European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1999:T006894.19990811 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 11 August 1999 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0068/94 | ||||||||
Anmeldenummer: | 88110284.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | A23C 9/20 | ||||||||
Verfahrenssprache: | DE | ||||||||
Verteilung: | C | ||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | Verfahren zur Herstellung bifidogener Säuglings- und Diätnahrungen mit verminderter Antigenität | ||||||||
Name des Anmelders: | MILUPA AKTIENGESELLSCHAFT | ||||||||
Name des Einsprechenden: | Krayer, Warner Dirk | ||||||||
Kammer: | 3.3.04 | ||||||||
Leitsatz: | - | ||||||||
Relevante Rechtsnormen: |
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Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit - (nein) Rechtliches Gehör - (ja) |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Auf die europäische Patentanmeldung 88 110 284.2 wurde das europäische Patent Nr. 0 307 559 auf der Grundlage von sieben Ansprüchen erteilt. Der Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Verfahren zur Herstellung von bifidogenen Säuglings- und Diätnahrungen, bei dem man Milch, Milchbestandteile oder Milchprodukte von Säugetieren in an sich bekannter Weise adaptiert (der Muttermilch anpaßt), dadurch gekennzeichnet, daß man zur Erzielung der Bifidogenität Sialinsäure von den Milchproteinen und deren Abbauprodukten abspaltet."
Die Ansprüche 2 bis 7 sind von Anspruch 1 abhängig.
II. Gegen die Patenterteilung legte der Beschwerdeführer (Einsprechender) aufgrund des Artikels 100 a) EPÜ Einspruch ein.
III. Der Beschwerdeführer stützte sich insbesondere auf die folgenden Entgegenhaltungen:
D1: Dissertation Abstracts International, 37 (2) 679, 1976.
D2: Eur. J. Biochem, 43, 29-33, 1974.
IV. Mit der Entscheidung vom 15. November 1993 wurde der Einspruch gemäß Artikel 102 (2) EPÜ zurückgewiesen. Im Gegensatz zur Argumentation des Einsprechenden war die Einspruchsabteilung der Auffassung, der beanspruchte Gegenstand beruhe auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die zugrundeliegende Aufgabe sei die Bereitstellung eines Verfahrens zur Herstellung von bifidogener Säuglings- oder Diätnahrung, welche, verglichen mit dem Ausgangsprodukt, auch eine verminderte Antigenität besitze. Die vorgeschlagene Lösung sehe die Abspaltung der Sialinsäure von den Milchproteinen vor.
In der Entgegenhaltung D1, welche als nächstliegender Stand der Technik erachtet wurde, war eine Methode zur Isolation von reiner Sialinsäure und Kasein Bifidus Factor (KBF) aus Kasein beschrieben. Durch Säurehydrolyse mit Schwefelsäure finde eine Abspaltung der genannten Komponenten statt, anschließend folgten Reinigungsschritte aller Komponenten. Eine Anwendung im Bereich der Lebensmittel werde nur für "food applications" allgemein und nur für das von Sialinsäure befreite Kasein angegeben.
D1 beschreibe lediglich die mögliche Verwendung des verbleibenden Kaseins nach der Behandlung für Lebensmittel, über die Eigenschaften des KBF oder einer Mischung von verbleibendem Kasein und KBF würden aber keine weiteren Aussagen getroffen. Dementsprechend sei es nach D1 fraglich, ob die Kombination von Kasein mit KBF überhaupt als Säuglings-/Diätnahrung geeignet sei. D1 schildere die Isolation von Sialinsäure und KBF von Kasein. Durch Säurebehandlung würden beide Komponenten gleichzeitig abgespalten. Es gebe aber keinen Hinweis darauf, daß ein funktioneller Zusammenhang zwischen besagter Sialinsäure und dem KBF bestehe. Das Kasein werde nur als Quelle für beide Komponenten beschrieben. Im Gegensatz dazu offenbare das Streitpatent, daß erst durch Abspaltung der Säure die Bifidogenität erzielt werde, d. h. ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Säureabspaltung und der gewünschten Eigenschaften bestehe. Dementsprechend sei die Lösung des Problems der Herstellung bifidogener Säuglingsnahrung durch Abspaltung von besagter Säure nicht nahegelegt. D1 beschreibe vielmehr die gleichzeitige Abtrennung eines zweiten Bestandteils zusätzlich zum KBF, ohne zu erkennen, daß besagte zweite Komponente erst die Ursache für den bifidogenen Effekt und folglich essentiell für ein entsprechendes Verfahren sei. D1 schlage aber dem Fachmann lediglich die Zugabe eines abgetrennten und gereinigten KBF vor, der wesentliche Unterschied jedoch, daß Sialinsäure abgespalten werden müsse, um den Effekt zu erzielen, könne nicht abgeleitet werden.
D2 behandele Bifidusfaktoren in humaner Milch. Dabei sei durch Abspaltung von Sialinsäure aus Glykoproteinen oder Oligosacchariden eine bifidogene Wirkung nachweisbar. Da es sich in D2 nicht um die gegenständlich beanspruchten tierischen Milchprodukte handele, die der humanen Milch angepaßt würden, könne aufgrund der unterschiedlichen chemischen Zusammensetzung von Frauen- bzw. tierischer Milch, auf ein Naheliegen des im Streitpatent beanspruchten Gegenstandes nicht geschlossen werden.
Es sei also nicht nachvollziehbar, daß die Lehre der Entgegenhaltung D2 auch auf die Entgegenhaltung D1 angewandt werden könne, da unterschiedliche Ausgangsstoffe verwendet würden.
V. Gegen diese Entscheidung hat der Beschwerdeführer unter Zahlung der vorgeschriebenen Gebühren Beschwerde erhoben und die Beschwerdebegründung eingereicht. Die Beschwerdegegnerin nahm dazu Stellung.
VI. Da beide Parteien eine mündliche Verhandlung beantragt hatten, wurden sie zu einer Verhandlung am 11. August 1999 geladen. Die Beschwerdegegnerin zog den Antrag zurück und beantragte eine Entscheidung nach Aktenlage. Der Beschwerdeführer informierte die Kammer, daß er an der Verhandlung nicht teilnehmen werde.
Die mündliche Verhandlung fand am 11. August 1999 statt. Keine der Parteien ist erschienen. Die Entscheidung der Kammer wurde verkündet.
VII. Im schriftlichen Verfahren trug der Beschwerdeführer im wesentlichen folgendes vor:
Ein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ liege vor, weil die von der Einspruchsabteilung im Bescheid vom 21. April 1993 mitgeteilte vorläufige Meinung eine völlig andere sei als die Begründung der angefochtenen Entscheidung, und weil die schlußendlich in der Entscheidung aufgeführten Argumente in der mündlichen Verhandlung nicht diskutiert worden seien.
Die Entgegenhaltung D1 beziehe sich auf die Herstellung von Sialinsäure und Kasein Bifidusfaktor (KBF) und dieser Faktor führe zum Wachstum von L.bifidus. Darin werde ein Verfahren zur Herstellung reiner Sialinsäure und KBF beschrieben, in dem man Kasein mit Säure hydrolysiert. Dadurch sei eine direkte Verbindung zwischen der Erzeugung der Sialinsäure und KBF zu erkennen. Daher sei es für den Fachmann ohne weiteres herleitbar, daß Bifidogenität dem Produkt Kasein nach Abspaltung der Sialinsäure verliehen werde.
Entgegenhaltung D2 zeige u. a., daß die Sialinsäurereste der Oligosacchariden aus humaner Milch diese gegen Degradierung durch Bifidobakterien schützten und dadurch deren Verwendung als Wuchsstoffe nicht ermöglichten.
VIII. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) trug im wesentlichen folgendes vor:
Sachlich sei der Antrag des Einsprechenden nicht begründet, weil bei der im Bescheid vom 21. April 1993 dargelegten Meinung der Einspruchsabteilung es sich um eine vorläufige Meinung handelt. Eine mündliche Verhandlung wäre doch völlig überflüssig, wenn die Einspruchsabteilung oder auch eine Beschwerdekammer an ihre vorläufige Meinung gebunden wäre.
In der Entgegenhaltung D1 werde über das KBF ausgesagt, daß dessen Peptidfraktion heterogen sei, wobei vorwiegend Peptide mit Molekulargewichten von mehr als 1000 bifidogen seien. Im Gegensatz zur Auffassung der Einsprechenden lehre D1 nicht, daß diese Peptinfraktion eine sialinsäurefreie Proteinfraktion sei. Diesbezügliche Ausführungen fänden sich in D1 nicht. D1 spreche lediglich davon, daß bei der dort beschriebenen Hydrolyse sialinsäurefreies Kasein anfalle. Über die Bifidogenität dieses Kasein sei nichts ausgesagt.
Es sei somit in erster Näherung erst einmal davon auszugehen, daß die bei der dort beschriebenen Hydrolyse erhaltene Sialinsäure von Kasein abgespalten werde.
Daher könne D1 auch nicht entnommen, daß es - wie erfindungsgemäß vorgeschlagen werde - erst durch die Abspaltung der Sialinsäure von Kasein möglich sei, dem Produkt Bifidogenität zu verleihen.
Entgegenhaltung D2 befasse sich mit Humanmilch. Die bezüglich von Humanmilch gefaßten Erkenntnisse könnten nicht ohne weiteres auf zu adaptierende Kuhmilch übertragen werden.
Dabei sei auch zu berücksichtigen, daß Humanmilch bereits bifidogen sei. Die in Humanmilch untersuchten nicht dialysierbaren stickstoffhaltigen Oligosaccharide aus Humanmilch fänden sich nicht in Kuhmilch. Die in Zusammenhang mit derartigen Oligosaccariden gefundenen Erkenntnisse, könnten nicht auf Kuhmilch etc. übertragen werden. Daher führten auch die zwei Entgegenhaltungen D1 oder D2 alleine oder eine Kombination von D2 und D1 nicht zum Streitgegenstand.
IX. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents Nr. 0 307 559.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Rechtliches Gehör, Artikel 113 (1) EPÜ
Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat die Einspruchsabteilung gegen Artikel 113 EPÜ verstoßen, indem sie ihre vorläufige Meinung, die im Bescheid vom 21. April 1993 zum Ausdruck gekommen war, nach der mündlichen Verhandlung geändert hat, ohne daß er sich zu den Gründen, auf die sich erst die angefochtene Entscheidung stützte, äußern konnte.
Vorläufige Meinungen sind nie bindend. Eine mündliche Verhandlung dient dazu, die Argumente der Parteien in konzentrierter Form darzulegen und zu diskutieren. Dies bedeutet, daß sich beide Parteien bei dieser Gelegenheit zu den Argumenten der Gegenpartei äußern können, entsprechend den Erfordernissen des Artikels 113 EPÜ. Die Beschwerdegegnerin hatte schon in ihrem Brief vom 11. März 1993 ihre Argumente dargestellt, die die Einspruchsabteilung dann in der angefochtenen Entscheidung für sachdienlich hielt. Jeder Partei waren somit alle Argumente bekannt. Jede Partei muß wissen, daß Argumente des Gegners das entscheidende Gremium überzeugen können. Der Beschwerdeführer hatte auch Gelegenheit, in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung Stellung zu den Ausführungen der Beschwerdegegnerin zu nehmen. Somit kann die Kammer keinen Verstoß gegen das rechtliche Gehör im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erkennen.
3. Neuheit, Artikel 54 EPÜ
Die Beschwerdeführerin hatte den Antrag auf Zurückweisung des Patents aufgrund mangelnder Neuheit schon während der mündlichen Verhandlung, die am 28. Oktober 1993 vor der Einspruchsabteilung stattgefunden hat, zurückgenommen. Die Beschwerdekammer ist ebenfalls der Meinung, daß der Gegenstand des angefochtenen Patents als neu zu betrachten ist.
4. Erfinderische Tätigkeit, Artikel 56 EPÜ
Es ist zu prüfen, ob der Gegenstand des Anspruchs 1 im Lichte des Offenbarungsgehalts der Entgegenhaltungen D1 und/oder D2 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
4.1. Nächstliegender Stand der Technik
Der Säuglings- und Diätnahrungsmittelfachmann verfügt nicht nur über Kenntnisse über die Bestandteile und Herstellungsmöglichkeiten von Babynahrungsmitteln, sondern auch über Kenntnisse über die Humanmilch. Humanmilch und Säuglingsnahrungsmittel, die aus Produkten anderer Säugetiere hergestellt werden, enthalten viele gleiche oder ähnliche Bestandteile; diese Ansicht wird durch Textbücher, wie z. B. "Dr. Oetker, Lexikon Lebensmittel und Ernährung, 1983, 645, Tabelle 17", gestützt.
Deswegen ist auch die Entgegenhaltung D2 in dem vorliegenden Fall von Relevanz, obwohl sie sich mit Humanmilch befaßt.
Der Fachmann wußte schon aus Entgegenhaltung D2, daß aus der Humanmilch gewonnene Oligosaccharide nach einer milden Schwefelsäurehydrolysierung mit nachfolgender Neutralisierung oder nach Behandlung mit Neuraminidase eine höhere L.bifidus-Aktivität hatten als die unbehandelten Oligosaccharide. Diese höhere Aktivität war weder auf die freie Sialinsäure noch auf die Neuraminidase zurückzuführen. Die genannte Entgegenhaltung macht klar, daß die erhöhte Bifidogenität der Abspaltung der Sialinsäurereste von den Oligosacchariden der Glykoproteine zuzuschreiben ist, da diese deren Verwendung als Wuchsstoffe nicht erlaubt. Diese Offenbarung der Entgegenhaltung D2 stellt nach Meinung der Beschwerdekammer den nächsteliegenden Stand der Technik dar.
4.2. Die Aufgabe
Hinsichtlich der Offenbarung der Entgegenhaltung D2 ist die Aufgabe wie folgt zu formulieren:
Es ist ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, das die Bifidogenität der Milchproteine und deren Abbauprodukte in Säuglings- und Diätnahrungen erzielt.
4.3. Die Lösung der Aufgabe
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt Anspruch 1 vor, Sialinsäure von den Milchproteinen und deren Abbauprodukten abzuspalten.
4.4. Die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit
Aufgrund der engen (auch chemischen) Verwandtschaft zwischen der Humanmilch und den Säuglingsnahrungsmitteln hätte der Fachmann, von der Entgegenhaltung D2 ausgehend, um die zugrundeliegende technische Aufgabe zu lösen, ohne weiteres versucht, die Bifidogenität der Milchproteine und ihrer Abbauprodukte (z. B. auch der Oligosaccharide der Glykoproteine) durch Abspaltung der Sialinsäurereste zu erzielen. Da es auch keine Vorurteile oder besondere Bedenken gegen eine solche Behandlung gab, hätte der Fachmann diese Abspaltung nach an sich bekannten Methoden (z. B. nach der Methode der Entgegenhaltung D2) in Erwartung von technischem Erfolg bzw. einer Verbesserung durchgeführt. Somit ist die vorgeschlagene Lösung der Aufgabe gemäß Anspruch 1 als naheliegend zu betrachten (Artikel 56 EPÜ).
Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Diskussion der Entgegenhaltung D1.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.