European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:2001:T000499.20011102 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 02 November 2001 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0004/99 | ||||||||
Anmeldenummer: | 93907804.4 | ||||||||
IPC-Klasse: | F22D 1/12 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren und Vorrichtung zur Einstellung der Rauchgastemperatur am Austritt eines Dampferzeugers | ||||||||
Name des Anmelders: | SIEMENS AKTIENGESELLSCHAFT | ||||||||
Name des Einsprechenden: | L. & C. Steinmüller GmbH | ||||||||
Kammer: | 3.2.03 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Zulässigkeit des Einspruchs (ja) Neuheit - nach Änderung (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die am 22. Dezember 1998 unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr erhobene und am 23. Februar 1999 begründete Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 2. November 1998, mit der diese die Zulässigkeit des Einspruchs anerkannt und das europäische Patent Nr. 0 643 816 (Anmeldenummer 93 907 804.4) wegen mangelnder Neuheit seiner unabhängigen Ansprüche 1 und 3 im Hinblick auf die Entgegenhaltung D1, eine Kopie des Titelblatts einer "Betriebsanleitung für Industriemüllverbrennungsanlage Rohstoffrückgewinnungszentrum Herten" - Auftr.-Nr. 07.1480, Stand Dezember 1982, sowie Kopien der Seiten 6a und 7a der revidierten Betriebsanleitung vom 16. Mai 1984, widerrufen hat.
II. Mit der Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) - zunächst hilfsweise - einen neuen Anspruch 3 eingereicht, der, nach vorbereitender Mitteilung der Kammer, nunmehr an die Stelle des erteilten Anspruchs 3 getreten ist.
III. Die geltenden Ansprüche 1 und 3 haben folgenden Wortlaut:
"1. Verfahren zur Steuerung der Rauchgastemperatur am Austritt eines Dampferzeugers mit einer zur Wärmeübertragung zwischen dem Rauchgas (R) und dem Speisewasser (S) nutzbaren Heizfläche (5), wobei das abgekühlte Rauchgas (R) bei Austritt aus dem Dampferzeuger gereinigt wird,
dadurch gekennzeichnet, daß die zur Wärmeübertragung jeweils wirksam genutzte Heizfläche (5) in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur (Ti) verändert wird, wobei bei einer Abweichung der Rauchgastemperatur (Ti) von einem oberhalb der minimal zulässigen Rauchgastemperatur für die Rauchgasreinigung liegenden Sollwert (Ts) in Strömungsrichtung des Speisewassers (S) hintereinander angeordnete Abschnitte (20, 21, 22) der Heizfläche (5) zu- oder abgeschaltet werden.
3. Vorrichtung zur Einstellung der Rauchgastemperatur (Ti) am Austritt eines Dampferzeugers (1), dem rauchgasseitig eine Rauchgasreinigungsanlage (7) nachgeschaltet ist, wobei der Dampferzeuger (1) eine zur Wärmeübertragung zwischen dem Rauchgas (R) und dem Speisewasser (S) nutzbare Heizfläche (5) aufweist, wobei die Heizfläche (5) in eine Anzahl von Abschnitten (20, 21, 22) unterteilt ist, von denen jeder Abschnitt (20, 21, 22) einzeln zu- oder abschaltbar ist,
d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t, daß zur Messung der Rauchgastemperatur (Ti) am Austritt des Dampferzeugers (1) ein Temperatursensor (13) vorgesehen ist, und daß ein Regler (14) vorgesehen ist, so daß die vom strömenden Speisewasser (S) genutzte Heizfläche (5) in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur (Ti) steuerbar ist."
IV. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin kann wie folgt zusammengefaßt werden:
Die Tatsache allein, daß D1 eine Betriebsanleitung sei, stelle keinen Anscheinsbeweis für deren öffentliche Zugänglichkeit dar, da eine nicht zu vernachlässigende Ungewißheit bestehe, ob die Betriebsanleitung tatsächlich übergeben worden sei. Da diese Frage einzig von der Beschwerdegegnerin geklärt werden könne, müsse sie die Beweismittel im Rahmen ihrer Substantiierungspflicht gemäß Regel 55c) EPÜ vortragen. Es sei nicht Aufgabe der Beschwerdeführerin, Vermutungen anzustellen, ob ein Beweismittel herangezogen werden könne und basierend auf solchen Vermutungen den Einspruch zu prüfen. Dies würde einer Verlagerung der Substantiierungsflicht von der Beschwerdegegnerin auf die Beschwerdeführerin gleichkommen, was nicht im Einklang mit Regel 55 c) EPÜ stehe. Der Einspruch sei daher unzulässig.
Gemäß dem kennzeichnenden Teil des erteilten Anspruchs 1 werde
a) die Heizfläche in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur verändert, und würden
b) bei Abweichung der Rauchgastemperatur von einem oberhalb der minimal zulässigen Rauchgastemperatur für die Rauchgasreinigung liegenden Sollwert Abschnitte der Heizfläche zu- oder abgeschaltet.
Nach der D1 sei eine Steuerung der Rauchgastemperatur in Abhängigkeit des Verschmutzungszustands des Kessels vorgenommen. Merkmal a) sei daher aus D1 nicht bekannt.
Auch Merkmal b) sei aus D1 nicht bekannt, da sich dort keinerlei Bezug auf eine minimalzulässige Rauchgastemperatur entnehmen lasse.
In dem geänderten unabhängigen Anspruch 3 seien die Merkmale des Reglers und des Temperatursensors aufgenommen worden. Diese Merkmale seien aus D1 nicht bekannt.
Die unabhängigen Ansprüche 1 und 3 seien daher neu gegenüber D1.
V. Die Beschwerdeführerin erstrebt in erster Linie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Verwerfung des Einspruchs als unzulässig. Bei Anerkennung der Zulässigkeit des Einspruchs und der Neuheit der nunmehr beanspruchten Gegenstände beantragt sie die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur Prüfung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit, hilfsweise die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) erstrebt in erster Linie die Zurückweisung der Beschwerde. Falls die Frage der erfinderischen Tätigkeit noch zu prüfen ist, beantragt sie ebenfalls die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz.
VI. Sie hat ihrerseits im wesentlichen folgendes geltend gemacht:
Der Gegenstand der Betriebsanleitung nach D1, unterstützt durch Dokument D2, Kopie eines Schreibens IA/85-2652 der Beschwerdegegnerin vom 21. Mai 1984 an "geab im RZR Herten", sei vor dem Prioritätstag des angegriffenen Patents der Öffentlichkeit zugänglich geworden und zähle zum Stand der Technik nach Artikel 54. (2) EPÜ. Die auf diesem Stand der Technik basierende Einspruchsbegründung erfülle somit die Erfordernisse der Regel 55 c) EPÜ, so daß der Einspruch zulässig sei.
Bei der in Punkt 1.5.1 der Betriebsanleitung nach D1 angesprochenen Verschmutzung des Kessels werde der Wärmeübergang verändert, und somit stelle sich auch eine Veränderung der Rauchgastemperatur ein. Bei D1 werde durch Zuschaltung einer Heizfläche eben auch die Rauchgastemperatur verändert, so daß das Merkmal a) des erteilten Anspruchs 1 nicht neu sei.
Für den Fachmann beinhalte hinsichtlich des Merkmals b) das Dokument D1 selbstverständlich eine minimal zulässige Rauchgastemperatur; es sei nämlich dem Fachmann geläufig, daß die Temperatur für eine Reinigung des Rauchgases über einer Minimaltemperatur liegen müsse, um eine Taupunktunterschreitung bei zu tiefen Temperaturen zu vermeiden. Das kennzeichnende Merkmal b) des Anspruchs 1 sei somit nicht neu.
Nach dem Kennzeichen des Anspruchs 3 seien nunmehr ein Regler 14 und ein Temperatursensor 13 vorgesehen, die der Steuerung der genutzten Heizfläche in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur dienten. Ein Temperatursensor und ein Regler seien aber in jeder Anlage vorhanden, die über die Temperatur als Regelgröße geregelt werden solle. Daher seien die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ mit der Aufnahme des Temperatursensors (13) und des Reglers (14) im geänderten Anspruch 3 noch nicht erfüllt.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit des Einspruchs
Gemäß Regel 55 c) EPÜ muß die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. Die Überprüfung des Einspruchs im Hinblick auf dessen Zulässigkeit durch die Kammer hat ergeben, daß die Angriffe gegen die Neuheit des Streitpatentgegenstands auf den Blättern 1 bis 3 der Einspruchsschrift im Hinblick auf Dokument D1 substantiiert worden sind.
Die Beurteilung der Betriebsanleitung gemäß Dokument D1 in der Einspruchsschrift verweist nämlich nicht nur auf die Abbildung der gattungsgemäßen Kesselanlage, sondern beinhaltet eine im Prüfungs- und Einspruchsverfahren übliche Merkmalsanalyse der unabhängigen Ansprüche 1 und 3. und deren Gegenstücke in D1. Es fehlt jedoch die Angabe eines Beweismittels innerhalb der Einspruchsfrist für die Behauptung der Beschwerdegegnerin, daß der Inhalt von D1 durch die im Jahre 1984 erfolgte Übergabe an den Kunden, das Rohstoffrückgewinnungszentrum Herten - RZR Herten - als Betreiber der Kesselanlage öffentlich zugänglich wurde. Wie die Einspruchsabteilung zutreffend ausgeführt hat, erscheint in diesem Fall die Substantiierung des Einspruchs auch ohne die Angabe eines Beweismittels für die öffentliche Zugänglichkeit von D1 vor dem Prioritätstag des Streitpatents ausreichend. Dies ergibt sich aus dem Umstand, daß es sich bei D1 um eine Betriebsanleitung für eine bestimmte Kesselanlage im Rahmen einer Industriemüllverbrennungsanlage handelt. Zweck einer Betriebsanleitung ist es, dem Betreiber der entsprechenden Anlage als Hilfe und Informationsquelle zu dienen. Es ist daher davon auszugehen und entspricht der Lebenserfahrung, daß eine derartige Betriebsanleitung auch dem Betreiber tatsächlich zur Verfügung gestellt wurde. Aufgrund der Besonderheit von D1 konnte daher dessen öffentliche Zugänglichkeit unterstellt werden, ohne daß es der Angabe eines weiteren Beweismittels bedurft hätte. Am Ende der Einspruchsfrist waren somit die Beschwerdeführerin und die Einspruchsabteilung in die Lage versetzt, das Vorbringen der Beschwerdegegnerin in Verbindung mit dem einzigen nicht nur angegebenen sondern auch eingereichten einzigen Beweismittel, der Entgegenhaltung D1, ohne eigene Nachforschungen zu verstehen (T 222/85; ABl. EPA 1988, 128). D2 kann für die Prüfung der ausreichenden Substantiierung des Einspruchs nicht herangezogen werden, da diese Entgegenhaltung erst nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereicht wurde.
3. Neuheit
In dem von der Beschwerdegegnerin in ihrer Eingabe vom 14. August 1998 eingereichten Dokument D2 vom 21. Mai 1984 wird im Betreff auf die Auftragsnummer 07.1480 und auf Seite 2 oben auf eine "Betriebsanleitung" mit u. a. neuen Seiten 6a und 7a Bezug genommen. Die genannte Auftragsnummer stimmt mit der auf D1 aufgedruckten Nummer überein, und die neuen Seiten 6a und 7a stellen offensichtlich die mit dem Dokument D1 überreichten Seiten dar. Der Adressat der D2, das RZR Herten, stellt eine Öffentlichkeit im Sinne des Artikels 52 (2) EPÜ dar. Damit gehört D1 zum Stand der Technik nach Artikel 52. (2) EPÜ.
3.1. Die Beschwerdeführerin richtet ihre Beschwerde gegen eine erstinstanzliche Entscheidung, mit der das Patent von der Einspruchsabteilung wegen mangelnder Neuheit seines Gegenstandes widerrufen worden ist. Sie ist der Auffassung, daß bei D1 die zur Wärmeübertragung jeweils wirksam gemachte Heizfläche nicht in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur sondern in Abhängigkeit vom Verschmutzungszustand des Kessels vorgenommen werde und daß sich aus D1 keinerlei Bezug auf eine minimalzulässige Rauchgastemperatur entnehmen lasse, so daß Unterschiede zwischen dem Verfahren nach D1 und dem nach dem Streitpatent bezüglich Aufgabe und Verfahrensschritte existierten.
Den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Argumenten stimmt die Kammer aus folgenden Gründen zu:
i) Nach dem ersten kennzeichnenden Merkmal des Anspruchs 1 wird die zur Wärmeübertragung jeweils wirksam genutzte Heizfläche in Abhängigkeit von der Rauchgastemperatur (Ti - Ist-Wert der Temperatur) verändert, während gemäß D1 die Zuschaltung einer abgeschalteten Eco-Heizfläche zur Regulierung der Rauchgastemperatur vor dem E-Filter je nach Verschmutzungszustand des Kessels stattfindet. Die Variante nach D1 bedeutet, daß die wirksam genutzte Heizfläche bei unbedeutend verändertem Verschmutzungszustand des Kessels nicht unbedingt an die Veränderung der Rauchgastemperatur angepaßt wird.
ii) Nach dem zweiten kennzeichnenden Merkmal des Anspruchs 1 werden hintereinander angeordnete Abschnitte (20, 21, 22) der Heizfläche (5) bei einer Abweichung der Rauchgastemperatur (Ti) von einem Sollwert (Ts) zu- oder abgeschaltet, wogegen die Zuschaltung einer abgeschalteten Eco-Heizfläche nach D1 nur bei einer Rauchgastemperatur von Eco III (Heizfläche) kleiner als 220 C zulässig ist. Die Variante nach D1 sieht vor, daß die Anlageleistung daher vor der Zuschaltung entsprechend abgesenkt werden muß - eine Maßnahme, die beim Verfahren nach Anspruch 1 des Streitpatents nicht vorgesehen ist.
Es mag sein, daß die Tatsache, daß sich die Rauchgastemperatur in Abhängigkeit vom Verschmutzungszustand des Kessels ändert, wie die Einspruchsabteilung im letzten Absatz auf Seite 7 ihrer Entscheidung argumentiert, eine Selbstverständlichkeit ist und daß die Tatsache, daß der Sollwert der Rauchgastemperatur oberhalb einer minimal zulässigen Rauchgastemperatur für die Rauchgasreinigung liegen soll, auch, wie im Absatz 1 auf Seite 7 der Widerrufsentscheidung festgestellt, selbstverständlich ist, es verbleiben trotzdem die oben genannten Neuheitsüberschüsse i) und ii) im Anspruch 1. Der Gegenstand des Verfahrensanspruchs 1 wie erteilt ist daher neu.
3.2. Der Gegenstand des geänderten Anspruchs 3 unterscheidet sich durch den gekennzeichneten Temperatursensor (13) und dem Regler (14) von dem im bisherigen Verfahren zitierten Stand der Technik und erfüllt somit die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ.
4. Da aus den vorstehenden Gründen dem Antrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich Anerkennung der Neuheit des Streitpatentgegenstandes im geänderten Umfang stattgegeben werden kann, erübrigt sich die Anberaumung einer hilfsweise von ihr beantragten mündlichen Verhandlung.
5. Zurückverweisung an die erste Instanz
Der Gegenstand des Streitpatents wurde erstinstanzlich nur auf Neuheit geprüft, und das Patent wurde wegen mangelnder Neuheit widerrufen. Da die Prüfung der in Artikel 56 EPÜ verlangten erfinderischen Tätigkeit von der Einspruchsabteilung nicht durchgeführt wurde, scheint es sachgerecht, mit der Durchführung des weiteren Verfahrens die Einspruchsabteilung zu betrauen, dies umsomehr, wenn, wie hier, beide Parteien darum gebeten haben.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.