt.

II. Gegen die Patenterteilung wurden zwei Einsprüche eingelegt, gestützt auf die Gründe des Artikels 100 a) und c) EPÜ.

Beide Einsprechende zogen ihren Einspruch jeweils mit Schreiben vom 8. Dezember 1999 (Einsprechende 01), eingegangen im EPA am 9. Dezember 1999, sowie vom 23. November 1999 (Einsprechende 02), eingegangen im EPA am 26. November 1999, zurück.

III. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent mit ihrer in der mündlichen Verhandlung am 13. April 2000 verkündeten und am 8. Juni 2000 zur Post gegebenen Entscheidung. Sie vertrat die Auffassung, daß die Gegenstände des jeweiligen Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag sowie erstem und zweitem Hilfsantrag zwar das Erfordernis der Neuheit erfüllten, jedoch gegenüber dem Stand der Technik nach

(D1) DE-C-877 531

(D9) "Manufacturing Engineering" March 1980, Seite 53

(D10) Zeichnung Fa. Plansee-Tizit Nr. 63 88 842/1, Wendeplatte WCGT020204SN/FN-29

nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhten.

IV. Gegen diese Entscheidung hat sich die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 29. Juli 2000 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr beschwert.

Mit ihrer am 9. Oktober 2000 eingegangenen Beschwerdebegründung machte die Beschwerdeführerin geltend, die nunmehr beanspruchte gesinterte Wendeschneidplatte nach Anspruch 1 des vormaligen zweiten Hilfsantrags den Erfordernissen des EPÜ genüge.

V. In ihrem Bescheid vom 15. Mai 2002 brachte die Kammer zum Ausdruck, daß sie vorläufig keinen Grund sehe, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben, und daß die erfinderische Tätigkeit vor allem im Hinblick auf den tatsächlichen Inhalt der Ansprüche sowie der Beschreibung gemäß Patentschrift diskutiert werden müsse.

VI. Eine mündliche Verhandlung wurde am 5. Juli 2002 abgehalten.

Die Beschwerdeführerin beantragte, die Zurückweisungsentscheidung aufzuheben und das Patent mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1 bis 7, wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht,

- Beschreibung, Spalten 1 und 2 bis Zeile 13; Spalten 3 bis 6 wie erteilt;

Beschreibungs-(Einfügungs)-seiten 1 und 2 sowie geänderte Spalte 7, wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht,

- Figuren 1 bis 4, wie erteilt.

Anspruch 1 lautet wie folgt:

"Im Sinterverfahren hergestellte Hartmetall-Wendeschneidplatte (1), die eine im wesentlichen kegelstumpf- oder pyramidenstumpfförmige Gestalt aufweist,

mit einer im wesentlichen ebenen Grundfläche (2),

mit einer von der Grundfläche (2) beabstandeten ebenen oder strukturierten Oberseite (3),

mit einer Seitenwandanordnung (4) und mindestens einer Schneidkante (9),

mit einem in der Seitenwandanordnung (4) enthaltenen Rücksprung (13), der zumindest angenähert dem Verlauf der Schneidkante (9) folgt und ausgehend von der Schneidkante (9) eine erhabenen Leiste (17) entstehen läßt, welche die Freifläche (15) trägt, wobei

- zu der Leiste (17) eine Übergangsfläche (13) gehört, die in einem spitzen Winkel geneigt verläuft, um ausbruchgefährdete Übergänge an Knickstellen zu vermeiden,

- die Breite (18) der Freifläche (15) einschließlich der Übergangsfläche (13), gemessen in Richtung senkrecht zu der Schneidkante (9), etwa der Größe der zulässigen Verschleißmarke der Freifläche (15), gemessen in derselben Richtung, entspricht,

- der Rücksprung eine Tiefe (19) aufweist, die zwischen 0,02 mm und 0,5 mm liegt, wobei Tiefen größer oder gleich 0,4 mm ausgenommen sind, und

- der Freiwinkel betragsmäßig kleiner ist als der Winkel zwischen der Senkrechten auf die Grundfläche und der Seitenwandanordnung (4)."

VII. Die Beschwerdeführerin vertrat die Auffassung, die zweifellos neue Wendeschneidplatte nach Anspruch 1 beruhe auf erfinderischer Tätigkeit, weil der Stand der Technik von der Erfindung weg führe. Das Hartmetallplättchen gemäß D1, Anmeldejahr 1951, mit seiner angeschliffenen Freifläche habe sich am Markt nicht durchgesetzt, weil die Herstellung zu aufwendig gewesen sei. Das aus D9 bekannte Schneidwerkzeug könne ersichtlich nicht im Sinterverfahren ohne eine zusätzliche Schleifoperation gefertigt werden. Auch die Wendplatte nach D10 werde an den Freiflächen nachbearbeitet, wie das Bearbeitungssymbol in der Figur links oben auf diesem Zeichnungsblatt zeige.

Um zur Erfindung zu gelangen, hätten verschiedene Vorurteile sowohl in der Fertigungstechnik als auch in der Sintertechnik überwunden werden müssen, denn bis dahin galt die Herstellung einsatzbereiter Wendeschneidplatten im Sinterverfahren als äußerst schwierig, weil bereits das Pressen des Grünlings mit einer erheblichen Ausschußrate verbunden gewesen sei. Erst die sowohl auf ausreichende Festigkeit bei verringerter Bruchgefahr optimierte, im Patentanspruch 1 angegebene Geometrie der Wendeschneidplatte erlaube ihre zuverlässige und wirtschaftliche Herstellung, die zu einer erfolgreichen Durchsetzung im Markt geführt habe.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Nach der Rücknahme ihrer Einsprüche sind die vormaligen Einsprechenden nicht mehr am Verfahren beteiligt.

3. Zulässigkeit des neuen Antrags

3.1. Die Kammer kann verspätet oder zu kurzfristig eingereichte Anträge zurückweisen, wenn ihre Berücksichtigung die Gegenseite unangemessen benachteiligen oder das Verfahren unnötig verzögern würde (Artikel 114 (2) EPÜ). Da die Einsprechenden nicht mehr am Verfahren beteiligt sind, können sie durch die Vorlage des neuen Antrags nicht beeinträchtigt sein.

Nachdem eine erste Überprüfung ergeben hat, daß der neu vorgelegte Antrag voraussichtlich gewährbar sein würde und darüber unmittelbar entschieden werden könnte, konnte die Kammer diesen neuen Antrag als Grundlage für ihre Entscheidung akzeptieren (vgl auch Entscheidung T 468/95, nicht veröffentlicht).

3.2. Die Änderungen des Anspruchs 1 sind in der Patentschrift (Beschreibung, Spalte 4, Zeilen 36 bis 44; Spalte 6, Zeile 59 bis Spalte 7, Zeile 6) und in den entsprechenden Textstellen der ursprünglich eingereichten Unterlagen im beanspruchten Zusammenhang offenbart (Artikel 123 (2) EPÜ). Durch die zusätzlichen Merkmale wird der Schutzbereich des Patents eingeschränkt (Artikel 123 (3) EPÜ). Daher bestehen gegen die Zulässigkeit des geänderten Patentbegehrens seitens der Kammer keine Bedenken.

4. Neuheit

4.1. Das aus D1 bekannte Hartmetallplättchen ist durch Anschliff in die Endkontur gebracht. Es handelt sich nach der fachüblichen Terminologie also nicht um eine "gesinterte" Wendeschneidplatte. Im einschlägigen Fachgebiet werden nämlich durch diese Bezeichnung einsatzbereit fertiggesinterte Schneidplatten von solchen unterschieden, die zwar ebenfalls im Sinterverfahren hergestellt, jedoch durch Schleifen endbearbeitet sind.

4.2. In D9 ist nicht angegeben, auf welche Weise das dargestellte Schneidwerkzeug hergestellt ist. Der in der Sintertechnik kundige Leser entnimmt der Zeichnung aufgrund seiner Fachkenntnis, daß die Kontur des Rücksprunges nicht im Sinterverfahren hergestellt sein kann, da das Pressen einer solchen Geometrie mit breitem Überstand bei geringer Höhe zu einer nicht beherrschbaren Randüberpressung führen würde.

4.3. Der Rohling der Wendeplatte, wie sie in D10 dargestellt ist, ist zwar gesintert, jedoch zeigen die Bearbeitungssymbole, daß die Freifläche durch Schleifen nachbearbeitet ist.

4.4. Da somit keine der Entgegenhaltungen alle Merkmale der Wendeschneidplatte nach Anspruch 1 aufweist, ist das Erfordernis der Neuheit erfüllt (Artikel 54 (1) EPÜ).

5. Erfinderische Tätigkeit

5.1. Der nächstkommende Stand der Technik wird durch die in D1 offenbarte Hartmetallschneide repräsentiert. Dort wird eine Vergrößerung der Standzeit bei gleichbleibenden Werkzeugkosten angestrebt. Das Hartmetallschneidplättchen ist mit einer erhabenen Leiste oder Nase 4 ausgestattet, die der Verschleißmarkenbreite entspricht. Hergestellt wird diese Nase durch einen Freiflächenanschliff, der eine Tiefe 7 von 0,4 mm oder mehr haben soll (Figuren 6 und 7).

5.2. Ausgehend von diesem Stand der Technik liegt der vorliegenden Erfindung die Aufgabe zugrunde, eine Hartmetall-Schneidplatte zu schaffen, die kostengünstiger herzustellen ist.

Dieses technische Problem wird nach Überzeugung der Kammer durch die Lehre des Anspruchs 1 gelöst, insbesondere dadurch, daß die Hartmetall-Wendeschneidplatte im Sinterverfahren hergestellt ist, daß zu der Leiste 17 die Übergangsfläche 13 gehört, die in einem spitzen Winkel geneigt verläuft, wobei der Freiwinkel an der Schneide betragsmäßig kleiner ist als der Winkel zwischen der Senkrechten auf die Grundfläche und der Seitenwandanordnung 4, und die Breite der Freifläche einschließlich der Übergangsfläche etwa der Größe der zulässigen Verschleißmarke entspricht.

Mit der Kombination der Merkmale des Anspruchs 1 wird erreicht, daß die Hartmetall-Wendeschneidplatte im Sinterverfahren ohne die Notwendigkeit eines Nachschliffs in die einsatzfähige Form gebracht werden kann, wobei ausbruchgefährdete Übergänge und Knickstellen vermieden werden.

5.3. Das aus D1 bekannte Hartmetall-Schneidwerkzeug ist dazu vorgesehen, eine Vergrößerung der Standzeit erreichen, ohne höhere Beschaffungs- und Unterhaltskosten zu verursachen als die damals (1951) bekannten Werkzeuge. Als geeignete Werkstoffe sind u. a. auch Sinterhartmetalle genannt (Seite 2, Zeilen 125 bis 126), wobei die einsatzfähige geometrische Form der Schneide durch einen Freiflächenanschliff hergestellt wird (Ansprüche 1 bis 4). Zum Veröffentlichungszeitpunkt der D1 waren Wendeschneidplatten in der Form wie zum Prioritätszeitpunkt des Patents noch nicht üblich und die damalige Sintertechnik ermöglichte keine Herstellung fertig gesinterter Schneiden. Der einschlägige Fachmann, dem die konkurrierenden Ziele hinsichtlich der Fertigungsmöglichkeit einerseits und der Standzeitverlängerung andererseits bekannt sind, konnte deshalb von dieser Druckschrift keine Anregung erhalten, zur kostengünstigeren Herstellung einer Wendeschneidplatte an die Fertigung im Sinterverfahren zu denken, da die Schneidengeometrie und der Rücksprung nach D1 nur durch Schleifen herstellbar sind. Um zur beanspruchten Lehre nach Anspruch 1 zu gelangen, mußte der Fachmann daher weitergehende Überlegungen in mehreren Schritten anstellen, die eine erfindische Leistung erforderten.

5.4. Die der D9 entnehmbare Lehre geht über den Offenbarungsgehalt der D1 nicht hinaus. Diese Druckschrift behandelt zwar ein vergleichbares Problem, nämlich die Standzeit durch einen Hinterschliff der Freifläche zu verlängern, so daß die zulässige Verschleißmarke erst nach längerer Einsatzzeit erreicht wird. Abgesehen davon, daß jeglicher Hinweis auf eine Wendeschneidplatte fehlt, ist aber auch über die Herstellung der Schneidengeometrie nichts ausgesagt, und der fachkundige Leser schließt angesichts des scharfen Übergangs am Rücksprung der Freifläche von vornherein aus, daß dieses Schneidwerkzeug ohne weitere Schleifoperation im Sinterverfahren herstellbar ist.

5.5. Die technische Zeichnung D10 zeigt eine herkömmliche Wendeschneidplatte, bei der die charakteristischen Merkmale des Anspruchs 1 nicht verwirklicht sind. Wie die Bearbeitungssymbole erkennen lassen, ist diese Schneidplatte zwar im Sinterverfahren hergestellt, jedoch an den Schnittkanten durch Schleifen fertig bearbeitet. Die im "Schnitt A-A" gezeigte Freifläche mit dem anschließenden Rücksprung ist mit der erhabenen Leiste und dem anschließenden Übergangsbereich nach der Erfindung nicht vergleichbar. Würde man entsprechend der Lehre des Anspruchs 1 die Verschleißmarke bis zu dem mit "R 0,2" bezeichneten Knick zulassen, dann wäre bei diesem Verschleißzustand nahezu die Hälfte des Volumens der Schneidplatte aufgebraucht, was bei fachmännischem Gebrauch des Werkzeugs keinesfalls eintreten kann. Vielmehr handelt es sich bei dieser Freiflächenkontur um die herkömmliche Form, mit der einerseits die Schnittkante genügend unterstützt wird und andererseits der Platzbedarf für die Aufspannung am Werkzeughalter zu minimiert ist.

Da mit der Wendeschneidplatte nach D10 somit ein ganz unterschiedliches Ziel verfolgt wird als mit dem Schneidwerkzeug nach D1, hat der Fachmann auch keinen Anlaß, etwa die Lehren dieser beiden Dokumente miteinander zu kombinieren. Selbst der willkürliche Versuch einer solchen Kombination würde nicht zu einer im Sinterverfahren hergestellten Hartmetall-Wendeschneidplatte nach Anspruch 1 führen, die ohne Schleifoperation nach dem Sintern einsatzbereit ist.

Da auch nicht erkennbar ist, wie der Fachmann durch sein allgemeines Wissen und Können zu den beanspruchten Maßnahmen gelangen konnte und, wie oben dargelegt, ein entsprechender Anstoß durch den Stand der Technik fehlt, mußte der Fachmann zum Auffinden des Gegenstands des Anspruchs 1 erfinderisch tätig werden (Artikel 56 EPÜ).

6. Zusammengefaßt ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, daß mit den vorgenommenen Änderungen die Wendeschneidplatte nach Anspruch 1 die Patentierungskriterien des Artikel 52 (1) EPÜ erfüllt. Die abhängigen Ansprüche 2 bis 7, die weitere Ausgestaltungen der Erfindung enthalten, können somit ebenfalls aufrechterhalten werden.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:

- Ansprüche 1 bis 7, wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht;

- Beschreibung, Spalten 1 und 2 bis Zeile 13; Spalten 3 bis 6, wie erteilt;

- Beschreibungs-(Einfügungs)-seiten 1 und 2 sowie geänderte Spalte 7, wie in der mündlichen Verhandlung eingereicht;

- Figuren 1 bis 4, wie erteilt.

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