T 0083/92 () of 13.6.1994

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1994:T008392.19940613
Datum der Entscheidung: 13 Juni 1994
Aktenzeichen: T 0083/92
Anmeldenummer: 84109152.3
IPC-Klasse: C08L 33/26
Verfahrenssprache: DE
Verteilung: C
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Formaldehydfreie wäßrige Kunststoffdispersionen auf Basis eines vernetzten Polymerisats, Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung
Name des Anmelders: Hoechst Aktiengesellschaft
Name des Einsprechenden: 01) Röhm GmbH
02) BASF Aktiengesellschaft
Kammer: 3.3.03
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: Neuheit - nach Änderung (ja)
Erfinderische Tätigkeit (ja) - Aufgabe glaubhaft gelöst
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
G 0001/92
T 0093/89
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 84 109 152.3, die am 2. August 1984 unter Inanspruchnahme der Priorität aus der Voranmeldung vom 6. August 1983 in Deutschland (DE 3 328 456) angemeldet worden war, ist am 14. Januar 1987 das europäische Patent Nr. 143 175 auf der Grundlage von 10 Ansprüchen für die Vertragsstaaten BE, CH, DE, FR, GR, IT, LI, NL, SE bzw. 9 Ansprüchen für den Vertragsstaat AT erteilt worden.

Anspruch 1 des ersten Anspruchssatzes lautete:

"Formaldehydfreie wäßrige Kunststoffdispersionen auf Basis eines vernetzbaren Polymerisats aus ethylenisch ungesättigten Monomeren mit einem Gehalt an N-Methylolamid und/oder N-Methyloletheramidgruppen, dadurch gekennzeichnet, daß die Dispersionen eine Verbindung der Formel (I)

(I)

(FORMEL)

worin n = 0 oder 1,

X = Sauerstoff, -CH2-, -CH(R)- oder -N(R)-, wobei R für (C1-C4)-Alkyl oder (C1-C4)-Alkylol steht,

und

R1, R2 = H oder OH bedeutet,

enthalten."

Anspruch 1 des zweiten Anspruchssatzes war auf ein Verfahren zur Herstellung von formaldehydfreien wäßrigen Kunststoffdispersionen gerichtet, die durch die gleichen Merkmale wie die Produkte gemäß dem ersten Anspruchssatz gekennzeichnet waren.

II. Gegen die Erteilung des europäischen Patents wurde am 9. Oktober 1987 (Einsprechende 1) und am 8. Oktober 1987 (Einsprechende 2) Einspruch eingelegt und Widerruf des Patents in vollem Umfang wegen mangelnder Neuheit sowie mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Art. 100 a) EPÜ) beantragt. Zur Stützung ihres Vorbringens haben die Einsprechenden auf folgende Dokumente

(1) EP-A-80 635,

(2) Textile Chemist and Colorist, Band 12, No. 12, 1980, Seiten 311 bis 316,

(3) Polymerdispersionen, Teil I, Acronal-Marken, November 1976, BASF,

(4) Anmeldung von ACRONAL 251 D als Verkaufsprodukt der BASF,

(5) Anmeldung von ACRONAL 250 D als Verkaufsprodukt der BASF und

(6) Betriebsergebnisse der Acronal-Fabrik, 1976, Seiten 3160 und 3161

verwiesen.

III. Durch Entscheidung vom 18. September 1991, zur Post gegeben am 18. November 1991 hat die Einspruchsabteilung das Patent widerrufen. In der angefochtenen Entscheidung wird zunächst festgestellt, die beanspruchten Dispersionen seien neu, denn keiner der Entgegenhaltungen sei eine Kunststoffdispersion im Sinne des Streitpatents zusammen mit einer Verbindung der Formel (I) zu entnehmen. Insbesondere könne der mit Dokument (3) belegte Verkauf des Handelsprodukts ACRONAL 251 D einer offenkundigen Vorbenutzung nicht gleichgesetzt werden, da entsprechend der Entscheidung T 93/89 (ABl. EPA 1992, 718) für Sachverständige kein Anlaß zur Untersuchung bestanden habe und somit dessen genaue Zusammensetzung der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden sei. Dagegen beruhe der Gegenstand des Streitpatents nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, da die Verwendung von Ethylenharnstoff oder Propylenharnstoff anstatt Harnstoff in den aus Dokument (1) bekannten Polymerisaten im Hinblick auf Dokument (2) naheliegend sei.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) am 27. Januar 1992 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde erhoben und hierzu am 27. März 1992 eine Begründung eingereicht.

Zunächst wurde das Beschwerdeverfahren auf der Basis der erteilten Ansprüche weiterverfolgt.

Mit Bescheid vom 15. Juni 1993 teilte die Kammer mit, daß im Hinblick auf die Entscheidung G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277) die beanspruchten Produkte nicht mehr für neu gehalten werden könnten.

V. Danach reichte die Beschwerdeführerin am 22. Dezember 1993 als Hauptantrag zwei Anspruchssätze ein, die am 14. Januar 1994 noch geändert wurden. Anspruch 1 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten BE, CH, DE, FR, GB, IT, LI, NL, SE in der Fassung vom 14. Januar 1994 lautet wie folgt:

"Formaldehydfreie wäßrige Kunststoffdispersionen auf Basis eines vernetzbaren Polymerisats aus ethylenisch ungesättigten Monomeren mit einem Gehalt an N-Methylolamid und/oder N-Methyloletheramidgruppen, dadurch gekennzeichnet, daß die Dispersionen bis 10. Gew.-%, bezogen auf die Dispersion, einer Verbindung der Formel (I)

(FORMEL)

(I)

worin n = 0 oder 1,

X = Sauerstoff, -CH2-, -CH(R)- oder -N(R)-, wobei R für (C1-C4)-Alkyl oder (C1-C4)-Alkylol steht,

und

R1, R2 = H oder OH bedeutet,

enthalten, daß sie übliche Säuren und/oder Säurespender enthalten und ihr Feststoffgehalt 15 bis 65 Gew.-%, bezogen auf die wäßrige Dispersion, beträgt, daß das vernetzbare Polymerisat übliche Grundmoleküleinheiten mit zur Vernetzung fähigen N-Methylolamid- und/oder N-Methyloletheramidgruppen enthält und daß das vernetzbare Polymerisat N-Methylolacrylamideinheiten und/oder N-(Isobutoxymethyl)acrylamideinheiten als zur Vernetzung fähige Komponente enthält."

Anspruch 1 des Anspruchssatzes für den Vertragsstaat AT ist auf ein Verfahren zur Herstellung von Dispersionen mit den gleichen Merkmalen gerichtet.

Zusammen mit diesen Ansprüchen reichte die Beschwerdeführerin einen Versuchsbericht ein, wonach im Vergleich zu Harnstoff der Zusatz von Ethylenharnstoff eine verlangsamte Viskositäterhöhung und Vergelung bei verringertem Formaldehydgehalt bewirke.

Die am 20. August 1993 als Hilfsanträge eingereichten Anspruchssätze gelten weiterhin als erster bzw. zweiter Hilfsantrag.

VI. Am 26. Januar 1994 zog die Beschwerdegegnerin 2 ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.

In ihren späteren schriftlichen Stellungnahmen bemängelte sie Unterschiede zwischen den für den Versuchsbericht der Beschwerdeführerin verwendeten Zusammensetzungen und dem tatsächlich nächstliegenden Stand der Technik. Die Ergebnisse dieser Vergleichsversuche seien deshalb nicht aussagekräftig.

VII. Die Einsprechende 1 hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage der am 22. Dezember 1993 eingereichten und am 14. Januar 1994 modifizierten Anspruchssätze als Hauptantrag oder auf der Grundlage der am 20. August 1993 eingereichten Anspruchssätze als Hilfsanträge.

Die Beschwerdegegnerin 2 beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist zulässig.

2. In ihren Eingaben vom 24. Juli 1992 bzw. 30. Oktober 1992 haben die Beschwerdegegnerin 2 und die Beschwerdeführerin ihre Argumente auf neue Dokumente gestützt, die also nicht innerhalb der Einspruchsfrist gemäß Artikel 99 (1) EPÜ genannt worden sind. Die Relevanzprüfung dieser Druckschriften durch die Kammer hat ergeben, daß deren wesentliche Lehre nicht über das hinaus geht, was schon aus den rechtzeitig eingeführten Druckschriften bekannt ist, und daß sie deshalb nicht entscheidungserheblich sind. Sie werden daher im folgenden unberücksichtigt bleiben (Art. 114 (2) EPÜ).

3. Der Wortlaut der geltenden Ansprüche ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.

3.1. Gegenüber dem erteilten Anspruch 1 des Anspruchssatzes für die Vertragsstaaten BE, CH, DE, FR, GB, IT, LI, NL, SE unterscheidet sich die Fassung des geltenden Anspruchs 1 durch (i) die Angabe der Menge der Verbindung der Formel (I) in den Dispersionen, (ii) die Anwesenheit von üblichen Säuren und/oder Säurespendern, (iii) die Angabe des Feststoffgehalts der Dispersionen, (iv) die Anwesenheit im vernetzbaren Polymerisat von üblichen Grundmoleküleinheiten mit zur Vernetzung fähigen N-Methylolamid- und/oder N-Methyloletheramidgruppen, und (v) die Anwesenheit im vernetzbaren Polymerisat von N-Methylolacrylamideinheiten und/oder N-(Isobutoxymethyl)acrylamideinheiten. Die Merkmale (i) bis (iii) stützen sich auf Seite 3, Zeilen 51 bis 57 des erteilten Patents entsprechend Seite 6, Zeile 22 bis Seite 7, Zeile 1 der ursprünglichen Anmeldung. Das Merkmal (iv) ist Anspruch 5 des erteilten Patents bzw. der ursprünglichen Anmeldung zu entnehmen. Das Merkmal (v) stützt sich auf den erteilten bzw. ursprünglichen Anspruch 6 sowie auf die erteilten bzw. ursprünglichen Beispiele 2 und 7.

Mit Ausnahme der einzelnen Merkmale, die in Anspruch 1 aufgenommen worden sind, entsprechen die Ansprüche 2 bis 9. den erteilten bzw. ursprünglichen Ansprüchen 2 bis 5 und 7 bis 10.

3.2. Die gleichen Erwägungen gelten für den Anspruchssatz für den Vertragsstaat AT, dessen Ansprüche 1 bis 5 den Ansprüchen 1 bis 5 des obigen Anspruchssatzes entsprechen, jedoch in Verfahrensansprüche umformuliert, und dessen Ansprüche 6 bis 8 mit den Ansprüchen 7 bis 9 des obigen Anspruchssatzes identisch sind.

4. Im Hinblick auf die in Anspruch 1 vorgenommenen Änderungen kann der Einwand mangelnder Neuheit nicht aufrechterhalten werden.

Dokument (1) beschreibt selbstvernetzende wäßrige Kunststoffdispersionen bestehend aus einer wäßrigen Phase, die 0,2 bis 5 Gew.-% Harnstoff enthält, und darin dispergierten Vinylcopolymerisatpartikeln. Schon aufgrund des Formaldehydfängers, der nur Harnstoff sein kann, können diese Produkte die beanspruchten Dispersionen nicht vorwegnehmen.

In der Entgegenhaltung (2) werden Ethylenharnstoff und Propylenharnstoff als geeignete Formaldehydfänger genannt. Dabei werden die Copolymerisate jedoch nicht als wäßrige Kunststoffdispersionen behandelt, noch ist die Zusammensetzung dieser Copolymerisate angegeben.

Aus Dokumenten (3) bis (6) geht hervor, daß das Handelsprodukt ACRONAL 251 D eine wäßrige Kunststoffdispersion ist, die durch Zugabe von Ethylenharnstoff zu der Grunddispersion ACRONAL 250 D hergestellt wird; letzteres enthält ein Copolymerisat auf Basis von Ethylacrylat (57,6 Gew.-%), Methylmethacrylat (35,8 Gew.-%), Acrylsäure (1,1 Gew.-%) und N-Methylolmethacrylsäureamid (5,5 Gew.-%), das also keine gemäß Streitpatent zwingenden N-Methylolacrylamideinheiten besitzt. Diese zur Vernetzung fähige Komponente stellt somit ein unterscheidendes Merkmal dar.

5. Das Streitpatent betrifft formaldehydfreie wäßrige Kunststoffdispersionen auf Basis eines vernetzbaren Polymerisats, ein Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung. Derartige Kunststoffdispersionen sind bereits in Dokument (1) beschrieben, das die Kammer, wie die Einspruchsabteilung, als den nächsten Stand der Technik ansieht. Gemäß dem Anspruch von dieser Druckschrift enthalten diese Dispersionen ein Vinylcopolymerisat aus (a) 70 bis 97,9 Gew.-% eines Hauptmonomeren aus der Gruppe (Meth)acrylat, Vinylester und Styrole, (b) 0,1 bis 10. Gew.-% N-Methylol(meth)acrylamid, (c) 2 bis 10 Gew.-% eines Hydroxyalkylesters einer , -ungesättigten Mono- oder Dicarbonsäure, und (d) 0 bis 27,9 Gew.-% eines oder mehrerer Comonomeren; sie enthalten ferner 0,2 bis 5. Gew.-% Harnstoff. Gemäß Beispiel 5, worauf sich die Beschwerdegegnerin 2 insbesondere bezogen hat, wird eine Dispersion eines Vinylcopolymerisats aus 360 Teilen Vinylacetat, 20 Teilen 2-Hydroxyethylacrylat und 20. Teilen einer N-Methylolacrylamidlösung mit 2 Gew.-% Harnstoff versetzt und anschließend mit Phosphorsäure auf pH 2,2 eingestellt. Obwohl dadurch die Freisetzung vorhandenen oder sich durch Abspaltung bildenden Formaldehyds weitgehend verhindert wird, bleibt der Gehalt an freiem Formaldehyd zu hoch, um die Herstellung von Vliesstoffen für den Sanitär- und Hygienebereich anvisieren zu können; darüber hinaus kann die Lagerungsstabilität dieser Dispersionen nicht für zufriedenstellend gehalten werden.

Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten kann die dem Streitpatent zugrundeliegende Aufgabe darin gesehen werden, wäßrige Kunststoffdispersionen mit einer geringeren, physiologisch unbedenklichen Formaldehydabspaltung und einer verbesserten Lagerungsstabilität bereitzustellen.

Diese Aufgabe soll laut Anspruch 1 durch die Verwendung eines Harnstoffderivats der Formel (I) als Formaldehydfänger gelöst werden.

6. Zusammen mit den geltenden Ansprüchen des Hauptantrags hat die Beschwerdeführerin einen Versuchsbericht eingereicht, wonach durch Zusatz von Ethylenharnstoff in den beanspruchten Mengen der Gehalt an freiem Formaldehyd unter 10 ppm abgesenkt wird, ohne daß Probleme durch Gelieren auftreten. Insbesondere geht aus der Tabelle der Eingabe vom 22. Dezember 1993 hervor, daß bei Zusatz von Harnstoff (i) der Gehalt an freiem Formaldehyd 61 ppm beträgt und (ii) alle Proben nach zwei Tagen bereits bei Raumtemperatur nicht mehr fließfähig sind, wogegen bei Zusatz von 1 bzw. 2 Gew.-% Ethylenharnstoff (i) der Gehalt an freiem Formaldehyd auf 3 ppm herabgesetzt wird und (ii) die Dispersionen 12 bzw. 5 Tage lagerungsstabil bleiben. Dabei wurde eine Dispersion eines Vinylcopolymerisats aus 428 Teilen Vinylacetat, 0,4 Teilen Maleinsäureanhydrid und 4 Teilen N-Methylolacrylamid (als 48 %ige Lösung) mit einem Feststoffgehalt von 45 % verwendet.

Demgegenüber hat die Beschwerdegegnerin in ihrer Eingabe vom 29. März 1994 geltend gemacht, die Zusammensetzung dieses Vinylcopolymerisats sei keine exakte Nacharbeitung des Beispiels 5 gemäß Dokument (1), weil kein Hydroxyethylacrylat, wohl aber Maleinsäureanhydrid als Comonomer für dessen Herstellung verwendet worden sei; der Vergleich zwischen Harnstoff und Ethylenharnstoff als Formaldehydfänger sei somit nicht aussagekräftig. Hingegen habe eine genaue Nacharbeitung des Beispiels 5 bei einem Feststoffanteil von 30 % keinen Unterschied zwischen Harnstoff und Ethylenharnstoff hinsichtlich eines Viskositätsanstiegs gezeigt.

Hierzu muß festgestellt werden, daß die für den Gegenversuch der Beschwerdegegnerin untersuchte Dispersion nur zwei Drittel des Feststoffanteils der von der Beschwerdeführerin verwendeten Dispersionen enthält. Da die Gefahr des Gelierens von der Konzentration der Dispersion direkt abhängt, sind die Versuchsergebnisse der Beschwerdegegnerin nicht schlüssig.

Wenngleich die Zusammensetzung des von der Beschwerdeführerin verwendeten Vinylcopolymerisats von der des Copolymers gemäß Beispiel 5 ebenso abweicht, erfüllt sie nichtsdestoweniger aufgrund der von N-Methylolacrylamid abgeleiteten Einheiten die Voraussetzung einer reduzierten Formaldehydfreisetzung, da diese auf eine spezifische Wechselwirkung zwischen dem freiwerdenden Formaldehyd, dem Harnstoff und den Hydroxylgruppen zurückgeführt wird (Seite 4, Zeilen 14 bis 20). Daß mit diesen Methylolgruppen gemeint sind, ist aufgrund der Tatsache, daß die Harnstoffmenge vom Methylolamid-Anteil bestimmt wird, eindeutig (Seite 6, Zeile 23 bis Seite 7, Zeile 5). Daraus folgt, daß die Abwesenheit von Hydroxyethylacrylat diese Wechselwirkung nicht gefährden kann. Was die zusätzliche Anwesenheit von Maleinsäureanhydrid anbelangt, so ist diese Verbindung als Comonomer im Sinne des Merkmals (d) des Patentanspruchs zu sehen, also in Einklang mit der allgemeinen Lehre der Entgegenhaltung (1). Deshalb kann die von der Beschwerdeführerin gewählte Zusammensetzung trotz dieser Abweichungen noch als geeignete Vergleichsbasis angesehen werden.

Somit stellt der Versuchsbericht der Beschwerdeführerin vom 22. Dezember 1993 einen ausreichenden Beweis dafür dar, daß durch Verwendung von Harnstoffderivaten der Formel (I) die oben definierte technische Aufgabe tatsächlich gelöst wird.

7. Es bleibt nun noch zu untersuchen, ob der Gegenstand des Streitpatents auf erfinderischer Tätigkeit beruht.

7.1. Wie oben erwähnt, ist die Unterdrückung der Formaldehydfreisetzung in Dokument (1) auf eine spezifische Wechselwirkung zwischen dem frei werdenden Formaldehyd, dem Harnstoff und den Hydroxylgruppen zurückzuführen. Da sogar davor gewarnt wird, daß sich mit anderen bekannten Formaldehydfängern keine vergleichbaren Wirkungen erzielen lassen (Seite 4, Zeilen 14 bis 24), bestand für den Fachmann kein Grund, von dieser Lehre abzuweichen und somit auf die Vorteile dieser Wechselwirkung zu verzichten. Darüber hinaus wird in Dokument (1) die Lagerungsstabilität der Dispersionen überhaupt nicht angesprochen, so daß eine Lehre zur Lösung der zweiten Teilaufgabe dieser Entgegenhaltung ebensowenig entnommen werden kann.

7.2. In Dokument (2) wird die Wirksamkeit stickstoffenthaltender Verbindungen als Formaldehydfänger nach deren Struktur untersucht (Seite 311, Spalte 3, Absatz 5). Dabei werden die Verbindungen nicht wäßrigen Dispersionen, wie im vorliegenden Fall, sondern Lösungen zugesetzt.

Ein direkter Vergleich zwischen Harnstoff, Ethylen- harnstoff und Propylenharnstoff zeigt, daß die Wirksamkeit dieser Verbindungen von ihrer Konzentration abhängt. Bei Konzentrationen höher als etwa 4 % ist Ethylenharnstoff erwartungsgemäß, d. h. aufgrund seines höheren pKb-Wertes wirksamer; bei niedrigeren Konzentrationen dagegen ist Harnstoff der wirksamste Formaldehydfänger, was auf die Arbeitsbedingungen zurückgeführt wird (Seite 313, Spalte 2, Absätze 2 und 3; Seite 315, Figur 4). Insgesamt aber sind diese drei Verbindungen, die als nicht aromatische Amide eingestuft werden, bei weitem nicht so wirksam wie manche heterozyklische stickstoffenthaltende Verbindungen, die keine Carbonylgruppen enthalten, wie Indolin, Benzimidazol und Benzotriazol (Seite 314, Spalte 1, Absatz 10 bis Spalte 3, Absatz 1; Seite 315, Spalte 3, Absatz 4; Seite 316, Figuren 8 bis 10). Selbst wenn man davon ausgeht, daß der Fachmann manchen untersuchten Verbindungen aufgrund ihrer Kosten oder Nebenwirkungen trotz vielversprechender Ergebnisse keine praktische Bedeutung beimessen würde (Seite 312, Spalte 1, Absatz 1), gibt es innerhalb der homogenen Gruppe der sog. nicht aromatischen Amide keinen Grund, im Gesamtbereich bis 10 Gew.-% Ethylenharnstoff oder Propylenharnstoff den Vorzug zu geben.

Außerdem, wie im Falle von Dokument (1), erhält der Fachmann von Dokument (2) keine Information zur Verbesserung der Lagerungsstabilität, so daß diese Druckschrift nicht zum Lösungsvorschlag gemäß Streitpatent führen kann.

7.3. Laut der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/92 ist der Verkauf eines Produkts mit der Offenbarung von dessen Zusammensetzung gleichzusetzen.

Die bloße Kenntnis der verschiedenen Bestandteile der Zusammensetzung gemäß Dokumenten (4) bis (6), insbesondere der Anwesenheit von 3 Gew.-% Ethylenharnstoff im Handelsprodukt ACRONAL 251 D, kann jedoch für den Fachmann keine Anregung darstellen, diese Verbindung zur Lösung einer technischen Aufgabe einzusetzen, die dort nicht angesprochen wird.

7.4. Aus diesen Gründen können die von der Beschwerdeführerin herangezogenen Dokumente weder einzeln, noch in Kombination den Gegenstand des Anspruchs 1 nahelegen, der somit auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

8. Entsprechende Erwägungen gelten auch für die abhängigen Ansprüche 2 bis 5, die auf bevorzugte Dispersionen gemäß Anspruch 1 gerichtet sind, sowie für die Ansprüche 6 und 7, die ein Verfahren zur Herstellung von Dispersionen gemäß Anspruch 1 betreffen, und weiter für die Ansprüche 8 und 9, die sich auf Verwendungen der Dispersionen gemäß Anspruch 1 beziehen, womit alle diese Ansprüche von der Patentfähigkeit des Gegenstands des Hauptanspruchs getragen werden.

9. Das gleiche gilt für den Anspruchssatz für den Vertragsstaat AT, dessen Ansprüche 1 bis 5 den Ansprüchen 1 bis 5 des obigen Anspruchssatzes entsprechen, jedoch in Verfahrensansprüche umformuliert, und dessen Ansprüche 6 bis 8 mit den Ansprüchen 7 bis 9 des obigen Anspruchssatzes identisch sind.

10. Da dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin stattgegeben wird erübrigt es sich, die Hilfsanträge zu berücksichtigen.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent auf der Grundlage der am 22. Dezember 1993 eingereichten und am 14. Januar 1994 modifizierten Anspruchssätze und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.

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