T 0093/98 (TNF-hemmendes Protein/BASF) of 4.12.2001

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2001:T009398.20011204
Datum der Entscheidung: 04 Dezember 2001
Aktenzeichen: T 0093/98
Anmeldenummer: 90906924.7
IPC-Klasse: C07K 15/14
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Neue Proteine mit TNF-hemmender Wirkung und ihre Herstellung
Name des Anmelders: BASF Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: Inter-Lab Ltd.
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54(3)
European Patent Convention 1973 Art 87
European Patent Convention 1973 Art 88
European Patent Convention 1973 Art 89
European Patent Convention 1973 Art 123(2)
Schlagwörter: Prioritätsrecht (nein)
Auf der Anmeldung basierende Änderungen (ja)
Neuheit - Hilfsantrag 3 (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0002/98
T 0124/87
T 0012/90
T 0737/92
T 0323/97
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 15. Oktober 1997, mit der der gegen das die Prioritäten von DE 39 15 072 (9. Mai 1989) und DE 39 22 089 (5. Juli 1989) beanspruchende europäische Patent EP 0 471 701 gerichtete Einspruch zurückgewiesen wurde.

II. Diese Entscheidung wurde auf der Basis eines 8 Ansprüche enthaltenden erteilten Anspruchsatzes ("Hauptantrag") getroffen, dessen Anspruch 1 lautete:

"1. Proteine, welche in ihrer ursprünglich glykosylierten Form ein Molekulargewicht von etwa 42.000 Dalton besitzen und am N-Terminus die Aminosäuresequenz Xaa Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr Cys Arg Leu Arg Glu

aufweisen, worin Xaa ein Wasserstoffatom, einen Phenylalaninrest (Phe) oder die Aminosäuresequenzen Ala Phe, Val Ala Phe, Gln Val Ala Phe, Ala Gln Val Ala Phe, Pro Ala Gln Val Ala Phe oder Leu Pro Ala Gln Val Ala Phe darstellt, und deren Muteine, die durch geeigneten Austausch, Deletion oder Addition von Aminosäuren oder Peptiden oder durch Variation des Glykosidrestes entstehen, ohne daß dadurch die Wirkung der Proteine stark nachläßt."

III. Der von der Einsprechenden substantiiert vorgetragene Einspruchsgrund war lediglich Artikel 54 (3) EPÜ in Bezug auf Dokument (Y2) (cf. infra).

IV. Eine mündliche Verhandlung fand am 4. Dezember 2001 statt, in deren Verlauf die zwei neuen Hilfsanträge 1 und 3 vorgelegt wurden. Ein am 9. November 2001 eingereichter erster Hilfsantrag wurde als Hilfsantrag 2 deklariert.

Der während der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag 1 hatte 8 Ansprüche, von denen Anspruch 1 lautete:

"1. Proteine, welche in ihrer ursprünglich glykosylierten Form ein Molekulargewicht von etwa 42.000 Dalton bestimmt durch SDS-Gelelektrophorese besitzen, durch Trypsin nicht verdaubar ist [sic] und am N-Terminus die Aminosäuresequenz

Xaa Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr Cys Arg Leu Arg Glu

aufweisen, worin

Xaa ein Wasserstoffatom,

einen Phenylalaninrest (Phe) oder die

Aminosäuresequenzen

Ala Phe,

Val Ala Phe,

Gln Val Ala Phe,

Ala Gln Val Ala Phe,

Pro Ala Gln Val Ala Phe,

Leu Pro Ala Gln Val Ala Phe darstellt,

und deren Muteine, die durch geeigneten Austausch, Deletion oder Addition von Aminosäuren oder Peptiden oder durch Variation des Glykosidrestes entstehen; die eine TNF alpha-inhibierende Wirkung aufweisen."

Hilfsantrag 2 bestand aus 8 Ansprüchen, von denen Anspruch 1 lautete:

"1. Proteine, welche in ihrer ursprünglich glykosylierten Form ein Molekulargewicht von etwa 42.000 Dalton besitzen und am N-Terminus die Aminosäuresequenz Xaa Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr Cys Arg Leu Arg Glu

aufweisen, worin

Xaa ein Wasserstoffatom,

einen Phenylaninrest (Phe) oder die Aminsäuresequenzen

Ala Phe,

Val Ala Phe,

Gln Val Ala Phe,

Ala Gln Val Ala Phe,

Pro Ala Gln Val Ala Phe, oder

Leu Pro Ala Gln Val Ala Phe darstellt,

und deren Muteine, die durch geeigneten Austausch, Deletion oder Addition von Aminosäuren oder Peptiden oder durch Variation des Glykosidrestes entstehen, ohne daß dadurch die Wirkung der Proteine stark nachläßt; mit der Maßgabe, dass Proteine ausgenommen sind, welche aus menschlichen [sic] Urin isoliert werden, ein Molekulargewicht von etwa 30 kDa, bestimmt durch SDS PAGE unter reduzierenden Bedingungen, besitzen und eine N-terminale Aminosäuresequenz aufweisen, die ausgewählt ist unter:

Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr,

Phe Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr

Val Ala Phe Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr;

sowie davon abgeleitete Polypeptide, worin eine oder mehrere Aminosäuren der natürlichen Struktur deletiert oder durch andere Aminosäuren ersetzt sind wobei die Aktivität des natürlichen humanen TNF-bindenden Proteins erhalten bleibt."

Schließlich bestand der während der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag 3 aus 5 Ansprüchen, von denen Anspruch 1 lautete:

"1. Proteine, welche ein Molekulargewicht von etwa 42.000. Dalton, bestimmt durch SDS-Gelelektrophorese, besitzen und deren Muteine, die durch geeignete Addition von Aminosäu[r]en oder Peptiden oder durch Variation des Glykosidrestes entstehen, ohne daß dadurch die TNF -inhibierende Wirkung der Proteine stark nachläßt; und wobei diese am N-Terminus die Aminosäuresequenz Xaa Thr Pro Tyr Ala Pro Glu Pro Gly Ser Thr Cys Arg Leu

Arg Glu

aufweisen, worin

Xaa die Aminosäuresequenzen

Gln Val Ala Phe,

Ala Gln Val Ala Phe,

Pro Ala Gln Val Ala Phe oder Leu Pro Ala Gln Val Ala Phe darstellt."

V. Die in dieser Entscheidung herangezogenen Dokumente sind die folgenden:

(Y1) IL 90339 (am 18. Mai 1989 eingereichte erste Priorität von (Y2))

(Y2) EP-0 398 327

(BI) 1. Priorität des Streitpatents (9. Mai 1989)

(BII) 2. Priorität des Streitpatents (5. Juli 1989).

VI. Die Beschwerdeführerin bemängelte zunächst unter Artikel 123 (2) EPÜ die fehlende Basis in der Anmeldung für den sich im Hauptantrag und in den Hilfsanträgen 1 und 2 befindenden Ausdruck "...in ihrer ursprünglich glykosylierten Form...".

Die Beschwerdeführerin argumentierte weiter, daß keiner der Anträge aufgrund der beanspruchten "Muteinen" die Priorität von Dokument (BI) gemäß Artikel 87 bis 89 EPÜ genieße. Dokument (BI) betreffe nur ein natürliches Protein mit einer Sequenzheterogeneität am N-Terminus und gebe dem Fachmann keine motivierende Anregung zu künstlich durchführbaren Veränderungen der Struktur dieses Glykoproteins. Die im Dokument (BI) beschriebene Sequenz 2 sei für den Fachmann wegen ihrer Fehler und Lücken kein Anlaß, sein Fachwissen zur Verallgemeinerung der darin enthaltenen Lehre eines konkret beschriebenen Proteins einzusetzen, sondern ein zu Vorsicht mahnender Unsicherheitsfaktor.

Daher sei Entgegenhaltung (Y2), die ihre erste Priorität (Y1) wirksam beanspruchen könne, sowohl für die Ansprüche des Hauptantrages als auch für die Hilfsanträge 1 bis 3 gemäß Artikel 54 (3) EPÜ neuheitsschädlich, weil das im Dokument (Y2) beschriebene TNF-bindende Protein mit einem Molekulargewicht von etwa 30.000 Daltons und einer Sequenzheterogeneität am N-Terminus (drei verschiedene Sequenzen seien beschrieben) und dessen Vorläufer oder durch Deletion, Addition oder Austausch von Aminosäuren erhaltene Mutanten, aktive Fragmente, Derivate und rekombinante Formen die "allgemeine Formel" eines TNF-alpha inhibierenden Proteins zulasse, das beliebig variiert werden kann, mit der der "Mutein"-Begriff des Streitpatents zumindest überlappe. In diesem Zusammenhang wurden die Entscheidungen T 124/87 (ABl. EPA 1989, 491) und T 12/90 (23. August 1990) zitiert.

Ferner zeige Abbildung 2 vom Dokument (Y2) neben der 30. kDa Bande auch eine aus menschlichem Urin stammende 42. kD Bande, die somit für das Streitpatent neuheitschädlich sei.

VII. Die Beschwerdegegnerin vertrat die Meinung, daß die Offenbarung der Beispiele 5 und 6 der Anmeldung den unter Artikel 123 (2) EPÜ angegriffene Ausdruck rechtfertige.

Weiterhin argumentierte sie, daß die Hauptansprüche des Hauptantrages und der Hilfsanträge die Priorität des Dokuments (BI) wirksam in Anspruch nehmen können, weil die Teilsequenz, die in allen in Dokument (BI) beschriebenen Sequenzen invariabel sei, und die N-terminale Sequenzheterogeneität ein Hinweis dafür sei, daß Variationen der Proteinstruktur im allgemeinen stattfinden können, ohne daß die Wirkung des Proteins verloren gehe. Davon lasse sich die "allgemeine Formel" eines TNF-alpha inhibierenden Proteins ableiten, dessen Struktur vom Fachmann beliebig variiert werden könne. Darüber hinaus sei auch Dokument (BI) gemäß der Entscheidung G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) mit dem Fachwissen des Fachmannes zu lesen und dieser habe am Prioritätsdatum des Streitpatents gewußt, daß Addition, Deletion oder Austausch von Aminosäuren oder Peptiden in einem beliebigen Protein allgemein durchführbar seien. Infolgedessen definiere die im Dokument (BI) beschriebene Sequenz 2, trotz ihrer Fehler und Lücken, eine Art "Spielfeld", das den Fachmann einlade, sein Fachwissen einzusetzen.

Da das Streitpatent zu Recht die Priorität von Dokument (BI) genieße, sei Entgegenhaltung (Y2) nicht zu berücksichtigen und daher der unter Artikel 54 (3) EPÜ erhobene Einwand gegenstandlos. Abgesehen davon, sei die Lehre der Entgegenhaltung (Y2), insofern sie sich auf die Offenbarung des Prioritätsdokuments (Y1) stütze, auf ein einziges Protein mit Sequenzheterogeneität am N-Terminus (3 N-terminale Sequenzen) und ein Molekulargewicht von etwa 30 kDa gerichtet und lasse keine Möglichkeit für eine "allgemeine Formel" zu. Darüber hinaus sei die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagene Verallgemeinerung der Offenbarung der Lehre des Dokuments (Y1) nicht gerechtfertigt.

Die Addition von Aminosäuren zu den drei in Dokument (Y1) beschriebenen Sequenzen sei z. B. nicht vorgesehen, da nur Deletion und Austausch auf Seite 8 des Dokuments (Y1) erwähnt seien. Weiterhin deuten "fonctional derivatives" (Seite 8 des Dokuments (Y1)) nicht auf eine Addition von Aminosäuren oder Peptiden hin, sondern nur auf die Veränderung der Seitenketten der Aminosäuren. Ähnliches gelte auch für die Begriffe "active fractions" und "associated molecules" (Seiten 9 und 10 des Dokuments (Y1)).

Ferner diene Hilfsantrag 1 der Konkretisierung des im Dokument (BI) beschriebenen Gegenstandes, weil es z. B. durch die Erhaltung der Wirkung der Proteine gezeigt sei, daß die Veränderungen keinen für die Funktion der Proteine wesentlichen Teil betreffen. Hilfsantrag 2 schließe dagegen durch die Verwendung eines Disclaimers den auf der Prioritätsdokument (Y1) gestützten Gegenstand der Entgegenhaltung (Y2) aus, während Hilfsantrag 3 nur Proteine betreffe, die durch präzise Merkmale gekennzeichnet seien, die im Prioritätsdokument (Y1) weder explizit beschrieben noch implizit ableitbar seien.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 471 701.

IX. Die Beschwerdegegnerin beantragte als Hauptantrag, die Beschwerde zurückzuweisen und hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent aufrechtzuerhalten auf der Basis:

a) von Hilfsantrag 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung;

b) von Hilfsantrag 2, eingereicht am 9. November 2001; oder

c) von Hilfsantrag 3, eingereicht in der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Artikel 123 (2) EPÜ

1. In den Hauptansprüchen des Hauptantrags und der Hilfsanträge 1 und 2 befindet sich der Ausdruck "...in ihrer ursprünglich glykosylierten Form...". Er ist zwar nicht expressis verbis in der Anmeldung zu finden, nach Meinung der Beschwerdekammer durchdringt er diese aber völlig. Beispiel 5 kennzeichnet nämlich das aus menschlichem Harn erhaltene Molekül u. a. durch sein Molekulargewicht von etwa 42.000 Dalton, während die im Beispiel 6 beschriebene Behandlung mit Glykopeptidase F dieses Molekül eindeutig als Glykoprotein identifiziert, aus dem die beanspruchten Muteine hergestellt werden. Daher bietet die Anmeldung, in ihrer Gesamtheit betrachtet, eine Basis für den angegriffenen Ausdruck und somit sind die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ erfüllt.

Hauptantrag

Artikel 87 bis 89 EPÜ

2. Das Prioritätsrecht wird in den Artikeln 87 bis 89 EPÜ geregelt, die die Begriffe "dieselbe Erfindung" und "derselbe Gegenstand" enthalten. In der Entscheidung G 2/98 (cf. supra) hat die Große Beschwerdekammer zu verstehen gegeben, daß diesen Begriffen eine eher enge Bedeutung beigemessen werden muß. Ferner hat sie ausgeführt, daß Voraussetzung für die Anerkennung des Prioritätsrechts die klar erkennbare Anwesenheit des Gegenstands des Patents in der Form seiner wesentlichen Merkmale in der in ihrer Gesamtheit betrachtenen früheren Anmeldung sei, wobei das Fachwissen des Fachmannes herangezogen werden könne. Ein identischer Wortlaut sei aber nicht notwendig.

3. Die Kammer hat daher zu überprüfen, ob das Prioritätsdokument (BI) und das Streitpatent dieselbe Erfindung betreffen bzw. denselben Gegenstand haben und zwar im Hinblick auf den beanspruchten Gegenstand "Muteine".

4. Zunächst steht fest, daß das Wort "Muteine" im Prioritätsdokument (BI) nicht zu finden ist und daß dort nur von einem, immer im Singular benannten "Protein" die Rede ist. Ferner ist dem Prioritätsdokument (BI) kein Hinweis auf Deletion, Addition oder Austausch von Aminosäuren oder Veränderung des Glykosidrestes zu entnehmen. Die N-terminale Heterogenität wird anhand von drei verschiedenen Sequenzen dokumentiert, ohne daß sie im Zusammenhang mit der Möglichkeit von künstlich durchgeführten Veränderungen in Verbindung gebracht wird. Die Offenbarung des Prioritätsdokuments (BI) ist daher strikt auf ein einziges TNF- inhibierendes Protein mit heterogener N-terminaler Sequenz begrenzt.

5. Könnte die Offenbarung dieses konkret beschriebenen Gegenstands nun aber mit dem Fachwissen des Fachmannes im Sinne der Entscheidung G 2/98 (cf. supra) auf "Mutein" erweitert werden?

6. Abgesehen davon, daß der Begriff "Fachwissen des Fachmannes" bezüglich Deletion und Austausch von Aminosäuren nicht überstrapaziert werden sollte, in Anbetracht dessen, daß die Nukleotidsequenz des korrespondierenden Proteins am Prioritätsdatum des Streitpatents noch unbekannt war, ist die Kammer der Meinung, daß diese Frage auch deshalb negativ zu beantworten ist, da es im Prioritätsdokument (BI) nicht den leisesten Anhaltspunkt gibt, der den Fachmann dazu hätte veranlassen können, sein Fachwissen über Addition, Deletion, Austausch von Aminosäuren oder Veränderung des Glykosidrests anzuwenden.

7. Daher offenbart Dokument (BI) nicht den Gegenstand des Streitpatents, soweit er durch Deletion, Austausch und Addition von Aminosäuren oder Veränderung des Glykosidrestes gewonnene Muteine betrifft. Daher kann der Hauptanspruch des Hauptantrags die Priorität des Dokuments (BI) nicht wirksam in Anspruch nehmen.

Artikel 54 (3) EPÜ

8. Da das Streitpatent die Priorität des Dokuments (BI) nicht in Anspruch nehmen kann, ist Entgegenhaltung (Y2), insofern sie die Priorität des Dokuments (Y1) wirksam in Anspruch nehmen kann, Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ, da dieses zeitlich gesehen zwischen die beiden Prioritäten des Streitpatents (BI) und (BII) fällt, aber erst nach dem Anmeldedatum des Streitpatents veröffentlicht wurde.

9. Prioritätsdokument (Y1) beschreibt ein etwa 30 kD TNF- inhibierendes Protein, das aus menschlichem Harn gewonnen wird. Dieses Protein zeigt auch eine N-terminale Sequenzheterogenität und drei verschiedene N-terminale Sequenzen werden angegeben, die identisch mit drei der Sequenzen des Anspruchs 1 des Hauptantrages sind. Ferner beschreibt Prioritätsdokument (Y1) Salze, Derivate, aktive Fragmente und Vorläufer dieses Proteins sowie deren Reinigungsverfahren. Weiterhin erwähnt Prioritätsdokument (Y1) die Möglichkeit für dieses Protein, durch Austausch und/oder Deletion von Aminosäuren verändert zu werden. Schließlich beschreibt das Prioritätsdokument (Y1) dieses Protein enthaltende Arzneimittel und mit für dieses Protein kodierenden DNS-Sequenzen transformierte Zellen. Die Möglichkeit monoklonale Antikörper herzustellen ist auch im Prioritätsdokument (Y1) erwähnt.

10. Entgegenhaltung (Y2) unterscheidet sich von seinem Prioritätsdokument (Y1) dadurch, daß sie zu den drei im Prioritätsdokument (Y1) beschriebenen Aminosäurensequenzen eine zusätzliche, längere Sequenz beschreibt. Ferner beschreibt sie die Herstellung von polyklonalen und monoklonalen Antikörper und derer Verwendung für die Bestimmung und das "Epitope mapping" von TBP-II.

11. Die bezüglich der Neuheit zu beantwortende Frage ist, ob die Lehre der Entgegenhaltung (Y2), wie sie oben in Punkt 9 für das Prioritätsdokument (Y1) definiert wurde, für die Ansprüche des Hauptantrags neuheitschädlich ist.

12. Die Formulierung des Anspruchs 1 des Hauptantrags läßt zwei Interpretationen zu.

13. Die erste Auslegung beruht darauf, daß die Funktion des Ausgangsproteins und der davon abgeleiteten Muteinen nicht definiert ist. Anspruch 1 stellt nur fest, daß die (nicht definierte) Wirkung der Proteine/Muteine nicht stark nachlassen darf. Dann wäre Anspruch 1 nicht auf eine bestimmte, mit einer besonderen biologischen Funktion gekennzeichnete Proteingruppe, sondern nur allgemein auf biologisch aktive Proteine/Muteine gerichtet.

Darüber hinaus betreffen die kennzeichnenden Merkmale (Molekulargewicht und N-terminale Sequenzen) das Ausgangsprotein. Da sie sich aber infolge von Deletion, Austausch und Addition von Aminosäuren oder Veränderung des Glykosidrests beliebig ändern können, können sich Muteine ergeben, die zwar eine biologische Aktivität aufweisen, aber weder eine strukturelle noch eine funktionelle Verbindung mit dem Ausgangsprotein haben. In anderen Worten, umfaßt Anspruch 1 des Hauptantrages alle erdenklichen biologisch aktiven Proteine.

14. Die zweite Auslegung des Anspruchs 1 geht davon aus, daß die Angabe der N-terminalen Aminosäuresequenz auf die TNF- inhibierende Funktion hindeutet, weil nach dem Grundwissen des Fachmannes die Wahrscheinlichkeit, daß ein Protein, das keine TNF- inhibierende Funktion aufweist, diese N-terminale Sequenz besitzt extrem gering ist. Allerdings umfaßt dann Anspruch 1 infolge von Deletion, Addition und Austausch von Aminosäuren oder Veränderung des Glykosidrests alle erdenklichen TNF- inhibierenden Proteine.

15. In beiden Fällen umfaßt Anspruch 1 des Hauptantrags das TNF- inhibierende Protein der Entgegenhaltung (Y2)(cf. oben Punkte 9 und 10). Infolgedessen erfüllt der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Artikels 54 (3) EPÜ.

Hilfsantrag 1

Artikel 87 bis 89 EPÜ

16. Anspruch 1 des Hilfsantrages 1 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrages durch zwei das Ausgangsprotein betreffende Merkmale (SDS-Elektrophorese und Resistenz zu Trypsin-Verdauung) und durch eine funktionelle Begrenzung der Muteine mit Referenz zu der TNF- inhibierenden Wirkung.

17. Diese Änderungen rechtfertigen keine von der zum Hauptantrag geltenden abweichende Begründung für die Anerkennung des Prioritätsrechtes, da, wie schon für den Hauptantrag erwähnt (cf. oben Punkte 2 bis 7), das Prioritätsdokument (BI) keine Erweiterung des dort beschriebenen Gegenstands auf die beanspruchten Muteine zuläßt.

Artikel 54 (3) EPÜ

18. Das präzisierende Merkmal der Meßmethode für die Ermittlung des Molekulargewicht des Proteins ("bestimmt durch SDS-Gelelektrophorese") ist für die Belange von Artikel 54 (3) EPÜ nutzlos, da es sich um eine dem Fachmann bekannte Meßmethode handelt, die dem beanspruchten Protein kein zusätzliches physikalisches Merkmal verleiht. Darüber hinaus ist diese Präzisierung dem Ausgangsprotein zugeordnet und nicht den von diesem abgeleiteten Muteinen.

19. Letzteres gilt auch für die Resistenz durch Trypsin verdaut zu werden.

20. Durch die funktionelle Begrenzung der Muteine auf solche, die eine TNF- inhibierende Wirkung aufweisen, umfaßt Anspruch 1 zwar nur noch aber doch immer noch alle erdenklichen TNF- inhibierenden Proteine.

21. Das in der Entgegenhaltung (Y2) beschriebene TNF- inhibierende Protein ist dementsprechend immer noch neuheitschädlich für Anspruch 1 des Hilfsantrags 1.

22. Daher erfüllt Anspruch 1 des Hilfsantrages 1 nicht die Erfordernisse von Artikel 54 (3) EPÜ.

Hilfsantrag 2

Artikel 123 (2) EPÜ

23. Anspruch 1 des Hilfsantrages 2 unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrages durch einen die in Entgegenhaltung (Y2) beschriebene Proteine auschließenden Disclaimer. Die Proteine der Entgegenhaltung (Y2) werden in diesem Disclaimer durch ihr etwa 30 kD Molekulargewicht und durch die drei dort beschriebenen N-terminalen Sequenzen gekennzeichnet. Ferner wird der Kreis dieser Proteine auf Polypeptide erweitert, die durch Deletion oder Austausch von einer oder mehreren Aminosäuren hergestellt werden. Dieser Disclaimer hat keine Basis in der Anmeldung.

24. Die gängige Rechtsprechung des EPA hatte bis jetzt solche Disclaimer unter Artikel 123 (2) EPÜ formell zugelassen, mit denen die Neuheit eines beanspruchten Gegenstands bezüglich einer zufälligen Lehre einer Entgegenhaltung hergestellt werden kann. Die Entscheidung T 323/97 (17. September 2001) hat diese Rechtsprechung jetzt in Frage gestellt und ist zu dem Schluß gekommen, daß solche Disclaimer, die keine Basis in der Anmeldung haben, die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ nicht erfüllen.

25. Da im vorliegenden Fall dieser Disclaimer, nach Auffassung der Kammer, nicht die Bandbreite der in der Entgegenhaltung (Y2) beschriebenen Proteine umfaßt und somit auch nach der bis jetzt gängigen Praxis unter Artikel 123 (2) EPÜ nicht zulässig ist, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der von der Entscheidung T 323/97 (cf. supra) hervorgerufenen neuen Rechtssprechungslage.

26. In der Tat beschreibt Entgegenhaltung (Y2) nicht nur Muteine, die durch Deletion oder Austausch von Aminosäuren hergestellt werden, sondern auch diese Proteine enthaltende Vorläufer, Fragmente davon und durch rekombinante DNA Technologie hergestelltes TBP-II, die in dem Disclaimer nicht berücksichtigt sind.

27. Daher erfüllt Anspruch 1 des Hilfsantrages 2 die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ nicht.

Hilfsantrag 3

Artikel 87 bis 89 EPÜ

28. Anspruch 1 des Hilfsantrages 3 unterscheidet sich vom Anspruch 1 des Hauptantrages dadurch, daß er auf Proteine und auf von diesen durch Addition von Aminosäuren oder Peptiden oder durch Variation des Glykosidrests ableitbare Muteine begrenzt ist, die aus menschlichem Urin isolieren werden, ein Molekulargewicht von etwa 42 kD aufweisen und vier verschiedene N-terminale Sequenzen haben können.

29. Keine dieser Sequenzen ist Gegenstand des Prioritätsdokuments (BI). In der Tat werden die Sequenzen QVAF, AQVAF, PAQVAF und LPAQVAF zum ersten Mal im zweiten Prioritätsdokument (BII) beschrieben.

30. Daher kann das Prioritätsrecht des ersten Prioritätsdokuments (BI) nicht anerkannt werden und Entgegenhaltung (Y2) ist auch für den Hilfsantrag 3 Stand der Technik gemäß Artikel 54 (3) EPÜ.

Artikel 54 (3) EPÜ

31. Entgegenhaltung (Y2) beschreibt kein TNF- inhibierendes Protein, das ein Molekulargewicht von etwa 42 kD aufweist. Die auf Figur 2 der Entgegenhaltung (Y2), die der Figur 3A des Prioritätsdokuments (Y1) entspricht, dargestellte SDS-Gelektrophorese zeigt zwar neben der 30. kD Bande auch die Anwesenheit einer etwa 42 kD Bande, diese Bande ist aber quantitativ im Vergleich zu der 30. kD Bande so schwach, daß sie offenbar von den Erfindern der Entgegenhaltung (Y2) vernachlässigt wurde, da kein Wort in der gesamten Beschreibung über diese Bande verloren wird. Es ist daher der Öffentlichkeit nicht die technische Lehre zur Verfügung gestellt worden, daß das Protein dieser Bande eine TNF- inhibierende Funktion haben könnte.

32. Darüber hinaus sind die im Anspruch 1 des Hilfsantrages 3 angegebenen N-terminalen Sequenzen, die nicht mehr das Ausgangsprotein, sondern das Endprotein oder Muteine kennzeichnen, nicht in der Entgegenhaltung (Y2) zu finden.

33. Daher stellt die Entgegenhaltung (Y2) für die Anerkennung der Neuheit des Gegenstandes des Anspruchs 1 des Hilfsantrages 3 unter Artikel 54 (3) EPÜ kein Hindernis dar.

34. Wie schon oben erwähnt (cf. supra, Absatz III), ist lediglich Artikel 100 a) EPÜ in bezug auf Artikel 54 (3) EPÜ im Einspruchverfahren von der Einsprechenden argumentativ abgehandelt worden, obwohl Artikel 100 a) und (b) EPÜ (Artikel 56 und 83 EPÜ) als Einspruchsgründe angegeben worden waren. Die Artikel 54 (3) EPÜ nicht betreffenden Einspruchsgründe sind daher nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens (cf. Entscheidung T 737/92 (12. Juni 1995).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die erste Instanz zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent aufrechtzuerhalten auf der Basis der Ansprüche 1 bis 5 gemäß Hilfsantrag 3, eingereicht in der mündlichen Verhandlung, sowie einer an diese anzupassenden Beschreibung.

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