T 0446/89 () of 30.10.1990

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1990:T044689.19901030
Datum der Entscheidung: 30 October 1990
Aktenzeichen: T 0446/89
Anmeldenummer: 84100159.7
IPC-Klasse: A61N 1/05
Verfahrenssprache: DE
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Indifferente Elektrode für ein Herzschrittmachersystem
Name des Anmelders: Siemens AG
Name des Einsprechenden: Biotronik
Kammer: 3.4.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 56
European Patent Convention 1973 Art 114(2)
Schlagwörter: Inventive step yes - late filed documents
Erfinderische Tätigkeit ja - verspätetes Vorbringen
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0122/84
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Die Beschwerdegegnerin ist Inhaberin des europäischen Patents 0 117 972 (Anmeldenummer: 84 100 159.7).

Anspruch 1 dieses Patents lautet:

"1. Herzschrittmachersystem mit mindestens einer aktiven und einer indifferenten Elektrode, wobei diese durch die Oberfläche des Herzschrittmachergehäuses gebildet ist, dadurch gekennzeichnet, daß ein Teil (11) dieser Oberfläche (10) eine Oberflächenschicht aufweist, die an der Phasengrenze zur Körperflüssigkeit eine hohe Doppelschichtkapazität besitzt."

Ansprüche 2 bis 8 sind auf Anspruch 1 rückbezogen.

II. Die Beschwerdeführerin hat unter Nennung der Dokumente:

D1: US-A-3 788 329 D2: W. Irnich: "Elektrotherapie des Herzens", Fachverlag Schiele & Schöne, Berlin, 1976, Seite 82 D3: DE-C-2 613 072 und D4: EP-B-0 054 781 im Hinblick auf Artikel 100 a) EPÜ Einspruch erhoben.

III. Die Einspruchsabteilung hat den Einspruch zurückgewiesen. Sie stellte dabei fest, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 neu und erfinderisch sei, insbesondere da die Dokumente D1 bis D4 nur Probleme behandeln würden, die an aktiven Elektroden auftreten. Daher könne diesen Dokumenten kein Hinweis entnommen werden, daß es überhaupt sinnvoll sei, eine indifferente Elektrode so aufzubauen, daß sie eine hohe Doppelschichtkapazität aufweist. Vor allem aber gebe der nachgewiesene Stand der Technik keinerlei Anregung, eine von einem isolierenden Überzug freigelassene metallische Teiloberfläche eines bekannten Herzschrittmachergehäuses mit einer Oberflächenschicht zu versehen, die eine hohe Doppelschichtkapazität besitzt, und den isolierenden Überzug dieses bekannten Gehäuses wegzulassen.

IV. Gegen diese Entscheidung hat die Beschwerdeführerin (Einsprechende) Beschwerde erhoben und in ihrer Beschwerdebegründung zur Stützung ihrer Argumentation ausschließlich auf folgende neu genannte Dokumente zurückgegriffen:

D5: US-A-3 835 864 D6: US-A-4 280 514 und D7: US-A-3 981 309.

V. Es wurde mündlich verhandelt.

VI. Am Ende der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des europäischen Patents 0 0117 972. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.

VII. Zur Begründung ihres Antrags trägt die Beschwerdeführerin im wesentlichen folgende Argumente vor:

a) Die in Fig. 9 des Dokuments D6 dargestellte, von der Spitzenelektrode beabstandete zylindrische Elektrode mit poröser Oberfläche sei indifferent, da aus ihrer in Spalte 1, Zeilen 53 bis 57, in Verbindung mit Fig. 1 angegebenen "endocardialen" Verwendung auf eine bipolare Elektrodenstruktur der Fig. 9 zu schließen sei. Überdies gehe aus der Spalte 4, Zeile 30, entnehmbaren Stimulierung "mit fester Rate" hervor, daß mit Hilfe der Elektroden keinerlei Potentialmessungen vorgenommen werden. Es sei allgemeines Fachwissen, daß poröse Elektrodenoberflächen eine hohe Doppelschichtkapazität aufwiesen. Daher sei es für den Fachmann naheliegend, eine Oberflächenschicht mit hoher Doppelschichtkapazität auf einem als indifferente Elektrode benutzten Herzschrittmachergehäuse vorzusehen.

b) Ferner werde das Aufbringen einer Schicht mit hoher Doppelschichtkapazität auf einer indifferenten Elektrode durch die aus Dokument D3 bekannte Elektrode mit einer mikroporösen Oberfläche ihres Elektrodenkopfes nahegelegt; denn in der Beschreibungseinleitung des Dokuments D3 sei angegeben, daß diese Elektrode nur "insbesondere" eine Reizelektrode sei, woraus implizit ihre Verwendung als indifferente Elektrode hervorginge.

c) Auch die in Abb. 4.2 des Dokuments D2 dargestellte Doppelschichtkapazität einer indifferenten Elektrode lege den Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents nahe.

VIII. Die Beschwerdegegnerin vertritt demgegenüber im wesentlichen folgende Auffassung:

a) Dokument D6 erwähne in Spalte 4, Zeilen 40 bis 45, explizit beim praktischen Einsatz der Elektrode mit poröser Oberfläche die Verwendung einer gesonderten Standardhautnadel im subkutanen Gewebe als Erdungselektrode, d. h. als indifferente Elektrode. Ferner sei im Dokument D6, Spalte 3, Zeilen 60 bis 65, angegeben, daß bei der Anordnung gemäß Fig. 9 die zylindrische Elektrode "in Kombination" mit der Spitzenelektrode verwendet werde. Diese Textstellen würden eindeutig zeigen, daß die beiden voneinander beabstandeten porösen Oberflächenbereiche 14 der Fig. 9 des Dokuments D6 als aktive Elektroden dienten, so daß die Auffassung der Beschwerdeführerin in Pkt. VII-a nicht zwingend sei.

b) Die in der Beschreibungseinleitung des Dokuemnts D3 gewählte Formulierung, "insbesondere Reizelektrode" berücksichtige die am Ende der Beschreibung dieses Dokuments angegebene Verwendung der Elektrode mit porösem Elektrodenkopf "zur Sauerstoffmessung". Ihre Verwendung als indifferente Elektrode finde in Dokument D3 keine sachliche Stütze.

c) Dokument D2 erwähne die an einer indifferenten Elektrode auftretende Kapazität im Rahmen theoretischer Betrachtungen, die zu einem Ersatzschaltbild für die Elektroden-Herzimpedanz führten, ohne auf die bauliche Ausgestaltung dieser Elektroden einzugehen.

d) Insbesondere die vorstehenden Argumente zeigten, daß in allen im Verfahren genannten Dokumenten nur die an aktiven Elektroden auftretenden Probleme behandelt worden seien. Demgegenüber würde sich der Gegenstand des Streitpatents erstmals mit den an indifferenten Elektroden auftretenden Problemen befassen. Auf die Problematik der Ausschaltung störender Biopotentiale bei Verwendung des Herzschrittmachergehäuses als indifferente Elektrode weise erstmals das Streitpatent hin.

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Die vorliegenden Unterlagen des Patents in der erteilten Fassung sind im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ nicht zu beanstanden. Insbesondere ist der Inhalt der erteilten Ansprüche 1 bis 8 durch die ursprünglich eingereichten Ansprüche 1 bis 8 offenbart.

3. Die erstmals in der Beschwerdebegründung von der Beschwerdeführerin entgegengehaltenen Dokumente D5, D6 und D7 werden nicht von Amts wegen in das Verfahren eingeführt. Eine Überprüfung hat ergeben, daß deren Berücksichtigung zu keiner anderen Entscheidung führen würde. Auf dieses verspätete Vorbringen braucht deshalb in den folgenden Entscheidungsgründen nicht näher eingegangen zu werden; vgl. T 122/84, ABl. EPA 1987, 177, insbesondere Nr. 13.

4. Neuheit

4.1. Aus dem innerhalb der Einspruchsfrist nachgewiesenen Stand der Technik ist kein Herzschrittmachersystem bekannt, bei dem ein Teil der Oberfläche des Herzschrittmachergehäuses eine Oberflächenschicht mit hoher Doppelschichtkapazität an der Phasengrenze zur Körperflüssigkeit aufweist.

4.2. Die Dokumente D1, D3 und D4 beschränken sich ausschließlich auf die Beschreibung von - an einen Herzschrittmacher anschließbaren - Elektroden ohne den Aufbau des Herzschrittmachers und die Ausgestaltung seines Gehäuses zu erwähnen.

Dokument D2 erläutert die Übergangsimpedanzen metallischer Elektroden zum Körpergewebe bei bipolarer Reizung anhand eines Ersatzschaltbildes ohne Angabe des konstruktiven Aufbaus der Elektroden oder des Reizpulsgenerators.

4.3. Die über den vorstehend genannten Stand der Technik hinausgehenden Dokumente des Europäischen Recherchenberichts beschreiben Herzschrittmachergehäuse, bei denen entweder die gesamte Oberfläche des Gehäuses mit Kunststoff ummantelt ist, wobei als indifferente Elektrode eine gesonderte Erdungsplatte vorgesehen ist (DE-A-2 638 563) oder die aus einem Titangehäuse bestehen, das durch einen Kunststoffkopf mit Elektrodenanschlüssen abgeschlossen ist (DE-A-2 706 636). Eine Rauhigkeit oder Porosität der Titanoberfläche ist dem letztgenannten Dokument nicht zu entnehmen, so daß der Fachmann der Titangrenzfläche nur die normale metallische Doppelschichtkapazität von 50 µF cm-2 zuschreibt (vgl. gutachtlich Dokument D2, Seite 82, Zeile 14), während aufgrund der gemäß Artikel 69 EPÜ vorzunehmenden Interpretation der beanspruchten "hohen Doppelschichtkapazität" anhand der Beschreibung des Streitpatents, Spalte 1, Zeile 31 Kapazitäten in der Größenordnung von 0,1 F cm-2 zu verstehen sind.

4.4. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents ist somit neu im Sinne von Artikel 54 EPÜ.

5. Erfinderische Tätigkeit

5.1. Die Zielsetzung des Streitpatents geht von einem in der Beschreibungseinleitung gewürdigten, durch kein Dokument belegten Stand der Technik aus, bei dem die Oberfläche des Schrittmachergehäuses bis auf ein Loch für den Stromdurchgang mit einer isolierenden Hülle abgedeckt ist. Dieses Loch befindet sich auf der Gehäuseseite, die von dem das Herz umgebenden reizbaren Gewebe abgewandt ist. Auf diese Weise läßt sich die störende Überlagerung der zu messenden Potentiale der Herzaktivität durch Potentiale, die aus den Muskelzuckungen des reizbaren Gewebes stammen, sowie durch Myopotentiale der Skelettmuskulatur in der Nähe des Schrittmachers herabsetzen. Dabei setzt allerdings die erzielte Richtungscharakteristik des Übergangswiderstandes durch partielle Gehäuseisolierung die Detektionsempfindlichkeit für die Herzsignale herab.

Ausgehend von diesem internen Stand der Technik liegt dem Streitpatent die Aufgabe zugrunde, unter Beibehaltung der vorstehend genannten Richtungscharakteristik die Dektektionsempfindlichkeit für Herzsignale zu verbessern, vgl. das Streitpatent, Spalte 1, Zeile 52, bis Spalte 2, Zeile 38, insbesondere Spalte 2, Zeilen 32 bis 38.

5.2. Diese Aufgabe wird durch die im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 definierten Merkmale gelöst. Ein dem oben genannten Loch entsprechender Teil der Oberfläche des Herzschrittmachergehäuses ist mit einer Oberflächenschicht versehen, die gegenüber der - im Hinblick auf Art. 69 EPÜ als metallisch zu interpretierenden - restlichen Gehäuseoberfläche eine hohe Doppelschichtkapazität besitzt, d. h. für die hochfrequenten Komponenten der zu messenden Herzsignale einen geringeren Übergangswiderstand aufweist als die restliche Gehäuseoberfläche. Dadurch ist mit Hilfe örtlicher Unterschiede der Größe des Übergangswiderstandes zum Gehäuseinneren die Richtungscharakteristik dieses Übergangswiderstandes beibehaltbar und gleichzeitig sein absoluter Wert an allen Punkten der Gehäuseoberfläche herabsetzbar.

Dem im vorliegenden Verfahren genannten Stand der Technik ist - wie nachfolgend gezeigt wird - keinerlei Hinweis zu entnehmen, eine Oberflächenschicht mit hoher Doppelschichtkapazität auf einem als indifferente Elektrode verwendeten Herzschrittmachergehäuse vorzusehen oder gar die Kapazitätserhöhung auf einen Teilbereich der Gehäuseoberfläche zu beschränken.

5.3. Zwar ist ein Fachmann ohne weiteres in der Lage zu erkennen, daß die aus porösem Glaskohlenstoff bestehende, aufgerauhte Oberfläche des Elektrodenkopfes der aus Dokument D3 bekannten Elektrode eine hohe Doppelschichtkapazität aufweist. Jedoch folgt die Kammer der Auffassung der Beschwerdegegnerin (siehe Pkt. VIII-b), daß eine Verwendung dieser bekannten Elektrode als indifferente Elektrode aus Dokument D3 nicht herleitbar ist; vgl. auch Pkt. VII-b). Selbst wenn es an sich bekannt wäre, die Oberfläche einer indifferenten Elektrode mit einer Oberflächenschicht hoher Doppelschichtkapazität zu versehen, ist es nach Auffassung der Kammer für einen Fachmann keinesfalls als naheliegend anzusehen, nur einen Teil der Oberfläche einer indifferenten Elektrode mit einer derartigen hohen Doppelschichtkapazität auszustatten, um die Meßempfindlichkeit für Herzsignale zu erhöhen und gleichzeitig die Gefahr der Vortäuschung von Herzsignalen durch außerhalb des Herzens entstehende Potentiale herabzusetzen. Überdies gibt Dokument D3 dem Fachmann nicht einmal eine Anregung, daß es vorteilhaft sei, Oberflächen mit hoher Doppelschichtkapazität bei Sensorelektroden einzusetzen, sondern beschränkt sich auf den Hinweis auf die Vorteile einer porösen, aufgerauhten Elektrodenoberfläche bei der mechanischen Verankerung der Elektrode im Körpergewebe und bei der Energieeinsparung während des Reizvorgangs.

5.4. Die in Dokument D2 beschriebenen Schaltungsstrukturen geben keinerlei Anregung für die technische Realisierung von Elektroden. Aus der in Dokument D2 zum Ausdruck kommenden Erkenntnis, daß sich auch an der metallischen Oberfläche einer indifferenten Elektrode im Körpergewebe zwangsläufig eine Doppelschichtkapazität ausbildet, vermag ein Fachmann keine Anregung zu entnehmen, nach technischen Mitteln zu suchen, um die Doppelschichtkapazität einer indifferenten Elektrode gezielt über den sich automatisch einstellenden Wert zu erhöhen; vgl. oben Pkt. VII-c.

5.5. Auch Dokument D4 vermag der Fachmann nur Vorteile einer porösen Elektrode beim Reizvorgang, d. h. bei einer aktiven Elektrode, zu entnehmen. Dokument D1 beschreibt ein Elektrodensystem mit einer indifferenten Elektrode aus einem drahtförmigen metallischen Leiter, der spiralförmig auf die Außenfläche der Isolierung der Zuführungsleitung für die aktive Elektrodenspitze gewickelt ist. Keinem dieser Dokumente kann deshalb der Fachmann eine Anregung zur Lösung des in Punkt 5.1 definierten Problems entnehmen.

5.6. Aus den vorstehend genannten Gründen beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Artikel 56 EPÜ.

6. Somit ist der Gegenstand des Anspruchs 1 und sind die Gegenstände der von ihm abhängigen Ansprüche 2 bis 8 patentfähig (Art. 52 EPÜ).

7. Es ist auch nicht ersichtlich, daß etwa ein anderer der in Artikel 100 EPÜ aufgeführten Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in unveränderter Form entgegen stünde.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

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