T 0666/95 (Mittel zur Therapie von Hämophilie A/AVENTIS BEHRING GMBH) of 14.2.2001

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:2001:T066695.20010214
Datum der Entscheidung: 14 Februar 2001
Aktenzeichen: T 0666/95
Anmeldenummer: 87110539.1
IPC-Klasse: A61K 37/64
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Mittel zur Therapie faktor-VIII-resistenter Hämophilie A und Verfahren zu seiner Herstellung
Name des Anmelders: Aventis Behring GmbH
Name des Einsprechenden: Baxter Aktiengesellschaft
Kammer: 3.3.04
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Neuheit (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
-
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung 87 110 539.1 mit der Bezeichnung "Mittel zur Therapie faktor VIII-resistenter Hämophilie A und Verfahren zu seiner Herstellung" wurde das europäische Patent Nr. 0 255 651 auf der Grundlage von fünf Ansprüchen für alle benannten Vertragsstaaten außer AT, ES und GR und vier Ansprüchen für AT, ES und GR erteilt. Anspruch 1 für alle benannten Vertragsstaaten außer AT, ES und GR hatte den folgenden Wortlaut:

"1. Mittel zur Therapie einer gegen eine Behandlung mit Faktor VIII resistenten Hämophilie A, erhältlich dadurch, daß ein Gemisch enthaltend auf 4 Einheiten Faktor VIII 0.5 bis 1 Einheit Antithrombin III und mindestens 25 µg Phospholipid und eine CaCl2-Konzentration von 0.6-0.9 mmol/l in einer wässrigen Lösung mindestens 1 Minute bei einer Temperatur von 1. bis 45°C inkubiert wird, 0.5 bis 2 Einheiten Faktor IX zugegeben werden und die Lösung solange bei einer Temperatur von 1 bis 45°C gehalten wird, bis eine Probe dieser Lösung, einem Hemmkörperplasma zugegeben, eine partielle Thromboplastinzeit (PTZ) von 15 bis 30 Sekunden ergibt, daß gegebenenfalls ein Polyol und gegebenenfalls eine Aminosäure zugegeben und gegebenenfalls die Lösung lyophilisiert wird."

Die abhängigen Ansprüche 2 bis 5 betrafen weitere Merkmale des Mittels gemäß Anspruch 1.

Für die Vertragsstaaten AT, ES und GR wurde das Patent mit entsprechenden Verfahrensansprüchen erteilt.

II. Es wurde ein Einspruch eingelegt, mit dem der Widerruf des Patents unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit) beantragt wurde.

III. Mit Entscheidung vom 13. Juni 1995 wies die Einspruchsabteilung den Einspruch zurück.

IV. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein und begründete sie. Die Beschwerdegegnerin erwiderte die Beschwerdebegründung.

V. Folgende Druckschriften werden in dieser Entscheidung zitiert:

(1) Váradi K. et al., Thrombosis and Haemostasis, Bd. 47, Nr. 1, Seiten 32-35 (1982);

(3) Chandra S. et al., Thrombosis Research, Bd. 12, Seiten 571 - 582 (1978);

(4) DE-C2-3 127 318;

(6) Vinazzer H., Thrombosis Research, Bd. 26, Seiten 21 - 29 (1982);

(7) Versuchsbericht von Dr. P. Turecek (19.09.1995);

(8) Barrowcliffe T.W.et al., Journal of Laboratory and Clinical Medicine, Bd. 101, Seiten 34 - 43 (1983);

(9) GB-B-2 129 685.

VI. Eine mündliche Verhandlung fand am 14. Februar 2001 statt.

VII. Die Beschwerdeführerin hat im wesentlichen folgendes vorgetragen:

Zur Neuheit

- Gegenstand des Anspruchs 1 sei in wenigen Worten ein Mittel zur Therapie Faktor VIII-resistenter Hämophilie A, welches durch das Mischen von Faktor VIII, Faktor IX, Antithrombin III (AT III), Phospholipid und CaCl2 in bestimmten Verhältnissen und Bedingungen erhältlich sei.

- Zur Behandlung von Patienten mit Faktor VIII-resistenter Hämophilie A werde jedoch die Verabreichung von Gemischen enthaltend Faktor VIII, Faktor IXa, AT III, Phospholipid und Ca++ Ionen (Entgegenhaltung (1)) und von FEIBA® (Factor Eight Bypassing Activity)(Entgegenhaltungen (4) und (6)) bereits vorgeschlagen. Die Tatsache, daß im Präparat der Entgegenhaltung (1) aktivierter Faktor IX (d. h. Faktor IXa) verwendet werde, stelle keinen Unterschied dar, da sich Faktor IX im beanspruchten Mittel ebenfalls in aktivierter Form befinden müsse, da das Mittel sonst keine Aktivität haben würde.

- Der Versuchsbericht (7) vergleiche die Wirkung des beanspruchten Mittels auf die Verkürzung der Thrombo-plastinzeit (PTZ) mit den aus den Entgegenhaltungen (1), (4), (8) und (9) bekannten Mitteln und komme zu dem Ergebnis, daß diese vier getesteten Präparate hinsichtlich ihrer Wirkung auf die PTZ des Hemmkörper-Plasmas vergleichbar seien. Dies lasse sich dadurch erklären, daß alle diese Mittel dasselbe aktive Agens enthalten, nämlich einen Komplex aus Faktor VIII und Phospholipid (siehe Entgegenhaltungen (8) und (9)).

- Dieser für die Verkürzung der PTZ im Hemmkörperplasma wirksame Faktor VIII-Phospholipid-Komplex sei sowohl in dem Präparat gemäß Entgegenhaltung (1) als auch im FEIBA® (Entgegenhaltungen (4) und (6)) enthalten. Da Faktor VIII und Phospholipid die für die Bildung des Komplexes limitierenden Bestandteile darstellen, spiele die Anwesenheit anderer darin enthaltener Komponenten wie Faktor IX, AT III, CaCl2 und deren Verhältnisse sowie die Art des Zusammenmischens (d. h. alle "product-by-process" Merkmale im Anspruch 1) keine Rolle im Hinblick auf die Wirkung des Komplexes auf die PTZ, da sich stets dieser aktive Komplex bilde, unabhängig von der Umgebung, den Verhältnissen der Komponenten und den Reaktionsbedingungen. Somit sei das beanspruchte Mittel durch die Entgegenhaltungen (1), (4), (6), und sogar (8) and (9) (betreffend den reinen Komplex aus Faktor VIII und Phospholipid) neuheitsschädlich getroffen.

Zur erfinderischen Tätigkeit

- Entgegenhaltung (1) sei als nächster Stand der Technik für den Gegenstand des Anspruchs 1 anzusehen, weil sie ein Faktor VIII/Phospholipid-Komplex, Faktor IX (in Form von Faktor IXa), CaCl2 sowie AT III enthaltendes Mittel beschreibe. Die zu lösende Aufgabe bestehe darin, ein besseres Mittel als das in dieser Entgegenhaltung zur Verfügung zu stellen. Der Anspruch 1 umfasse jedoch Bereiche, in denen sich kein oder zu wenig wirksamer Komplex bilde, da der Anspruch 1 durch sehr schwankende Mengenangaben der Komponenten definiert sei und darüber hinaus keine Anwendungskonzentration (E/ml) des Mittels angegeben werde. Dem beanspruchten Mittel fehle die erfinderische Tätigkeit, weil die oben genannte Aufgabe in diesen Bereichen nicht gelöst worden sei.

- Im Hinblick auf die Verkürzung der PTZ spiele es keine Rolle, ob Faktor IX oder Faktor IXa in der Mischung eingesetzt werde (siehe Punkt 2 des Versuchsberichts (7)). Daher stelle dieses Merkmal keinen erfindungswesentlichen Unterschied gegenüber dem in Entgegenhaltung (1) offenbarten Mittel dar.

- Der Zeitpunkt der Zugabe des aus Entgegenhaltung (3) bekannten Stabilisators AT III spiele ebenfalls keine Rolle für die Verkürzung der PTZ und die Stabilität (siehe Punkt 5 des Versuchsberichts (7)). Daher sei dieses Merkmal auch kein erfindungswesentlicher Unterschied gegenüber dem in der Entgegenhaltung (1) offenbarten Mittel.

- Entgegenhaltung (1) offenbare daß "AT III in Abwesenheit von Heparin keinen Einfluß auf den Komplex habe". Gerade in Anbetracht des fehlenden Einflusses von AT III auf den Komplex sei es naheliegend gewesen, AT III als Stabilisator in dem beanspruchten Mittel einzusetzen, zumal Entgegenhaltungen (3) und (6) (Tabelle IV auf Seite 577 bzw. Seite 24, Zeile 6 von unten und Abb. 1 und 2) lehrten, daß AT III als Stabilisator für den Prothrombin Komplex verwendet werden könne.

- Entgegen den Ausführungen der Beschwerdegegnerin, wonach die beanspruchte Zusammensetzung frei von Thrombin-Aktivität (Faktor IIa) und Faktor IXa-Aktivität sei, gehe aus der Tabelle auf Blatt 2 des von der Beschwerdegegnerin eingereichten Vergleichsversuchs hervor (Eingabe vom 29. Juli 1993), daß alle drei getesteten Präparate sowohl Thrombin-Aktivität als auch Faktor IXa-Aktivität aufweisen. In diesem Untersuchungsbericht sei das beanspruchte Mittel mit FEIBA® und Autoplex® verglichen worden. Im übrigen seien Zusammensetzungen zur Behandlung von Patienten mit Faktor VIII-resistenter Haemophilie A, die eine Thrombin-Aktivität von weniger als 0,003 E/ml aufweisen, in Entgegenhaltung (5) beschrieben.

VIII. Die Beschwerdegegnerin ist dem im wesentlichen wie folgt entgegengetreten:

Zur Neuheit

- In der in Entgegenhaltung (1) beschriebenen Zusammensetzung befinde sich Faktor IXa (aktivierter Faktor IX) und AT III werde erst im Verlauf des Versuchs hinzugefügt. Im Gegensatz dazu enthalte das Mittel gemäß Anspruch 1 Faktor IX in nicht aktivierter Form und darüber hinaus werde das beanspruchte Präparat in Gegenwart von AT III hergestellt, um zu vermeiden, daß Faktor IXa und Thrombin (Faktor IIa) entstehen.

- Die Identität des beanspruchten Mittels mit einem Komplex aus Faktor VIII und Phospholipid sei aus folgenden Gründen ausgeschlossen:

- Es werde kein Komplex beansprucht, sondern ein durch ein Herstellungsverfahren gekennzeichnetes Mittel, wobei die verwendeten Mengen, Verhältnisse und Reaktionsbedingungen von Bedeutung seien.

- Die spezielle Zusammensetzung des Mittels gemäß Anspruch 1 werde durch den mit Schreiben vom 29. Juli 1993 eingereichten Versuchsbericht bewiesen, wobei im beanspruchten Mittel, verglichen mit zwei auf dem Markt vorliegenden Produkten (FEIBA® und Autoplex®), nur außerordentlich geringe Mengen an Thrombin (Faktor IIa) und Faktor IXa vorhanden seien.

- Das erfindungsgemäße Mittel sei frei von Faktor VIII-Aktivität.

- Bei der Sterilfiltration des Faktor VIII-Phospholipid-Komplexes bleibe Phospholipid am Filter hängen. Ein nicht filtrierter Faktor VIII-Phospholipid-Komplex sei nach i.v. Injektion von Kaninchen im Plasma nicht nachweisbar. Anders verhalte sich das beanspruchte Mittel, das ohne Verlust filtrierbar und nach i.v. Injektion von Kaninchen im Plasma gut meßbar sei (siehe Tabellen 3a und 3b im Streitpatent).

- Der in Entgegenhaltung (1) beschriebene Komplex sei als therapeutisches Mittel weder beschrieben noch geeignet.

Zur erfinderischen Tätigkeit

- Ausgehend von Entgegenhaltung (1) als nächstliegendem Stand der Technik bestehe die zu lösende Aufgabe darin, ein stabileres Mittel bereitzustellen, das sich zur in vivo Behandlung oder Therapie einer gegen Faktor VIII resistenten Hämophilie A eigne.

- Die Entgegenhaltungen enthalten keinen Hinweis auf die Stabilität, weder in vitro noch in vivo, eines Präparats erhältlich durch das Mischen von Faktor VIII, Faktor IX, AT III, Phospholipid und CaCl2.

- Entgegenhaltung (1) lehre, daß AT III in Anwesenheit von Phospholipid keinen schützenden Effekt auf den Faktor IXa-Faktor VIII-Komplex ausübe. Daher sei es für den Fachmann nicht nahegelegt gewesen, AT III als Stabilisator einzusetzen.

- Entgegenhaltung (1) gebe keinen Hinweis auf die in vivo therapeutische Einsatzmöglichkeit des Komplexes.

- Es sei nicht bekannt gewesen, ob das Mittel gemäß Anspruch 1 in vivo von Inhibitoren neutralisiert werde oder dessen Faktor VIII-Umgehungssaktivität (FEIB-Aktivität) entfalten werde.

- Im Gegensatz zu dem beanspruchten Mittel, das nahezu frei von Thrombin- und Faktor IXa-Aktivität sei, enthielten die Produkte des Stands der Technik deutlich messbare Konzentrationen an Thrombin und Faktor Xa.

IX. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 255 651.

Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte die Beschwerde zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Neuheit

2. Der Gegenstand des Anspruchs 1 betrifft ein durch eine Kombination von Produkt-Parametern (4 E Faktor VIII, 0.5 bis 2 E Faktor IX, 0.5 bis 1 E AT III, 25 µg Phospholipid und 0.6-0.9 mM CaCl2) und Verfahrensmaßnahmen (Dauer und Temperatur der Inkubation sowie Reihenfolge des Zugebens) definiertes Mittel. Entgegenhaltung (1) (Seite 32, rechte Spalte, Zeilen 19 bis 23 und Abb. 2) beschreibt die Inkubation für 3 min (T = 37 C) von 1E/ml Faktor VIII, 1 E/ml Faktor IXa, 20 µg/ml Phospholipid und 15 mM CaCl2, gefolgt von einer Zugabe von 25 µg/ml AT III und 0.1 µg/ml Heparin. Diese Inkubation wird ebenfalls in Abwesenheit von Heparin durchgeführt (Seite 34, linke Spalte: "without heparin"). Da weder die Verhältnisse der Komponenten noch die Verfahrensmaßnahmen übereinstimmen, ist der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber dem in Entgegenhaltung (1) offenbarten Mittel als neu anzusehen. Ebensowenig können die aus den Entgegenhaltungen (4) (siehe Tabelle I) und (6) (FEIBA® bestehend aus Faktor VIII, AT III, Phospholipid, CaCl2, Faktor IX, Faktor IXa, Faktor II, Faktor IIa, Faktor X, Faktor Xa, Faktor VII and Faktor VIIa) und (8) und (9) (Faktor VIII + Phospholipid) bekannten Mittel die Neuheit des beanspruchten Produktes in Frage stellen.

3. Darüber hinaus ist der Anspruch 1 in Form einer ersten medizinischen Anwendung ("Mittel zur Therapie") formuliert. Dies ist die vom Gesetzgeber (Artikel 52 (4) EPÜ) vorgesehene Fiktion, auch gegebenenfalls bekannte Zusammensetzungen im patentrechtlichen Sinne als neu gelten zu lassen, vorausgesetzt, es ist keine medizinische Anwendung für diese Zusammensetzungen vorbeschrieben. Das ist hier der Fall, da aus keiner Entgegenhaltung zu entnehmen ist, daß ein Präparat, erhältlich gemäß den Produkt- und Verfahrensparametern des Anspruchs 1 in vivo stabil, gerinnungsaktiv, geschweige denn umgehungssaktiv (FEIB-aktiv) ist.

4. Gestützt auf den Versuchsbericht (7) vertritt die Beschwerdeführerin allerdings die Meinung, daß sich stets ein FEIB-aktiver Faktor VIII-Phospholipid-Komplex bilde, also sowohl im beanspruchten Mittel als auch in den Präparaten gemäß den Entgegenhaltungen (1), (4) und (6), unabhängig von der Art der Komponenten, deren Verhältnisse zueinander und den Reaktionsbedingungen. Somit sei der Anspruch 1 durch die Entgegenhaltungen (1), (4), (6), und (8) and (9) (die zwei letzteren Entgegenhaltungen betreffen den reinen Faktor VIII-Phospholipid Komplex) neuheitsschädlich getroffen. Die Kammer stellt jedoch fest, daß erstens kein Komplex beansprucht wird, sondern ein durch eine Kombination von Produkt-Parametern und Verfahrensmaßnahmen definiertes Mittel. Ferner zeigt Entgegenhaltung (8) (siehe Seite 8, unter "Results"), daß die Reihenfolge der Zugabe von z. B. Faktor VIII, Faktor IXa und Phospholipid von Bedeutung ist. Darüber hinaus zeigt Entgegenhaltung (1) (vgl Abb. 2: "0.1 µg/ml heparin" mit Seite 34, linke Spalte: "without heparin" bzw. Seite 33, rechte Spalte, Ende des zweiten Absatz), daß die Anwesenheit oder Abwesenheit von nur 0.1 µg/ml Heparin in der Inkubationsmischung bzw. der Ersatz von Plättchen durch Phospholipid in dieser Mischung beträchtliche Folgen hat. Daher kann die Kammer nicht zu der Schlußfolgerung kommen, daß beim Mischen von Molekülen der Blutgerinnungskaskade, die Art der Komponenten, die verwendeten Mengen, deren Verhältnisse zueinander und die Reaktionsbedingungen belanglos sind. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin, wonach sich zwingend ein FEIB-aktiver Faktor VIII-Phospholipid-Komplex im beanspruchten Mittel bilde, überzeugen die Kammer nicht.

5. Der Gegenstand des Anspruchs 1 und der abhängigen Ansprüche 2 bis 5 für alle benannten Vertragsstaaten außer AT, ES und GR erfüllt die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ. Analoges gilt für die Ansprüche 1 bis 4 für AT, ES und GR.

Erfinderische Tätigkeit

6. Entgegenhaltung (1) ist als nächstliegender Stand der Technik für den Gegenstand des Anspruchs 1 anzusehen, weil sie ein Faktor VIII, Phospholipid, Faktor IXa (aktivierter Faktor IX), CaCl2 (siehe Seite 32, rechte Spalte, Zeilen 19 bis 23) und AT III (siehe Seite 33, rechte Spalte, Ende des zweiten Absatzes und Seite 34, linke Spalte, letzter Absatz: "without heparin... excess of AT III") enthaltendes Mittel beschreibt.

7. Der Gegenstand dieser Entgegenhaltung betrifft eine Reihe von Experimenten, u. a. die Inaktivierungsgeschwindigkeit des Faktor IXa-VIII-Komplexes durch Inhibitoren wie z. B. Heparin und AT III (siehe die Zusammenfassung). Die Aktivität des Faktor VIII-Faktor IXa-Komplexes wird über die Messung von Faktor Xa aus Faktor X in Faktor IX-defizientem Human-Plasma bewertet (siehe Seite 32, rechte Spalte: "Assay of clotting factors"). Experiment ( ) der Abb. 2B lehrt, daß ein Komplex bestehend aus Faktor VIII, Faktor IXa, CaCl2 und Phospholipid durch AT III + Heparin rasch inaktiviert wird. Dagegen wird auf Seite 34, linke Spalte, letzter Absatz offenbart, daß keine Inhibierung (daher keine Inaktivierung) dieses Komplexes durch AT III unter denselben Umständen wie in Experiment ( ) der Abb. 2B, aber in Abwesenheit von Heparin, zustandekommt ("In our conditions, without heparin no IXa inhibition could be detected in spite of the excess of AT III. For this reason we studied the rapid [inhibition] reaction that occurs in the presence of heparin. In the complex...").

8. Im Streitpatent wird die Stabilität des erfindungsgemäßen Mittels sowohl in vitro (Beispiel 1.3) als auch in vivo (Beispiel 3) getestet, indem man dieses in Human-Citratplasma inkubiert und die PTZ der nach bestimmten Inkubationszeiten erhaltenen Proben bzw. Plasma-Proben aus injizierten Kaninchen bestimmt. Den Tabellen 2, 3a und 3b ist zu entnehmen, daß das beanspruchte Mittel nach 2 1/2 Stunden in vitro noch wirksam ist bzw. nach 30 min in aktiver Form im Tier noch zirkuliert.

9. Während des Einspruchsverfahrens trug die Beschwerdeführerin vor, daß Entgegenhaltung (1) einen Hinweis auf die Stabilität des darin beschriebenen Komplexes gäbe (siehe Eingabe vom 9. März 1995, Seite 4, zweiten Absatz: "In Tabelle 1, welche die Ergebnisse der Inhibierungsversuche zeigt, wird deutlich gemacht, daß der Faktor VIII-Faktor IXa-Komplex wesentlich stabiler gegen Inhibitoren ist als die Einzelkomponenten"). Eine niedrigere Inaktivierungsgeschwindigkeit durch Inhibitoren (siehe Tabelle 1: "Inactivation rate: k'(complex) = 0.69; k'(IXa) = 2.7") des Komplexes (k' = 0.69) im Vergleich mit derjenigen des Faktors IXa (k' = 2.7) wurde von der Beschwerdeführerin einer stabilisierenden Wirkung gleichgesetzt. Die Kammer ist jedoch der Meinung, daß die Inaktivierungsgeschwindigkeit eines Gerinnungsfaktors oder Komplexes durch Inhibitoren mit der Stabilität im Sinne des Streitpatents (siehe Absatz 8 oben) nichts zu tun hat, zumal in der Entgegenhaltung (1) die Messung von Faktor Xa aus Faktor X in Faktor IX-defizientem Human-Plasma vorgenommen (siehe Absatz 7 oben) und nicht die PTZ bestimmt wird. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß Entgegenhaltung (1) keinen Hinweis auf die Stabilität des Komplexes im Sinne des Streitpatents (PTZ Bestimmung) gibt, geschweige denn einen Hinweis, daß AT III einen schützenden oder stabilisierenden Effekt auf den Komplex ausübt.

10. Ferner, wie bereits unter Punkt 3 oben zur Neuheit ausgeführt wurde, enthält Entgegenhaltung (1) keinerlei Hinweis auf eine mögliche therapeutische Verwendung in vivo des darin beschriebenen Mittels zur Therapie einer gegen eine Behandlung mit Faktor VIII resistenten Hämophilie A. Diese Entgegenhaltung erwähnt lediglich die Einsatzmöglichkeit in vivo eines Faktor IXa-Faktor VIII-Komplexes (siehe Seite 34, rechte Spalte, zweiter Absatz, letzter Satz).

11. Aus alledem ergibt sich, daß die gegenüber Entgegenhaltung (1) zu lösende Aufgabe im Streitpatent darin besteht, ein stabiles Mittel zur Verfügung zu stellen, das sich zur in vivo Behandlung oder Therapie einer gegen Faktor VIII resistenten Hämophilie A eignet. Aufgrund der Angaben im Streitpatent, insbesondere der Ergebnisse der Tabellen 2 und 3b bezüglich der Stabilität in vitro bzw. der Stabilität/FEIB-Aktivität in vivo des beanspruchten Mittels, ist es glaubhaft, daß diese Aufgabe durch die im Anspruch 1 definierte Zubereitung gelöst wird.

12. Die Beschwerdeführerin vertritt die Meinung, die oben genannte Aufgabe sei nicht gelöst worden, weil der Anspruch 1 Bereiche umfasse, in denen sich kein wirksamer oder nur wenig wirksamer Komplex bilde (schwankenden Mengenangaben der Komponente und keine Anwendungskonzentration (E/ml) des Mittels im Anspruch 1). Die Kammer kann sich dieser Argumentation nicht anschließen. Abgesehen davon, daß sich im Anspruch 1 alle Angaben auf den Hauptbestandteil Faktor VIII beziehen, der festgelegt ist ("auf 4 Einheiten Faktor VIII"), hat die Beschwerdeführerin keine Tatsachen und Beweismittel vorgebracht, die nachweisen, daß der Anspruch 1 Bereiche umfaßt, in denen sich kein oder zu wenig wirksamer Komplex bildet. In bezug auf das Fehlen der Anwendungskonzentration (E/ml) des Mittels im Anspruch 1, ist die Kammer der Meinung, daß diese Angabe für die Lösung der Aufgabe nicht relevant ist, da der Fachmann in Kenntnis der erfindungsgemäßen Lehre in der Lage ist, diese routinemäßig mit wirksamen Anwendungskonzentrationen auszufüllen. Die Kammer schließt sich somit den Ausführungen in der Eingabe der Beschwerdeführerin vom 17. Dezember 1992 (siehe Seite 4, zweiter Absatz) an, daß "alle Verfahrensmaßnahmen ...von einem Fachmann leicht durch einfaches Probieren im Koagulometer herausgefunden werden können".

13. Die Beschwerdeführerin trägt weiterhin vor, dem beanspruchten Mittel fehle die erfinderische Tätigkeit, weil es für die Verkürzung der PTZ bzw. die Stabilität keine Rolle spiele, ob Faktor IX oder Faktor IXa in der beanspruchten Mischung eingesetzt werde (siehe Punkt 2 des Versuchsberichts (7)) oder ob AT III erst abschließend diesem Mittel zugegeben werde oder von Anfang an anwesend sei (siehe Punkt 5 des Versuchsberichts (7)) und daher diese Merkmale gegenüber dem in Entgegenhaltung (1) beschriebenen Mittel nicht erfindungsunterscheidend seien. Nach Auffassung der Kammer zeigen Punkte 2 und 5 des Versuchsberichts (7) lediglich, daß diese beiden Maßnahmen keine Änderung der Eigenschaften eines gemäß Anspruch 1 hergestellten Mittels hervorrufen. Diese sind jedoch nicht dafür geeignet, zu zeigen, daß sich das beanspruchte Mittel, verglichen mit dem in Entgegenhaltung (1) beschriebenen Mittel, ähnliche oder schlechtere Eigenschaften aufweist und daher die Aufgabe nicht löst. Andere, für einen Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik geeignete Testversuche, die zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant hätten sein können, wurden nicht vorgelegt. Zwar wird im Versuchsbericht (7) (siehe Seite 2, zweiter Absatz) eine Mischung, enthaltend Faktor VIII, AT III, Phospholipid, CaCl2 und Faktor IXa untersucht, diese Komponenten wurden jedoch "jeweils in der Konzentration der EP 255 651 gemischt", d. h. die Mischung wurde gemäß Anspruch 1 des Streitpatents und nicht gemäß Entgegenhaltung (1), hergestellt.

14. Es stellt sich nun die Frage, ob der Fachmann, von Entgegenhaltung (1) ausgehend, in naheliegender Weise, gegebenenfalls durch die Lehre einer der weiteren im Verfahren befindlichen Entgegenhaltungen oder aufgrund allgemeiner Fachkenntnisse, die beanspruchte Lösung gefunden hätte.

15. Nach Ansicht der Kammer gibt Entgegenhaltung (1) dem Fachmann keinen Hinweis, in die Richtung der beanspruchten Kombination von Produkt-Parametern und Verfahrensmaßnahmen zu gehen. Außerdem ist der Entgegenhaltung (1) nicht zu entnehmen, daß ein Präparat, erhältlich gemäß Anspruch 1 durch das Mischen von Faktor VIII, Faktor IX, AT III, Phospholipid und CaCl2 in den angegebenen Verfahrensschritten, in vitro und in vivo stabil und gerinnungsaktiv, geschweige denn in vivo stabil und umgehungssaktiv (FEIB-aktiv) sein würde.

16. Es wurde von der Beschwerdeführerin betont, daß Entgegenhaltung (1) offenbare, daß "AT III in Abwesenheit von Heparin keinen Einfluß auf den Komplex habe" und daß gerade in Anbetracht dieses fehlenden Einflusses von AT III auf den Komplex es naheliegend gewesen sei, AT III als Stabilisator in dem beanspruchten Mittel einzusetzen, zumal Entgegenhaltungen (3) und (6) (siehe Tabelle IV auf Seite 577 bzw. Seite 24, Zeile 6 von unten und Abb. 1 und 2) lehren, daß AT III als Stabilisator für den Prothrombin Komplex verwendet werden könne.

17. Die Kammer kann sich dieser Schlußfolgerung nicht anschließen. Zunächst ist festzustellen, daß dieser Satz ("In our conditions, without heparin no IXa inhibition could be detected in spite of the excess of AT III. For this reason we studied the rapid [inhibition] reaction that occurs in the presence of heparin. In the complex...") lediglich offenbart, daß keine Inhibierung (daher keine Inaktivierung) des Komplexes bestehend aus Faktor VIII, Faktor IXa, CaCl2 und Phospholipid durch AT III unter denselben Umständen wie in Experiment ( ) der Abb. 2B, aber in Abwesenheit von Heparin, zustandekommt (siehe Absatz 7 oben). Zusammenfassend lehrt Entgegenhaltung (1), daß AT III keinen Einfluß auf diesen Komplex ausübt, weder stabilisierend noch schützend (siehe Absatz 9 oben). Dies würde für den Fachmann keine Anregung darstellen, dem Komplex noch AT III hinzuzufügen.

18. Was eine mögliche Kombination der Lehre von Entgegenhaltung (1) mit denjenigen der Entgegenhaltungen (3) und (6) betrifft, ist zu bemerken, daß die letzteren gerade das Gegenteil zeigen, d. h., daß AT III Gerinnungsfaktoren inhibiert (siehe Entgegenhaltung (3), Seite 577, Tabelle IV und Seite 579, letzten Absatz: "The presence of AT III limits the activation of serine proteases as it forms an inhibitory complex" bzw. Entgegenhaltung (6), Seite 26, Abbildung 3). Der Fachmann würde zwei widersprüchliche Lehren nicht kombinieren.

19. Daher beruhen die Ansprüche 1 bis 5 für alle benannten Vertragsstaaten außer AT, ES und GR und Ansprüche 1 bis 4. für AT, ES und GR auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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