T 0641/90 () of 25.11.1991

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1991:T064190.19911125
Datum der Entscheidung: 25 November 1991
Aktenzeichen: T 0641/90
Anmeldenummer: 82900301.1
IPC-Klasse: B60Q 9/00
B60T 8/00
Verfahrenssprache: DE
Verteilung:
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Verfahren zum Speichern von Fahrzustandsgrößen
Name des Anmelders: Robert Bosch GmbH
Name des Einsprechenden: Audi AG
Kammer: 3.2.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 113(1)
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 R 67
Schlagwörter: Inventive step (denied) - substantial procedural
violation (denied)
Erfinderische Tätigkeit (verneint)
Wesentlicher Verfahrensmangel (verneint)
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0135/85
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung Nr. 82 900 301.1, die am 9. Januar 1982 als internationale Anmeldung mit der Nummer PCT/DE 82/0007 angemeldet worden war, wurde das europäische Patent Nr. 0 078 807 erteilt. Der Hinweis auf die Erteilung wurde am 30. April 1986 bekanntgemacht.

II. Gegen das Patent hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) am 23. Januar 1987 Einspruch eingelegt und beantragt, das Patent zu widerrufen, da dessen Gegenstand im wesentlichen neuheitsschädlich vorweggenommen oder doch zumindest derart nahegelegt sei, daß von einer erfinderischen Tätigkeit nicht mehr gesprochen werden könne (Art. 100 a) EPÜ).

Zur Stützung ihres Vorbringens nannte sie u. a. folgende Dokumente zum Stand der Technik:

D1: VDI Nachrichten Nr. 16/78, Seiten 25 und 30, (veröffentlicht am 21/04/78),

D2: DE-A-2 914 411

D3: DE-A-2 818 388.

Nach Ablauf der Einspruchsfrist wurde noch auf folgende weitere Dokumente hingewiesen:

D6: DE-B-1 080 883

D7: CH-A-427 536.

III. Durch Entscheidung vom 15. Mai 1990, mit schriftlichen Gründen am 27. Juni 1990 zur Post gegeben, hat die Einspruchsabteilung das Patent in geänderter Fassung aufrechterhalten.

Anspruch 1 in dieser geänderten Fassung lautet wie folgt:

"Verfahren zum Speichern von Fahrzustandsgrößen für Fahrzeuge mit Gebern zur Erfassung von Fahrzustandsgrößen des auf einer Fahrbahn sich bewegenden Fahrzeuges und einer Auswerteschaltung, in der aus den Gebersignalen Steuersignale zur Beeinflussung des Bremsdruckes bei vorbestimmten Fahrzuständen gebildet werden (Antiblockiersystem), dadurch gekennzeichnet, daß zur Rekonstruktion des Fahrzeugverhaltens während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems (14) die Fahrbahn markiert wird (Markierer 25), wobei die Markierung impulsweise vorgenommen wird."

In ihrer Entscheidung hat die Einspruchsabteilung argumentiert, daß die übrigen zitierten Dokumente des Standes der Technik nicht diejenigen Merkmalen offenbarten, welche die Erfindung nach dem angegriffenen Patent von dem aus der Druckschrift D2 bekannten Verfahren zum Speichern von Fahrzustandsgrößen unterscheiden und auch sonst keine Anregungen zur Lösung des bestehenden Problems bieten.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin unter gleichzeitiger Zahlung der Beschwerdegebühr am 4. August 1990 Beschwerde eingereicht.

Die Beschwerdebegründung wurde am 19. Oktober 1990 eingereicht.

V. Die Beschwerdeführerin führte in der Beschwerdebegründung im wesentlichen folgendes aus:

Während des Einspruchsverfahrens sei von der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung eine zum vierten Male geänderte Fassung der Patentansprüche vorgelegt worden. Aufgrund der Schlußfolgerungen in der Entscheidung T 153/85 (ABl. EPA 1988, 1) hätte die Einspruchsabteilung diese vierte geänderte Anspruchsfassung nicht mehr zulassen dürfen. Werde eine solche Anspruchsfassung dennoch zugelassen, so wäre es insbesondere hinsichtlich des im vorliegenden Fall für die Beurteilung der Patentfähigkeit des Streitpatents relevanten, sehr umfangreichen Standes der Technik erforderlich gewesen, die Verhandlung zu vertagen oder, um der Einsprechenden ausreichende Gelegenheit zur Wahrnehmung ihres rechtlichen Gehörs (Art. 113 EPÜ) zu geben, von der Bestimmung nach Regel 58 (4) EPÜ Gebrauch zu machen. Nach den von der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 1/88, ABl. EPA 1989, 189 entwickelten Grundsätzen müsse der Einsprechende in einer nach den Umständen ausreichenden Weise Gelegenheit gehabt haben oder noch erhalten, zum Text einer beabsichtigten Neufassung des Patents Stellung zu nehmen. Diese Gelegenheit könne ihm im Rahmen einer Anwendung von Regel 58 (4) EPÜ gegeben werden (Ziffer 6 der Entscheidungsgründe), was im vorliegenden Fall unterlassen wurde.

Die von der Einspruchsabteilung praktizierte Vorgehensweise müsse als wesentlicher Verfahrensmangel angesehen werden.

In sachlicher Hinsicht beruhe das Verfahren nach dem geltenden Anspruch 1 im Hinblick auf den Stand der Technik, wie er in den Dokumenten D1 und D2 in Verbindung mit D6 oder D7 offenbart sei, nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die Verfahren nach dem Streitpatent und nach der gattungsbildenden D2 würden in Verbindung mit dem Vorhandensein eines Antiblockiersystems von der gleichen Problematik beherrscht, nämlich der Rekonstruktion des Fahrzeugverhaltens während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems.

Um bei einem Verkehrsunfall die Feststellung des Kraftfahrzeugs des schuldigen Fahrers zu erleichtern, zeige die D6 schon die Merkmale, die Fahrbahn durch einen Markierer zu markieren und diese Markierung impulsweise vorzunehmen.

Auch die D7 gebe den Hinweis, eine auf der Fahrbahn nach einiger Zeit noch sichtbare Spur zu markieren, wobei die Markiervorrichtung gemäß Seite 2, linke Spalte jeweils nur kurzzeitig eingeschaltet werde.

VI. Die Argumente der Beschwerdegegnerin lassen sich wie folgt zusammenfassen.

Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, daß in der mündlichen Verhandlung für sie kein überschaubarer Sachverhalt gegeben gewesen sei, könne nicht überzeugen, da der neue Anspruch 1 wörtlich dem ursprünglichen Anspruch 2 plus einem aus dem Anspruch 9 übernommenen Merkmal entspreche. Diese Änderung sei daher im Rahmen der erteilten Ansprüche erfolgt. Außerdem seien die nochmals vorgenommenen Änderungen im wesentlichen in Reaktion auf Kritik der Einspruchsabteilung vorgenommen worden.

Die Einspruchsabteilung habe in der Begründung ihrer Entscheidung auf den Seiten 9 bis 14 sehr ausführlich dargelegt, warum der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber dem Stand der Technik patentfähig sei. Die Beschwerdegegnerin schließe sich diesen Ausführungen an.

VII. Im Bescheid vom 22. August 1991 hat die Beschwerdekammer ihre vorläufige Ansicht dargelegt, daß die von der Beschwerdeführerin gerügte Entscheidung auf der Basis von in der mündlichen Verhandlung nochmals geänderten Ansprüchen im vorliegenden Fall keine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Artikel 113 EPÜ darstelle.

Was das Verfahren nach dem geltenden Anspruch 1 betreffe, sei die Kammer der Auffassung, daß es aufgrund der Offenbarungen der Druckschrift D2 und D6 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Im übrigen sei unklar, ob die kennzeichnenden Merkmale zum Speichern der Fahrzustandsgrößen dienen, denn nach der ursprünglich eingereichten Beschreibung dürfte die im Kennzeichen enthaltene Markierung lediglich eine zusätzliche Funktion darstellen.

VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte, die Zwischenentscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.

Ein mit der Beschwerde ausdrücklich gestellter Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wegen eines Verfahrensfehlers wurde nicht mehr aufrechterhalten, jedoch eine dahingehende Anordnung im Falle der Stattgabe der Beschwerde in das Ermessen der Kammer gestellt.

Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent in vollem Umfang der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung aufrechtzuerhalten.

Mit Schreiben vom 24. Oktober 1991 in Beantwortung des Bescheids der Kammer hat sie Entscheidung nach Lage der Akten beantragt.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und den Regeln 1 und 64 EPÜ; sie ist zulässig.

2. Änderungen

2.1. Der geltende Anspruch 1 findet seine Stütze im ursprünglichen bzw. erteilten Anspruch 2 unter Hinzufügung des Merkmals aus dem Anspruch 9, daß die Markierung impulsweise vorgenommen wird, während der geltende Anspruch 2 das restliche Merkmal des erteilten Anspruchs 9 enthält.

Die Ansprüche 3 bis 12 entsprechen inhaltlich den erteilten bzw. den ursprünglichen Ansprüchen 10 bis 19.

Die Ansprüche erfüllen somit die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ.

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt diese Änderungen insofern, als sie unter Verletzung des Grundsatzes des Rechtlichen Gehörs (Artikel 113 EPÜ) vorgenommen worden seien (siehe vorstehend Punkt V).

Aus den Feststellungen in Punkt 2.1 dieser Entscheidung folgt, daß bei der Einreichung der neuen Ansprüche in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung das Patent nur im Rahmen der erteilten Ansprüche eingeschränkt wurde, und zwar im wesentlichen auf eine der beiden unabhängigen Alternativen des erteilten Patentbegehrens. Daher vermögen die Argumente der Beschwerdeführerin, sie habe sich im Einspruchsverfahren nicht in ausreichender Weise zu den neuen Ansprüchen äußern können, nicht zu überzeugen, zumal sie hierzu auch in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit hatte.

Wenn ein Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents mit den erteilten Ansprüchen entgegensteht, ist die Einreichung geänderter Anspruchsfassungen nach ständiger Rechtsprechung der Kammern zulässig, sofern die Änderungen sachdienlich sind, d. h. wenn die Ansprüche so geändert werden, daß erhobene Einwände ausgeräumt werden. Im vorliegenden Fall waren gerade solche Einwände der Grund für die Einreichung von neuerdings geänderten Ansprüchen in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung.

Die von der Beschwerdeführerin herangezogene Entscheidung T 135/85 befaßt sich mit der Berücksichtigung von in einer mündlichen Verhandlung neu eingereichten Alternativansprüchen (siehe Punkt 2.1 dieser Entscheidung) und betrifft daher einen anderen Sachverhalt als der vorliegende Fall. Diese Entscheidung steht auch nicht in Widerspruch zu der vorgenannten Praxis, zielt jedoch darauf ab, Mißbrauch und unnötige Verzögerungen des Verfahrens vor dem EPA durch Einreichung völlig neuer Patentbegehren zu verhindern.

3. Neuheit

3.1. Die Neuheit des Verfahrens nach dem geltenden Anspruch 1 ist gegeben, da keines der ermittelten Dokumente des Standes der Technik bei einem Fahrzeug mit einem Antiblockiersystem zur Rekonstruktion des Fahrverhaltens während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems die Fahrbahn impulsweise markiert.

Da die Neuheit des nunmehr beanspruchten Verfahrens auch von der Beschwerdeführerin nicht angegriffen wurde, erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu.

4. Erfinderische Tätigkeit

4.1. Ausgehend von dem nächstkommenden Stand der Technik gemäß der Druckschrift D2, die ein Verfahren nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 offenbart, soll in Übereinstimmung mit der im Patent angesprochenen Aufgabe die Rekonstruktion eines Unfallhergangs bei mit einem Antiblockiersystem ausgerüsteten Fahrzeugen ermöglicht werden. Eine solche Rekonstruktion ist bei Fahrzeugen mit Antiblockiersystem wegen des Fehlens von Bremsspuren normalerweise sehr schwierig.

4.2. Gemäß den kennzeichnenden Merkmalen des Anspruchs 1 wird vorgeschlagen, zur Rekonstruktion des Fahrzeugverhaltens während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems die Fahrbahn impulsweise zu markieren.

4.3. In ihrem Zwischenbescheid hat die Kammer die Klarheit des Anspruchs hinsichtlich der Bedeutung der im kennzeichnenden Teil beanspruchten impulsweisen Markierung in bezug auf das beanspruchte Verfahren zum Speichern von Fahrzustandsgrößen bemängelt, insbesondere deshalb weil nach der ursprünglich eingereichten Beschreibung die Markierung eher eine zusätzliche Funktion darstellt.

Da hierzu keine sachlichen Äußerungen der Beschwerdegegnerin eingegangen sind, hat die Kammer keinen Grund ihre vorläufige geäußerte Auffassung, daß der Anspruch 1 dem Erfordernis der Klarheit nach Artikel 84 EPÜ nicht entspricht, zu ändern, weshalb der geltende Anspruch schon aus diesem Grund nicht gewährbar ist.

4.4. Diese kennzeichnenden Merkmale bewirken, daß aus der Lage der einzelnen Markierungen auf der Fahrbahn Rückschlüsse auf den Fahrzustand, insbesondere die Fahrtrichtung des Fahrzeuges während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems gezogen werden können.

Die Ermittlung der Fahrgeschwindigkeit ist dagegen erst bei dem Verfahren nach Anspruch 2 möglich und muß daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Verfahrens nach Anspruch 1 außer Betracht bleiben.

4.5. Die D2 befaßt sich schon mit dem Problem, daß ein mit einem Antiblockiersystem ausgerüstetes Fahrzeug keine auswertbaren Bremsspuren auf der Fahrbahn hinterläßt (siehe Seite 4, Zeilen 4 bis 6 von unten).

In der D2 wird als Lösung dieses Problems vorgeschlagen, bestimmte Fahrzeugdaten in einer im Fahrzeug vorhandenen Speichervorrichtung festzuhalten.

4.6. Bei der Suche nach einer einfacheren Lösung der gestellten Aufgabe wird der Fachmann nach Auffassung der Kammer unmittelbar auf die D6 stoßen, denn dieser Stand der Technik befaßt sich ebenfalls mit dem Problem der fehlenden oder schwachen Bremsspuren bei der Rekonstruktion eines Unfallhergangs.

Als Lösung wird in D6 ein Spurzeichner vorgeschlagen, der bei Auftreten einer Unfallgefahr einen flüssigen Farbstoff als Markierung auf die Fahrbahn spritzt. Darüber hinaus wird bei der Kommentierung des Standes der Technik darauf hingewiesen, daß ein von mit Unterbrechungen erfolgendes, also impulsweises Austreten zweckmäßig ist.

Aufgrund dieser Offenbarung ist die Kammer der Auffassung, daß keine erfinderische Tätigkeit notwendig war, das aus D2 bekannte Datenaufzeichnungsverfahren durch einen Spuraufzeichner gemäß D6 zu ersetzen bzw. zu vervollständigen, so daß während des Wirksamwerdens des Antiblockiersystems die Fahrbahn impulsweise markiert wird, damit als Ersatz für die fehlenden Bremsspuren impulsweise eine Spur aufgezeichnet wird. Die Beschwerdegegnerin hat zu dieser bereits im Zwischenbescheids geäußerten Auffassung der Kammer sachlich nicht Stellung genommen.

4.7. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht daher nicht auf erfinderischer Tätigkeit und ist auch daher nicht bestandsfähig.

5. Frage der Rückzahlung der Beschwerdegebühr

Aus der Feststellungen in Punkt 2.2 oben ist die Kammer der Auffassung, daß im vorliegenden Fall eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Artikel 113 EPÜ nicht gegeben ist. Ein anderer Verfahrensfehler ist weder behauptet worden noch ersichtlich. Somit fehlen die Voraussetzungen für eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr, die im übrigen von der Beschwerdeführerin nicht mehr beantragt, sondern lediglich in das Ermessen der Kammer gestellt wurde (Regel 67 EPÜ).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.

2. Das Patent wird widerrufen.

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