T 1210/97 () of 17.1.2001

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2001:T121097.20010117
Datum der Entscheidung: 17 Januar 2001
Aktenzeichen: T 1210/97
Anmeldenummer: 92113726.1
IPC-Klasse: A61F 2/38
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Kniegelenkendoprothese
Name des Anmelders: AESCULAP AG
Name des Einsprechenden: (I) Mathys AG Bettlach
(II) Sulzer Orthopädie AG
(III) DePuy Internationasl Limited
(IV) Bähler André
Kammer: 3.2.02
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 52
European Patent Convention 1973 Art 54
Schlagwörter: Neuheit (nein)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Einsprüche zurückzuweisen, haben alle Einsprechenden (I, II, III und IV) Beschwerde erhoben.

II. Die Einspruchsabteilung war der Auffassung, daß die in Artikel 100 a) EPÜ genannten Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und erfinderischer Tätigkeit der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstünden.

III. Folgende im Einspruchsverfahren genannten Druckschriften sind auch für die vorliegende Entscheidung von Bedeutung:

N2: EP-A-0 519 873

N6: CH-1795/91

N8: CH-3783/91.

IV. Anspruch 1 in der erteilten Fassung lautet wie folgt:

"Kniegelenkendoprothese mit einer Tibialagerfläche (1), einem auf dieser verschiebbaren Lagerkörper (3) mit zwei konkav gekrümmten Lagerschalen zur beweglichen Aufnahme eines Femurgelenkteils und mit einer Drehführung, die den Lagerkörper (3) auf der Tibialagerfläche (1) um eine senkrecht auf dieser stehende Drehachse führt, dadurch gekennzeichnet, daß die Drehführung einen auf der ebenen Tibialagerfläche (1) angeordneten, an dieser um eine senkrecht zur Tibialagerfläche (1) angeordneten Drehachse drehbar gelagerten, geradlinigen stabförmigen Lenker (8) umfaßt, der zwei in paralleler Richtung verlaufende, seitliche Führungsflächen (9, 10) aufweist, und daß der Lagerkörper (3) an seiner Unterseite (6) eine den stabförmigen Lenker (8) aufnehmende, nach unten offene Nut (7) trägt, deren Seitenwände in paralleler Richtung verlaufende seitliche Führungsflächen (11, 12) des Lagerkörpers (3) bilden, an denen die seitlichen Führungsflächen (9, 10) des Lenkers (8) anliegen und diesen bei einer parallel zum Lenker (8) erfolgenden freien Verschiebung führen."

V. Auf Antrag aller Parteien, mit Ausnahme der Beschwerdeführerin I, fand am 17. Januar 2001 eine mündliche Verhandlung statt. Am Ende der mündlichen Verhandlung war die Antragslage wie folgt:

Die Beschwerdeführerinnen beantragten die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerden zurückzuweisen.

VI. Die Beschwerdeführerinnen brachten folgende Argumente vor:

a) Beschwerdeführerin I

Der in Anspruch 1 von Druckschrift N6 enthaltene Ausdruck "Translationsbewegung" beziehe sich eindeutig auf eine geradlinige Verschiebbarkeit. Auch der Ausdruck "in sagittaler Richtung" in Anspruch 5 deute darauf hin, daß eine geradlinige Führungsbahn gemeint sei, da eine Richtung immer geradlinig sei. Auch auf Seite 6, dritte Zeile von unten, bis Seite 7, Zeile 3, werde ausgesagt, daß die Führungsbahn in etwa in sagittaler Richtung angeordnet werden solle, wobei die gebogene Führungsbahn (Anspruch 6) lediglich als vorteilhaft bezeichnet werde. Dementsprechend sei ein geradliniger Lenker in Druckschrift N6 explizit offenbart.

b) Beschwerdeführerin II

Druckschrift N6 enthalte implizit die Lehre, den Lenker geradlinig zu gestalten. Die Geradlinigkeit sei diejenige Möglichkeit, die der Fachmann bei Realisierung des Lenkers als erste berücksichtigen würde. Die Lehre der Druckschrift N6 sei eine Weiterentwicklung des Meniskus-Knies gemäß Figur 4 aus Druckschrift N6, siehe Seite 6, 2. Absatz. Das Meniskus-Knie habe eine geradlinige Richtung. Es gebe keinen Grund, diese längst bekannte Ausführungsform vom Offenbarungsgehalt der Druckschrift N6 auszunehmen. Eine Richtung von anterior nach posterior (Seite 10, letzter Absatz) oder eine sagittale Richtung bedeute in erster Linie Geradlinigkeit.

c) Beschwerdeführerin III

Die Lehre der Druckschrift N6 gehe von einer Kombination von Schlitten- und Scharniergelenk aus, die als "Meniskus-Knie" bekannt sei (Figur 4). Das "New Jersey Knie" sei ein Beispiel eines Meniskus-Knies, bei dem das Schlittengelenk aus einer Tibialagerfläche bestehe, auf der zwei Zwischenteile gleitend geführt seien. Nachteilig erweise sich dabei, daß die Zwangsführung der zwei Zwischenteile in den Nuten verschleißfördernd sei. Das sei darauf zurückzuführen, daß das "New Jersey Knie" keine freie Rotationsbewegung um eine vertikale Achse ermögliche. Aufgabe der der Druckschrift N6 zugrundeliegenden Erfindung sei es daher, eine Prothese zu schaffen, die nicht nur die Gelenkflächenkongruenz und Translationsmöglichkeit des sogenannten Meniskus-Knies aufweist, sondern diese auch bei Rotationsbewegung um eine vertikale Achse aufrechterhält (Seite 5). Das werde dadurch erreicht, daß ein Führungsorgan mit einem Drehzapfen nach Anspruch 1 vorgesehen werde. Ein schwenkbares Führungsorgan ermögliche auch ohne eine bogenförmige Führungsbahn eine bogenförmige Bewegung auf der Horizontalebene, indem eine Translationsbewegung von einer Rotation des Führungsorgans überlagert werde. Die Lösung der Aufgabe der Erfindung von Druckschrift N6 sei daher nicht auf die gekrümmte Ausführungsform des Lenkers begrenzt. Ein geradliniger Lenker sei somit implizit in Druckschrift N6 offenbart.

d) Beschwerdeführerin IV

Druckschrift N6, Seite 5, letzter Absatz, sehe vor, daß das Zwischenteil eine angenähert in einer physiologischen Gleitrichtung verlaufende Führungsbahn aufweise, um dem Zwischenteil zusätzlich zur Schwenkbewegung eine Translationsbewegung zu ermöglichen. Eine angenähert in physiologischer Gleitrichtung verlaufende Führungsbahn bedeute in erster Linie eine geradlinige Führungsbahn. Ein geradliniger Lenker sei daher in Druckschrift N6 explizit enthalten. Auf Seite 10, letzer Absatz von Druckschrift N6, wo die bogenförmige Ausführungsform der Figuren 8 und 9 beschrieben werde, gehe es um eine Translationsbewegung und nicht um die Form der Führungsbahn. Letzere sei das einzige Merkmal, das bei der Beurteilung des angegriffenen Patents zum Tragen komme.

VII. Die Beschwerdegegnerin argumentierte im wesentlichen wie folgt:

Die Geradlinigkeit sei aus Druckschrift N6 nicht bekannt. Das ergebe sich auch daraus, daß dieselbe Anmelderin eine zusätzliche Anmeldung als notwendig ansah, um die Geradlinigkeit zu beanspruchen (N8). Die physiologische Gleitrichtung sei ferner keine Gerade, sondern viel komplizierter. Aus der Beschreibung, Seite 10, letzter Absatz und Figuren 8 und 9, sei eindeutig eine bogenförmige Führungsbahn zu entnehmen. "Sagittal" sei kein streng geometrischer Begriff, sondern bedeute bloß eine ungefähre Orientierung. Anspruch 5 von Druckschrift N6 erwähne zwar die sagittale Richtung, der davon abhängige Anspruch 6 spezifiziere jedoch: "mit medialem Krümmungsradius". Es wäre damit unvereinbar, den Begriff "sagittal" allein als "geradlinig" auszulegen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Neuheit

2.1. Nach Artikel 54 (3) i. V. m. Artikel 89 EPÜ gilt als Stand der Technik auch der Inhalt der europäischen Patentanmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung, deren Anmeldetag bzw. Prioritätstag vor dem Tag der Anmeldung des angegriffenen Patents liegt und die erst an oder nach diesem Tag veröffentlicht worden sind.

Der Prioritätstag des angegriffenen Patents ist unbestritten der 24. August 1991. Das europäische Patent N2 ist am 16. Juni 1992 gemäß Artikel 93 EPÜ veröffentlicht worden und beansprucht u. a. die Priorität der schweizerischen Voranmeldung N6 vom 17. Juni 1991. Der Inhalt des europäischen Patents N2 ist somit - soweit er die Priorität vom 17. Juni 1991 (N6) genießt - Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ.

Aus Artikel 88 (3) EPÜ ergibt sich, daß der Inhalt des europäischen Patents N2 dann neuheitschädlich für das angegriffene Patent ist, wenn er die Kombination aller Merkmale des Anspruchs 1 des angegriffenen Patents offenbart und wenn diese Offenbarung auch in der Voranmeldung N6 enthalten ist.

Da im vorliegenden Fall das europäische Patent N2 den gesamten Offenbarungsgehalt der Voranmeldung N6 enthält (siehe Spalten 1 bis 6, Zeile 43; Spalte 10, Zeile 32 bis Spalte 11, Zeile 4; Spalte 11, Zeile 55 bis Spalte 14, Zeile 11; Figuren 1 bis 8, 9a, 10, 11, 12a), kann im folgenden der Einfachheit halber der patentierte Gegenstand unmittelbar mit dem Inhalt der Voranmeldung N6 verglichen werden.

2.2. Druckschrift N6 beschreibt eine Kniegelenkendoprothese mit einer Tibialagerfläche (24), einem auf dieser verschiebbaren Lagerkörper (13) mit zwei konkav gekrümmten Lagerschalen (21) zur beweglichen Aufnahme eines Femurgelenkteils und mit einer Drehführung, die den Lagerkörper auf der Tibialagerfläche um eine senkrecht auf dieser stehende Drehachse führt, wobei die Drehführung einen auf der ebenen Tibialagerfläche angeordneten, an dieser um eine senkrecht zur Tibialagerfläche angeordneten Drehachse drehbar gelagerten, stabförmigen Lenker (15) umfaßt, der zwei in paralleler Richtung verlaufende, seitliche Führungsflächen aufweist und wobei der Lagerkörper an seiner Unterseite eine den stabförmigen Lenker aufnehmende, nach unten offene Nut (35) trägt, deren Seitenwände in paralleler Richtung verlaufende, seitliche Führungsflächen des Lagerkörpers bilden, an denen die seitlichen Führungsflächen des Lenkers anliegen und diesen bei einer parallel zum Lenker erfolgenden freien Verschiebung führen - siehe insbesondere Figuren 5, 8 und 9.

2.3. Druckschrift N6 enthält somit explizit alle Merkmale des Anspruchs 1 mit Ausnahme eines "geradlinigen" Lenkers. Auch wenn in der Druckschrift N6 der stabförmige Lenker nicht ausdrücklich als "geradlinig" beschrieben ist, wird dort jedoch ausgeführt, daß dieser Lenker in einer "angenähert in physiologischer Gleitrichtung" bzw. "in sagittaler Richtung" verlaufenden Führungsbahn gleiten soll (siehe die Seiten 5/6 und 6/7 überbrückenden Absätze, sowie die Ansprüche 1 und 5).

2.4. Die physiologische Gleitrichtung oder, korrekter, die physiologische Gleitbahn des Kniegelenks ist fast geradlinig (siehe: I. A. Kapandji, The Physiology of the Joints, Band 2, 1987, Seite 145, Figur 238) und verläuft von der Hinter- zur Vorderfläche des Körpers, d. h. sie ist der sagittalen Achse stark angenähert (siehe: W. Platzer, Taschenatlas der Anatomie, 1987, Seiten 2 und 3, Figur c). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß sich die Beschreibung der Druckschrift N6 an einen feinmechanischen Konstrukteur richtet, der schon aus Gründen einer rationellen Fertigung gewohnt ist, in der Natur vorkommende komplizierte Kurven möglichst durch Gerade darzustellen. Daß die gleiche Denkweise auch dem Medizintechniker nicht fremd ist, beweist auch das in Druckschrift N6 als Stand der Technik gewürdigte sogenannte "Meniskus-Knie" (siehe Figur 4), bei dem die physiologische Gleitrichtung des Knies durch eine Gerade in sagittaler Richtung (Translationsbewegung in der horizontalen Ebene) nachgebildet ist. Somit offenbart die Druckschrift N6 dem Fachmann vorrangig einen geradlinig stabförmigen Lenker.

2.5. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß als besondere Ausführungsform in den Figuren 6 und 7 dargestellt und im abhängigen Anspruch 6 von Druckschrift N6 beansprucht wird, daß die Führungsbahn in einem Bogen mit medialem Krümmungsradius verläuft. Die Lehre von Druckschrift N6 besteht darin, das "Meniskus-Knie" in der Weise zu verbessern, daß zusätzlich zur Translationsbewegung eine Rotationsbewegung um eine vertikale Achse möglich wird. Das wird durch einen um einen Drehzapfen schwenkaren Lenker erreicht. Bei einem solchen schwenkbaren Lenker ist die leicht gekrümmte physiologische Gleitbewegung des Knies schon durch eine geradlinige Führungsbahn darstellbar, so daß die zusätzlich leicht gekrümmte Führungsbahn der besonderen Ausführungsform des Gelenks nach Druckschrift N6 von untergeordneter Bedeutung ist.

2.6. Daß der Verfasser von Druckschrift N6 in einer späteren Anmeldung (N8) einen geradlinigen Lenker explizit beansprucht hat, ist für die Frage, ob bereits in Druckschrift N6 ein geradliniger Lenker implizit offenbart ist, nicht von Belang. Ein Dokument des Standes der Technik ist aus der objektiven Sicht des Fachmanns auszulegen; die subjektive Sicht des Verfassers oder von ihm später unternommene Schritte spielen dabei keine Rolle.

2.7. Da der durch die Priorität von N6 gedeckte Inhalt der Druckschrift N2 alle Merkmale des Anspruchs 1 in Kombination offenbart, ist der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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