T 0328/98 () of 26.10.2000

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2000:T032898.20001026
Datum der Entscheidung: 26 October 2000
Aktenzeichen: T 0328/98
Anmeldenummer: 90110531.2
IPC-Klasse: C08B 31/12
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Hydroexthylstärke als Plasma-expander und Verfahren zu ihrer Herstellung
Name des Anmelders: Fresenius AG
Name des Einsprechenden: Serum-Werk Bernburg AG
B. BRAUN MELSUNGEN AG
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Erfinderische Tätigkeit - nicht naheliegende Kombination bekannter Merkmale
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Erteilung des Europäischen Patents Nr. 0 402 724 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 90 110 531.2 der Fresenius AG, angemeldet am 2. Juni 1990 unter Beanspruchung einer DE Priorität vom 16. Juni 1989, wurde am 14. Februar 1996 bekanntgemacht.

II. Gegen das Patent wurde gestützt auf die Bestimmungen des Artikels 100 a) und c) EPÜ Einspruch erhoben von

Serum-Werk Bernburg AG (Einsprechende I) am 6. November 1996 und

B. Braun Melsungen AG (Einsprechende II) am 13. November 1996

und beantragt, das Patent in seinem gesamten Umfang zu widerrufen.

III. Mit der während der mündlichen Verhandlung am 28. Januar 1998 mündlich verkündeten und am 9. Februar 1998 schriftlich begründeten Zwischenentscheidung stellte die Einspruchsabteilung fest, daß das Patent in der während der mündlichen Verhandlung geänderten, zwei Anspruchsfassungen (Fassung A für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, DE, FR, GB, GR, IT, LI, LU, NL, SE; Fassung B für den Vertragstaat ES) enthaltenden Fassung den Bedingungen des EPÜ genüge.

Die dieser Entscheidung zugrundeliegenden unabhängigen Ansprüche 1, 3 und 7 der Anspruchsfassung A lauten:

"1. Hydroxyethylstärke zum Einsatz als Plasmaexpander, erhältlich durch hydrolytischen Vor-Abbau einer an Amylopektin reichen Stärke, partielle Hydroxyethylierung bis zu einem bestimmten Substitutionsgrad in Gegenwart von Alkali und anschließendem hydrolytischen Abbau auf ein bestimmtes Molekulargewicht, dadurch gekennzeichnet, daß

sie ein mittleres Molekulargewicht Mw von 80.000 bis 300.000 und einen Substitutionsgrad MS von 0,2 bis 0,4 aufweist,

das Verhältnis der Substitution an C2 zur Substitution an C6 der Anhydroglucoseeinheiten 8 bis 20. beträgt und

der Substitutionsgrad DS im Bereich von 0,15 bis 0,40 liegt."

"3. Verfahren zur Herstellung von Hydroxyethylstärke nach Anspruch 1, bei dem

a) Stärke die einen Gehalt an Amylopektin von >95% aufweist, mit Methanol vorextrahiert wird,

b) die Stärke durch Säurehydrolyse auf ein bestimmtes mittleres Molekulargewicht gebracht wird,

c) die Stärke einer Alkaliwäsche unterworfen wird,

d) die Stärke mittels eines Hydroxyethylierungsmittels unter alkalischen Bedingungen hydroxyethyliert wird,

e) das Molekulargewicht durch Säurehydrolyse genau eingestellt wird,

f) die so erhaltene Hydroxyethylstärke gereinigt und g) sprühgetrocknet wird,

dadurch gekennzeichnet, daß als

Hydroxyethylierungsmittel 2-Chlorethanol verwendet wird und die Hydroxyethylierung unter alkalischen Bedingungen bei Raumtemperatur durchgeführt wird."

"7. Verwendung von Hydroxyethylstärke nach mindestens einem der vorhergehenden Ansprüche bei der Herstellung eines kolloidalen Plasmaersatzmittels."

Die weiteren Ansprüche 2 und 4 bis 6 der Fassung A sind von den Ansprüchen 1 bzw. 3 abhängig.

Die Ansprüche 1 und 2 der Fassung B entsprechen inhaltlich den entsprechenden Ansprüchen der Fassung A, sind jedoch auf die Verwendung der Hydroxyethylstärke gerichtet. Die Ansprüche 3 bis 6 der Fassung B entsprechen denselben Ansprüchen der Fassung A.

IV. Die genannte Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung stellte fest, daß der beanspruchte Gegenstand nicht über die Erstoffenbarung hinausgehe und gegenüber dem zitierten Stand der Technik die materiellen Voraussetzungen der Patentierbarkeit erfülle. Insbesondere sei der Gegenstand von Anspruch 1 gegenüber der Entgegenhaltung

D5: J.M. Mishler, Int. J. Clinical Pharm., 18(2), 1980, 67 bis 72,

neu, weil das Molekulargewicht Mw, der Substitutionsgrad MS und das Substituentenverhältnis C2/C6 der dort offenbarten Hydroxyethylstärken (HES) außerhalb der anspruchsgemäß spezifizierten Bereiche liege.

Die patentgemäß beanspruchten HES seien auch erfinderisch, weil es für den Fachmann nicht nahelag, den Substitutionsgrad MS der den nächstliegenden Stand der Technik bildenden in der Entgegenhaltung

D1: K. Sommermeyer et al., Krankenhauspharmazie, 8(8), 1987, 271 bis 278

offenbarten HES 200/0,62 herabzusetzen, wenn er, unter Beibehaltung des Volumeneffekts, deren Abbau im menschlichen Organismus beschleunigen wollte, weil diesfalls gemäß D5 mit dem Auftreten von Hyperglykämien zu rechnen gewesen sei. Die Lösung der genannten Aufgabe sei auch durch die von der Patentinhaberin vorgelegten Vergleichsversuche ausreichend belegt.

V. Gegen diese Zwischenentscheidung haben unter jeweils gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr Beschwerde eingelegt:

die Einsprechende I (Beschwerdeführerin I) am 2. April 1998 und

die Einsprechende II (Beschwerdeführerin II) am 1. April 1998.

Die Beschwerdebegründungen der beiden Beschwerdeführerinnen wurden jeweils am 9. Juni 1998 eingereicht.

VI. Ein vorläufiger Kommentar des Berichterstatters der Kammer wurde den Parteien mit der am 11. April 2000 datierten Anlage zur Ladung für die mündliche Verhandlung am 26. Oktober 2000 zugestellt.

Ergänzende Vorträge der Beschwerdeführerin I datieren vom 20. Oktober 1999 und vom 21. September 2000; der Beschwerdeführerin II vom 20. September 2000.

VII. In ihren Schriftsätzen sowie im Verlaufe der mündlichen Verhandlung machten die Beschwerdeführerinnen im wesentlichen folgende Ausführungen:

i) Die in D1 offenbarte HES 200/0,62 (Mw 200.000, MS 0,62) stelle den nächstliegenden Stand der Technik dar, weil sie bezüglich des Volumeneffekts als Blutplasmaexpander besonders wirksam sei und sich von den HES gemäß dem Streitpatent nur durch den höheren molaren Substitutionsgrad MS unterscheide.

ii) Es sei naheliegend, die Aufgabe einer Verringerung der Kumulation dieser HES im Plasma durch eine Reduktion des MS zu lösen, weil D1 schon offenbare, daß dadurch der alpha-Amylase-Abbau der HES erleichtert werde. Die Beibehaltung des hohen Substitutionsverhältnisses C2/C6 der HES 200/0,62 sichere hingegen wegen der damit verbundenen, ebenfalls in D1 offenbarten langsamen Abbaukinetik eine ausreichende Volumenwirksamkeit in den ersten Stunden nach der Infusion.

iii) Der in Fig. 9 der gutachtlich erwähnten Entgegenhaltung

D24: DE-A-4 310 974

dargestellte HES-Kumulationseffekt bei Mehrfachinfusionen von patentgemäßer HES 130/0,4 (d. h. Mw 130.000, MS 0,4) zeige, daß es - entgegen der Angabe im Streitpatent - patentgemäß innerhalb von 6 bis 12 Stunden nach der Infusion nicht zu einer restlosen HES-Elimination aus dem Kreislauf komme.

iv) Nicht bezweifelt werde aber, daß die patentgemäße HES 130/0,4 aufgrund des niedrigeren MS tatsächlich schneller eliminiert werde als eine Vergleichs-HES 200/0.5 (d.h. Mw 200.000, MS 0,5) gemäß D1.

v) Gerade deshalb sei es aber nicht glaubhaft, daß die Volumenwirksamkeit der HES 130/0,4 über den erforderlichen Zeitraum aufrechterhalten werden könne, weil mit dem rascheren Abbau eine ebensolche Konzentrationsverminderung einhergehe, die zwangsläufig zu einem verminderten kolloid-osmotischen Druck führe.

vi) Der Hinweis in D5, wonach bei MS-Werten unter 0.7 die Gefahr einer Hyperglykämie bestehe, stelle kein Vorurteil gegen eine Erniedrigung des Substitutionsgrads MS dar, weil

vi-1) es sich dabei um eine isolierte Offenbarung, die in späterer Literatur nicht mehr auftauche, und nicht um eine gefestigte Meinung der Fachwelt handle,

vi-2) eine solche Schlußfolgerung durch

D28: Thompson et al., "Persistance of Starch Derivatives and Dextran when infused after hemmorrhage", J.Pharm.Exp.Ther. 136 (1962) 125 to 132) und

D39: Mishler et al., J.Lab.clin.Med. 94, 841-847, 1979b,

auf die D5 Bezug nimmt, gar nicht gestützt sei,

vi-3) durch die Verwendung einer HES mit einem MS-Wert von 0,4 in Experimenten an Menschen gemäß

D16: W.L. Thompson, Develop. biol. Standard, 48, 1981, 259 bis 266

gezeigt sei, daß der Autor von D28 selbst kein derartiges Vorurteil hatte,

vi-4) niedrigsubstituierte HES-Präparate, wie das HAES-steril(R) der Beschwerdegegnerin selbst, im Handel seien, ohne daß ein Hyperglykämie-Effekt bekannt wurde, und schließlich

vi-5) auch aus der grundsätzlichen Erwägung, daß menschliche alpha-Amylase HES überhaupt nicht bis zu Glucose abbauen könne.

vii) Schließlich sei Anspruch 1 jedenfalls zu breit, weil nicht alle der beanspruchten HES-Varianten die gestellte technische Aufgabe lösten. Die Beschwerdeführerin II legte dazu mit dem Schriftsatz vom 20. September 2000 Vergleichsversuche mit einer Test-HES mit niedrigerem Substitutionsverhältnis C2/C6 und mit einer HES 200/0.5 vor, die ähnliche zeitliche Verläufe der Glucosekonzentration im Blut und der kumulativen renalen HES-Ausscheidung sowie unterschiedliche Eliminationsgeschwindigkeiten zeigten.

VIII. Mit Schriftsatz vom 22. September 2000 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) zwei Hilfsanträge mit je drei Ansprüchen ein.

i) Anspruch 1 des 1. Hilfsantrags unterscheidet sich von dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 1 nur dadurch, daß der Bereich des Substitutionsgrads MS von "0,2 bis 0,4" auf "0,25 bis 0,4" verengt wurde.

Anspruch 2 des 1. Hilfsantrags unterscheidet sich von dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 2 nur dadurch, daß der Bereich des Substitutionsgrads DS von "0,2 bis 0,35" auf "0,25 bis 0,35" verengt wurde.

Anspruch 3 des 1. Hilfsantrags entspricht dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 7.

ii) Anspruch 1 des 2. Hilfsantrags unterscheidet sich von dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 1 durch Änderung der Bereiche

(1) des Substitutionsgrads MS von "0,2 bis 0,4" auf "0,3 bis 0,4",

(2) des Substitutionsverhältnises C2/C6 von "8 bis 20" auf "8 bis 16" und

(3) des Substitutionsgrads DS von "0,15 bis 0,40" auf "0,25 bis 0,4".

Anspruch 2 des 1. Hilfsantrags unterscheidet sich von dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 2 dadurch, daß (1) der Bereich des Substitutionsverhältnises C2/C6 von "8 bis 20" auf "8 bis 15 verengt wurde und (2) die Definition des Substitutionsgrads DS weggelassen wurde.

Anspruch 3 des 2. Hilfsantrags entspricht dem der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden Anspruch 7.

IX. Während der mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdegegnerin eine bezüglich Anspruch 1 korrigierte Version der Anspruchsfassung für den Vertragsstaat ES ein.

X. Die in ihren Schriftsätzen vom 18. Mai 1998, 1. September 1999, 22. September 2000, 26. September 2000 und 16. Oktober 2000 sowie im Verlaufe der mündlichen Verhandlung gemachten Ausführungen der Beschwerdegegnerin können wie folgt zusammengefaßt werden.

i) Im Hinblick auf die zu lösende Aufgabe, nämlich die Vermeidung einer Akkumulation von HES im Kreislauf, stelle der in D1 offenbarte Typ HES 200/0,5 für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wegen der dort offenbarten schnelleren Elimination aus dem Kreislauf einen geeigneteren Ausgangspunkt dar als der viel stärker akkumulierende Typ HES 200/0,62.

ii) Gegenüber der HES 200/0,5 sei die patentgemäße HES-Spezifikation erfinderisch, weil für den Fachmann kein Anlaß bestand, ihr Substitutionsverhältnis C2/C6 von ca. 5 in den patentgemäß erforderlichen Bereich von 8 bis 20 zu erhöhen, da eine solche Maßnahme gemäß D1 einem schnellen HES-Abbau entgegenwirke, so daß auf diese Weise eine Verfehlung des Ziels einer schnelleren Kreislauf-Eliminierung zu befürchten war.

iii) Die Dokumente

D32: Critical Care 1999, Vol. 3, Suppl. 1, Seite 77,

D33: Graphische Gegenüberstellung des zeitlichen Verlaufs der Plasma-HES-Konzentrationen von HES 130/0,4 und 200/0,5,

D33a: Graphische Gegenüberstellung des zeitlichen Verlaufs des Molekulargewichtsabbaus von HES 130/0,4 und 200/0,5,

D33b: Graphische Gegenüberstellung des zeitlichen Verlaufs des Kolloidosmotischen Drucks von HES 130/0,4 und 200/0,5

D35: AINS, Suppl.3 (Juni 1998) Seite 397, 10th European Congress of Anaesthesiology (ECA), Frankfurt 1998 und

D35a: Seite 12, Tabelle V von D35

bewiesen, daß die patentgemäße HES 130/0,4 die Aufgabe der Bereitstellung einer HES mit reduzierter Akkumulation im Kreislauf bei bestehender Volumeneffizienz löse.

iv) Die in D5 offenbarte Erkenntnis, daß eine Senkung des MS-Werts von 0,70 auf 0,43 bei Menschen zu Hyperglykämie führen könne, sei authentisch und stütze sich auf eigene Arbeiten des Autors von D5. Diese Tatsache könne auch durch den Hinweis nicht aus der Welt geschafft werden, daß der Fachmann gewußt hätte, daß HES im menschlichen Organismus durch alpha-Amylase nicht zu Glucose abgebaut werde; vielmehr zeigten die Entgegenhaltungen

D29: Sipple et al. "Sugars in Nutrition" in Academic Press, 1974, Seiten 309 bis 312 (insbesondere Seite 310),

D30a: Römpp Lexikon Biotechnologie, Georg Thieme Verlag, Seite 51, Stichwort alpha-Amylase,

D30b: Roche Lexikon Medizin, 2. neubearbeitete Auflage, Verlag Urban & Schwarzenberg, Seite 61, Stichwort Amylasen und

D31: Dokumenta Geigy Wissenschaftliche Tabellen, 6, Auflage (1960), Seite 534

daß alpha-Amylase durchaus in der Lage sei, Stärke über Maltose bis zu Glucose abzubauen.

v) Nach Auffassung der Beschwerdegegnerin sei die Breite des Anspruchs 1 weder unter Artikel 84 noch unter Artikel 83 EPÜ zu beanstanden.

XI. Die Beschwerdeführerinnen beantragten die Aufhebung der angefochtenen Zwischenentscheidung und den vollständigen Widerruf des Europäischen Patents Nr. 402 724.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen, mit der Maßgabe, daß die Patentansprüche für den Vertragsstaat ES die Fassung gemäß der Eingabe in der mündlichen Verhandlung erhalten, hilfsweise, das Patent auf der Grundlage der am 23. September 2000 eingereichten Hilfsanträge aufrechtzuerhalten.

Zur Frage der Zulässigkeit der Hilfsanträge nach Artikel 123 (2) EPÜ beantragte die Beschwerdegegnerin in ihrem Schriftsatz vom 22. September 2000 hilfsweise die Große Beschwerdekammer mit der Frage zu befassen, ob alle zwischen den Grenzwerten eines offenbarten Mengenbereichs liegenden Zwischenwerte als offenbart und beanspruchbar gelten.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerden sind zulässig.

2. Artikel 114 (1) EPÜ (Berücksichtigung spät eingereichter Beweismittel)

Die erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens eingereichten Beweismittel, darunter D28, D32, D33, D33a, D33b, D35, D35a und D39, werden von der Kammer berücksichtigt, weil sie der Klärung von Zusammenhängen dienen, die für die angefochtene Entscheidung von Bedeutung sind, weil sie von allen Parteien schon im schriftlichen Beschwerdeverfahren kommentiert wurden und diese somit ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.

3. Artikel 123 (2) und (3) EPÜ

3.1. In den Punkten 2.1 und 2.2 der angefochtenen Entscheidung wurde festgestellt, daß die jener zugrundeliegenden Ansprüche, die im vorliegenden Beschwerdeverfahren als Hauptantrag aufrechterhalten wurden, den Bestimmungen des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ genügen. Dies wurde von den Beschwerdeführerinnen nicht bestritten und auch die Kammer sieht keinen Grund, dies in Zweifel zu ziehen.

3.2. Die in Anspruch 1 der Anspruchsfassung B für den Vertragsstaat ES angebrachte Änderung (Einfügung der Verwendungsbestimmung: "bei der Herstellung eines kolloidalen Plasmaersatzmittels") stellt eine Korrektur der versehentlichen Streichung dieses Merkmals aus Anspruch 1 der erteilten Fassung vor der Einspruchsabteilung dar, deren Zulässigkeit nicht in Frage steht.

3.3. Die Beurteilung der Zulässigkeit der Hilfsanträge 1 und 2. (cf. Punkt VIII supra) nach Artikel 123 EPÜ erübrigt sich im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens, i.e. die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung mit der vorerwähnten Korrektur des Anspruchs 1 der Anspruchsfassung für ES (cf. folgender Punkt 10).

4. Stand der Technik

4.1. Entgegenhaltung D1

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der physikalisch-chemischen Charakterisierung klinisch verwendeter Hydroxyethylstärken, die als kolloidale Plasmaersatzmittel eingesetzt werden.

Die Tabelle auf Seite 277 offenbart folgende HES-Typen:

Produkt.....HES 200/0,5........HES 200/0,5....HES 200/0,62

............(Mittelwert aus 30.("A" Charge 1).("B", Charge 1)

............HES 200/0,5...................................

............"FRESENIUS-...................................

............Rohstoffen")..................................

MS...............0,48 ± 0,03...........0,45............0,60

DS...............0,43 ± 0,02...........0,40............0,50

C2-Substitution.19,8 ± 0,8............21,3............29,1

C6-Substitution..4,3 ± 0,1.............3,8.............3,2

Substitutions- 4,6...................5,6.............9,1

verhältn. C2/C6..........................................

Auf Seite 276, rechte Spalte, beginnend mit dem vorletzten Absatz ist ausgeführt, daß die Resistenz gegenüber alpha-Amylase-Abbau mit steigendem Substitutionsgrad MS zunimmt (d. h. effektiverer Abbau bei kleinerem MS) und daß 6-hydroxyethylsubstituierte HES schneller gespalten wird als 2-hydroxyethylsubstituierte HES (d. h. langsamerer Abbau bei größerem Substitutionsverhältnis C2/C6).

Im Anschluß daran wird auf Seite 277, linke Spalte, 1. Absatz festgestellt: "Daraus ergibt sich, daß Stärke B [HES 200/0,62] bei höherem Substitutionsgrad MS und bei gleichem deklarierten Mw wie HES 200/0,5 Fresenius vermutlich eine erheblich langsamere Elimination beim In-vivo-Versuch aus dem Kreislauf aufweisen müßte. Dies wird auch in der Tat gemessen, ....".

4.2. Entgegenhaltung D5

Diese Entgegenhaltung beschäftigt sich mit dem Einfluß des Molekulargewichts und des Substitutionsgrads MS von Hydroxyethylstärke auf seine intravaskuläre Persistenz.

Auf Seite 68, rechte Spalte, Abschnitt "Control of in-vivo intravascular persistence - Influence of hydroxyethylation - Experimental animal models" ist unter Hinweis auf die Entgegenhaltung D28 angegeben, daß in Hunde-Versuchen die Halbwertszeit IT50 bei gegebenem Mw erhöht werden kann durch Erhöhung des MS und bei gegebenem MS durch Erhöhung des Mw.

Weiters wird dort festgestellt, daß bei Erniedrigung des MS Hyperglykämie beobachtet wurde.

Auf Seite 69, linke Spalte wird unter der Teilüberschrift "Clinical models" und unter Hinweis auf die Entgegenhaltung D39 ausgeführt, daß Hyperglykämie bei Menschen beobachtet wurde, wenn der MS auf 0,43 reduziert wurde.

5. Neuheit

Die Neuheit des Gegenstands des Streitpatents im Umfang aller Ansprüche beider Anspruchsfassungen A und B wurde im Beschwerdeverfahren nicht mehr bezweifelt und auch die Kammer ist im Hinblick auf den zitierten Stand der Technik davon überzeugt.

6. Nächstliegender Stand der Technik

6.1. Es besteht zwischen den Parteien Einigkeit darüber, daß die Entgegenhaltung D1 den zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevantesten Stand der Technik offenbart. Während aber die Beschwerdeführerinnen die HES 200/0,62 (Seite 277, Tabelle 2, "B" Charge 1) wegen ihrer ausgezeichneten Volumenwirksamkeit als geeignetsten Ausgangspunkt sehen, ist die Beschwerdegegnerin der Auffassung, die HES 200/0,5 (Seite 277, Tabelle 2, "A" Charge 1) käme der beanspruchten Erfindung deshalb näher, weil D1 auf Seite 277, linke Spalte, erster Absatz unter der Tabelle 2. offenbart, daß dieser HES-Typ schneller aus dem Kreislauf eliminiert werde und somit der patentgemäßen Aufgabe einer raschen Elimination aus dem menschlichen Körper (cf. Seite 11, 2. Absatz der ursprünglichen Anmeldung) besser entspreche.

6.2. Nach Meinung der Kammer spielt es für die Beurteilung des Naheliegens oder Nicht-Naheliegens des Gegenstandes des Streitpatents keine Rolle, ob von der HES 200/0,5 oder von der HES 200/0,62 als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen wird, weil die Maßnahmen, die der Fachmann treffen muß, um zum Patentgegenstand zu gelangen, in beiden Fällen analoge Überlegungen erfordern. Zwar unterscheidet sich die HES 200/0,62 von der HES-Definition gemäß Anspruch 1 (in der Fassung der angefochtenen Entscheidung) nur durch einen zu hohen MS von 0,62 (gegenüber "0,2 bis 0,4" nach Anspruch 1) und - damit zusammenhängend - durch einen zu hohen DS von 0,50 (gegenüber "0,15 bis 0,4" nach Anspruch 1), während die HES 200/0,5 zusätzlich auch ein zu niedriges Substitutionsverhältnis C2/C6 von etwa 5,6 (gegenüber "8 bis 20" nach Anspruch 1; cf. die Tabelle in Punkt 4.1 supra) aufweist. Um von der HES 200/0,62 bzw. von der HES 200/0,5 zur patentgemäßen HES zu gelangen, muß der Fachmann aber in beiden Fällen Entscheidungen zu MS (und damit auch zu DS, weil ein niedriger MS, d. h. eine niedrige durchschnittliche Substitution im Normalfall gleichbedeutend ist mit einem niedrigen Anteil an substituierten Anhydroglucoseeinheiten DS: cf. D1, Seite 273, Abschnitt "Substitutionsgrade") und zum Substitutionsverhältnis C2/C6 machen: im Falle der HES 200/0,62 muß entschieden werden, dieses Verhältnis groß zu belassen (cf. Tabelle 1 in Punkt 4.1: Substitutionsverhältnis C2/C6 = 9,1), obwohl damit eine Verzögerung im HES-Abbau in Kauf genommen wird, im Falle der HES 200/0,5 muß trotz des vorgenannten gegenläufigen Effekts entschieden werden, dieses Verhältnis zu vergrößern.

7. Technische Aufgabe

7.1. Der ursprünglichen Anmeldung ist auf Seite 9, 2. Absatz die Aufgabe zu entnehmen, eine HES zur Verfügung zu stellen, die "innerhalb einer physiologisch vernünftigen Zeit restlos abbaubar ist."

Diese Aussage ist in Zusammenhang zu sehen mit der Feststellung im von Seite 8 auf Seite 9 überleitenden Absatz, wonach die HES-Typen des Standes der Technik "keine vollständige Abbaubarkeit aus dem Plasma innerhalb einer Zeitspanne von ca. 6-12 Stunden gewährleisten und außerdem, aufgrund ihres hohen Substitutionsgrades MS (MS > 0,5) die Gefahr in sich bergen, daß bei den üblichen Wiederholungsinfusionen über längere Zeiträume eine Akkumulation von schwer eliminierbaren Anteilen im Serum und im Gewebe entsteht. Durch diese Langzeitspeicherung kann es zu allergischen Reaktionen, wie z. B. Nesselfieber etc., kommen."

7.2. Aus diesen Aussagen kann abgeleitet werden, daß die Aufgabe des Streitpatents gegenüber den in D1 offenbarten HES-Typen darin bestand, eine HES bereitzustellen, die so rasch abgebaut wird, daß sie bei Wiederholungsinfusionen im Organismus nicht kumuliert. Natürlich muß eine solche HES zugleich die primäre Aufgabe eines Plasmaexpanders erfüllen, nämlich die Sicherstellung einer Volumenwirkung für eine gewisse Zeitspanne, d. h. eines ausreichenden kolloid-osmotischen Drucks im Kreislauf.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß alle Aspekte dieser Aufgabe sich an der Praxis, d. h. an der klinischen Relevanz orientieren müssen und es, entgegen einer wortwörtlichen Auslegung der Forderung einer "restlosen" Abbaubarkeit in den Anmeldungsunterlagen (Seite 9, 2. Absatz), nicht auf einen zwar analytisch nachweisbaren, klinisch aber nicht relevanten Restgehalt an HES im Organismus ankommt.

8. Lösung der technischen Aufgabe

8.1. Gemäß Anspruch 1 in der Fassung A nach der angefochtenen Entscheidung soll diese Aufgabe gegenüber den in D1 offenbarten HES-Typen 200/0,5 und 200/0,62 im wesentlichen durch eine Reduktion des MS in den Bereich von 0,2 bis 0,4 (bzw. des DS in den Bereich 0,15 bis 0,40) und die Einstellung des Substitutionsverhältnisses C2/C6 in den Bereich 8 bis 20 gelöst werden.

8.2. Die Kammer ist aus folgenden Gründen davon überzeugt, daß die in 7.2 definierte Aufgabe durch die in Punkt 8.1 supra erwähnten Maßnahmen gelöst wird.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß im Einspruchsbeschwerdeverfahren die Beweislast für die Unrichtigkeit plausibler Tatsachendarstellungen und Argumente der Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin bei den Beschwerdeführerinnen liegt.

8.2.1. Abbaubarkeit, Akkumulation im Kreislauf

i) Es bestand in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer darüber Einvernehmen zwischen den Parteien, daß für die klinische Anwendbarkeit einer HES als Plasmaexpander in allererster Linie das Verhalten im Kreislauf Bedeutung hat. Die Frage der Speicherung der HES in bestimmten Organen, die auf Basis der im Schriftsatz der damaligen Patentinhaberin vom 23. Dezember 1997 offenbarten Radioaktivitätsmessungen (cf. insbesondere Tabelle auf Seite 4) in Punkt 5.5 der angefochtenen Entscheidung behandelt wurde, ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung, zumal diese Messungen für die patentgemäße HES 130/0,4 und für die Vergleichs-HES 200/0,5 nur sehr geringe Rest-Speichermengen nach 52 Tagen zeigen, deren klinische Relevanz nicht untersucht wurde.

Es ist auch nicht strittig zwischen den Parteien, daß die patentgemäßen HES-Typen, wie in D1 offenbart, infolge ihrer reduzierten MS-Werte tatsächlich schneller abgebaut werden als die höhersubstituierten HES-Typen 200/0,5 und 200/0,62 gemäß D1.

Dies wird auch durch das Dokument D33, eine graphische Darstellung der Abhängigkeit der Plasma-HES-Konzentration von der Zeit, bestätigt. D33 zeigt für die patentgemäße HES 130/0,4 gegenüber der Vergleichs-HES 200/0,5 einen erheblich schnelleren Konzentrationsabfall zu bedeutend niedrigeren Plasma-Konzentrationen.

ii) Dieser rasche Konzentrationsabfall bezeugt, daß die patentgemäße HES 130/0,4 schneller aus dem Kreislauf eliminiert wird als die Vergleichs-HES 200/0,5. Daß die Elimination ausreichend rasch dafür erfolgt, daß es im Falle von Wiederholungsinfusionen nicht zu einer unerwünschten HES-Akkumulation kommt, zeigt Fig. 1 der Entgegenhaltung D32. Danach unterscheidet sich die HES-Plasmakonzentration nach der zehnten von zehn Infusionen von je 500 ml einer 10%igen Lösung von HES 130/0,4 im Abstand von jeweils 24 Stunden kaum von der HES-Plasmakonzentration nach der ersten Infusion.

Dieses experimentelle Ergebnis widerlegt die von den beweispflichtigen Beschwerdeführerinnen auf der Basis der Fig. 9 der Entgegenhaltung D24 angestellte Vermutung, daß fortgesetzte Wiederholungsinfusionen von HES 130/0,4 (in Fig. 9 ist zwar HES 130/0,5 angegeben, aus Beispiel 1 (Seite 3, Zeilen 43 bis 47) wird aber klar, daß der MS dieser HES nur 0,396 betrug) zu einer inakzeptablen HES-Akkumulation im Kreislauf führten. Zwar zeigt diese Fig. 9 nach fünf Wiederholungsinfusionen ein gewisses Ansteigen der nach jeweils 24 Stunden (1440 Minuten) verbliebenen HES-Plasma-Restkonzentration, dieses Resultat ist aber weniger überzeugend als das in D32 offenbarte Resultat, weil es auf einer erheblich weniger aussagekräftigen Versuchsanordnung, und zwar der gemäß Beispiel 4 von D24 (Seite 4, Zeilen 55 bis 67), beruht. Danach wurden acht männlichen Probanden (D32: zwölf Probanden) an fünf aufeinanderfolgenden Tagen (D32: zehn Tage) jeweils 500 ml einer 6%igen Lösung (D32: 10%ige Lösung) von HES 130/0,4 infundiert.

iii) Die Teilaspekte der vorliegenden technischen Aufgabe, nämlich eine raschere Abbaubarkeit und klinisch nicht relevante Akkumulation der patentgemäßen HES im Kreislauf, können somit als gelöst gelten.

8.2.2. Volumeneffekt

Daß auch dieser Aspekt der technischen Aufgabe durch eine unter Anspruch 1 des Streitpatents in der gültigen Fassung fallende HES gelöst wird, beweisen die Dokumente D33b, D35 und D35a.

D33b zeigt in Form eines Balkendiagramms den zeitlichen Verlauf des kolloid-osmotischen Drucks (COP) einer patentgemäßen HES 130/0,4 gegenüber einer Vergleichs-HES 200/0,5 bis einen Tag nach der Operation. Zwar ist der COP der HES 130/0,4 im zeitlichen Verlauf an einzelnen Meßpunkten etwas niedriger als der der HES 200/0,5, diese Erniedrigung ist aber insignifikant und korreliert größenordnungsmäßig in keiner Weise mit der in D33 dargestellten erheblichen Abnahme der Massenkonzentration (cf. Punkt 8.2.1 supra). Dadurch ist die Annahme der Beschwerdeführerinnen widerlegt, daß mit der rascheren Abnahme der Massenkonzentration zwangsläufig auch eine ebenso rasche Abnahme der Volumenwirksamkeit einhergeht.

Diese Tatsache wird durch die Dokumente D35 und D35a bestätigt, die über den Volumeneffekt von HES 130/0,4 und HES 200/0,5 bei Herzoperationen berichten. D35 faßt unter "Results" zusammen, daß die Flüssigkeitsbilanz, die Hämodynamik und auch der COP bei beiden HES-Typen vergleichbar sind. Diese Schlußfolgerung entspricht der in Tabelle V des Dokuments D35a dargestellten Flüssigkeitsbilanz während und bis zu 16 Stunden nach der Operation, die in beiden Fällen (HES 130/0,4 und HES 200/0,5) sehr ähnlich ist (siehe den Abschnitt "Totals OR + ICU (ml)"["OR" = operation room; "ICU" = intensive care unit]). Dem Gegenargument der Beschwerdeführerinnen, die Aussage über den "vergleichbaren COP-Wert" in D35 beruhe auf einer unvollständigen Isolierung der HES-Bilanz von anderen Infusionslösungen, insbesondere den "Crystalloids" ist durch die Ergebnisse in D35a der Boden entzogen.

8.3. Die in Anspruch 1 spezifizierte HES löst somit die in Punkt 7.2 definierte technische Aufgabe.

8.4. Es besteht auch kein Anlaß daran zu zweifeln, daß diese Aufgabe von im wesentlichen allen unter den Anspruch 1 fallenden HES-Varianten gelöst wird, weil von den Beschwerdeführerinnen keine schlüssigen Beweismittel für die gegenteilige Behauptung vorgelegt wurden. Daß es gemäß dem "Vergleichsversuch" der Beschwerdeführerin II vom 20. September 2000 möglich sein kann, diese technische Aufgabe auch mit HES-Typen zu lösen, deren MS-Wert und Substitutionsverhältnis C2/C6 außerhalb der patentgemäßen Bereiche liegen ("Test-HES": cf. Seite 2, Zeilen 1 bis 2 des "Vergleichsversuchs"), ist für diese Fragestellung ohne Bedeutung.

9. Naheliegen

9.1. Die Beurteilung des Vorliegens einer erfinderischen Tätigkeit hängt davon ab, ob es ausgehend von D1 naheliegend war, die vorliegende technische Aufgabe (cf. Punkt 7.2 supra) durch die Kombination der in Anspruch 1 spezifizierten Merkmale, insbesondere durch die Wahl eines Substitutionsgrades MS von 0,2 bis 0,4, eines Substitutionsgrades DS von 0,15 bis 0,40 und eines Substitutionsverhältnisses C2/C6 von 8 bis 20, zu lösen.

Da zwischen MS und DS ein unmittelbarer Zusammenhang besteht (weil ein niedriger MS, d. h. eine niedrige durchschnittliche Substitution im Normalfall gleichbedeutend ist mit einem niedrigen Anteil an substituierten Anhydroglucoseeinheiten DS (cf. Punkt 6.2 supra)), haben die Parteien unter Annahme eines Gleichlaufs dieser beiden Substitutionsparameter ihre Diskussion auf das Naheliegen des Substitutionsgrades MS beschränkt. Die Kammer sieht keinen Anlaß, von dieser Betrachtungsweise abzuweichen.

9.2. Aus der Offenbarung von D1 ist zu folgern, daß im Hinblick auf die zu lösende technische Aufgabe die Konzeption einer HES mit der patentgemäßen Kombination einer niedrigen MS von 0,2 bis 0,4 und eines hohen Substitutionsverhältnis C2/C6 nicht nahelag.

9.2.1. Zunächst ist festzustellen, daß in D1 trotz der Erkenntnis, daß ein niedriger MS einer schnellen Elimination aus dem Kreislauf förderlich ist (cf. Punkt 4.1. supra), keine HES mit einem MS unter 0,5 offenbart ist und daß die in D1 offenbarte HES mit dem höchsten MS-Wert von 0,62 auch das höchste Substitutionsverhältnis C2/C6 aufweist (cf. Seite 277, Tabelle 2). Da alle in D1 offenbarten HES-Typen kolloidale Plasmaersatzmittel sind (cf. Seite 271, Zusammenfassung), kann allein aus diesem Sachverhalt geschlossen werden, daß es nicht prima facie nahelag, die gestellte technische Aufgabe in der patentgemäßen Form zu lösen.

9.2.2. Selbst wenn man aber annimmt, daß der Fachmann aus D1 die Lehre gezogen hätte, daß als Plasmaexpander wirksame HES-Typen mit vorteilhafter schneller Abbaubarkeit durch Reduktion des MS unter 0,4 bereitgestellt werden können, könnte D1 den Fachmann keinesfalls dazu anleiten, solche HES-Typen mit einem hohen Substitutionsverhältnis C2/C6 von 8 bis 20 auszustatten. Im Gegenteil, kann aus der Aussage im letzten Absatz der rechten Spalte von Seite 276, wonach 6-hydroxyethylsubstituierte HES schneller gespalten wird als 2-hydroxyethylsubstituierte HES, nur der Schluß gezogen werden, daß der Fachmann zur Verbesserung der Abbaubarkeit ein niedriges Substitutionsverhältnis C2/C6 gewählt hätte.

9.2.3. Diese Schlußfolgerung des Nicht-Naheliegens der patentgemäßen HES kann auch durch die Interpretation der Entgegenhaltung D1 durch die Beschwerdeführerin II nicht umgestoßen werden, wonach der Fachmann aus den Ausführungen in dieser Entgegenhaltung zum Einfluß des Substitutionsgrads MS und des Substitutionsverhältnisses C2/C6 auf das HES-Abbauverhalten (cf. Punkt 4.1 supra) geschlossen hätte, daß das Substitutionsverhältnis C2/C6 für die Geschwindigkeit des HES-Abbaus (den Tangens der Kurve der zeitlichen Abhängigkeit des Konzentrationsrückgangs), der MS hingegen für den Abbaugrad (also die HES-Endkonzentration) zuständig sei, so daß der Fachmann die vorliegende technische Aufgabe zwangsläufig, gleichsam in einer "Einbahnstraßen-Situation", nur patentgemäß hätte lösen können.

Diese Argumentation beruht auf einer ex post facto Analyse, denn die Trennung der Abbaumechanismen in eine kinetische Komponente, für die nur das Substitutionsverhältnis C2/C6 zuständig ist, und in eine "fundamentale" Komponente, für die der MS zuständig ist, kann weder D1 so entnommen werden, noch entspricht sie allgemeinem Fachwissen.

Wenn in D1 (Seite 276, rechte Spalte, vorletzter Absatz) angegeben ist, daß die "Resistenz der Hydroxyethylstärke mit steigendem Substitutionsgrad MS gegenüber alpha-Amylase-Abbau" zunimmt, so drückt dies vielmehr nur aus, daß der Angriff der alpha-Amylase weniger effizient verläuft (weil weniger Angriffsmöglichkeiten für das Enzym vorliegen), ohne irgendeine Aussage zur Abbaugeschwindigkeit zu machen. Die Hypothese der Beschwerdeführerin II, der Fachmann hätte bezüglich der Abbaugeschwindigkeit MS außer acht lassen können, ist somit nicht belegt. Somit fällt auch die weitere Folgerung der Beschwerdeführerin II in sich zusammen, daß es nämlich für den Fachmann, der von der HES 200/0,62 als nächstliegendem Stand der Technik ausgeht, für die Beibehaltung deren langsamer Abbaugeschwindigkeit (und somit eines lange anhaltenden Volumeneffekts) nahelag, ihr hohes Substitutionsverhältnis C2/C6 beizubehalten, für die möglichst vollständige Abbaubarkeit aber allein auf einen niedrigen MS zu achten.

Darüber hinaus übersieht eine solch simplifizierte Interpretation des HES-Abbaus auch, daß eine zumindest sehr wesentliche HES-Abbauvariante über die HES-Aufnahme in Makrophagen verläuft, für die ganz andere kinetische Vorraussetzungen gelten müssen (cf. Gutachten der Einsprechenden I von Prof. Dr. Förster, eingereicht während des Einspruchsverfahrens mit Schriftsatz vom 18. Dezember 1997, Abschnitt 2.1 "Abbaubarkeit von HES" Seiten 8 und 9).

9.3. Bei diesem Sachverhalt erübrigt es sich, näher auf das Argument der Beschwerdegegnerin einzugehen, wonach die Aussagen in D5 (cf. Punkt 4.2 supra) bezüglich der Gefahr einer Hyperglykämie bei einer zu großen Absenkung des MS den Fachmann von der Realisierung einer HES mit einem patentgemäßen MS von 0,2 bis 0,4 abgehalten hätte.

Die Kammer weist allerdings auf die gefestigte Rechtsprechung hin, wonach ein "Vorurteil" nur berücksichtigt werden kann, wenn die Patentinhaberin, die dafür die Beweislast trägt, glaubhaft macht, daß die betreffenden Fachkreise am Prioritätstag einhellig der Auffassung waren, daß der Fachmann die in Frage stehende Maßnahme (hier patentgemäße Reduktion des MS) nicht getroffen hätte (cf. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 3. Auflage 1998, Seiten 157 bis 158, Abschnitt 7.2 "Vorurteil in der Fachwelt").

In diesem Sinne kann D5 allein, selbst wenn der darin offenbarte Hyperglykämie-Effekt sachlich korrekt auf in D28 und D39 berichtete Ergebnisse zurückgeht (worüber hier nicht entschieden werden muß), kein Vorurteil gegen eine Reduktion des MS in den patentgemäßen Bereich von 0,2 bis 0.4 begründen.

9.4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 in der Fassung A gemäß der angefochtenen Entscheidung lag somit weder gegenüber D1 noch gegenüber dem weiteren im Verfahren befindlichen Stand der Technik nahe.

9.5. Dieselbe Schlußfolgerung des Nicht-Naheliegens trifft a fortiori auch auf die weiteren unabhängigen und abhängigen Ansprüche beider Anspruchsfassungen A und B gemäß der angefochtenen Entscheidung (Anspruch 1 der Fassung B wie im Beschwerdeverfahren korrigiert: cf. Punkte IX und 3.2 supra) zu, die alle die Merkmale des Anspruchs 1 der Fassung A implizieren.

10. Die vom Streitpatent beanspruchten Gegenstände beruhen somit gegenüber dem zitierten Stand der Technik auf erfinderischer Tätigkeit.

11. Die Ansprüche und die Beschreibung entsprechen auch den übrigen Bestimmungen des EPÜ, insbesondere der Bedingung des Artikels 84 EPÜ, wonach die Ansprüche von der Beschreibung gestützt sein müssen.

12. Bei diesem Sachverhalt erübrigt sich eine Behandlung der Hilfsanträge und somit auch des Antrags der Beschwerdegegnerin zur allfälligen Befassung der Großen Beschwerdekammer (cf. Punkt XI).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Auflage, das Patent auf folgender Grundlage aufrechtzuerhalten: - Patentansprüche 1 bis 7 für die Vertragsstaaten AT, BE, CH, LI, DE, FR, GB, GR, IT, LU, NL, SE; - Patentansprüche 1 bis 6 für den Vertragsstaat ES in der Fassung vom 26. Oktober 2000; und - Beschreibung in der Fassung vom 28. Januar 1998;

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