T 0135/88 () of 16.1.1990

European Case Law Identifier: ECLI:EP:BA:1990:T013588.19900116
Datum der Entscheidung: 16 Januar 1990
Aktenzeichen: T 0135/88
Anmeldenummer: 82106664.4
IPC-Klasse: C07C 143/78
Verfahrenssprache: DE
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Bibliografische Daten verfügbar in: DE
Fassungen: Unpublished
Bezeichnung der Anmeldung: Neue N,N-disubstituierte Sulfonamidgruppen aufweisende aromatische Diisocyanate, Verfahren zu ihrer Herst. sowie ihre Verwendung als Aufbaukomponente bei der
Name des Anmelders: Bayer AG
Name des Einsprechenden: Enka AG
Kammer: 3.3.01
Leitsatz: -
Relevante Rechtsnormen:
European Patent Convention 1973 Art 54
European Patent Convention 1973 Art 56
Schlagwörter: novelty - disputed for the first time at appeal procee
inventive step - structural modification
person skilled in the art
Neuheit (ja)
erfinderische Tätigkeit (nein)
Offensichtlichk. einer strukturellen Abwandlung
Neuheit zum ersten Mal geltend gemacht im Beschw.verf.
Orientierungssatz:

-

Angeführte Entscheidungen:
T 0181/82
T 0296/87
Anführungen in anderen Entscheidungen:
-

Sachverhalt und Anträge

I. Auf die europäische Patentanmeldung 82 106 664.4, die am 23. Juli 1982 mit deutscher Priorität vom 04. August 1981 angemeldet worden war, wurde am 25. September 1985 das europäische Patent 71 839 auf der Grundlage von sechs Ansprüchen erteilt. Anspruch 1 lautet wie folgt:

"1. Diisocyanate der allgemeinen Formel in der R1 und R2 für gleiche oder verschiedene Reste stehen und Alkylreste mit 1 bis 18 Kohlenstoffatomen, Arylreste mit 6 bis 10 Kohlenstoffatomen, Cycloalkylreste mit 3 bis 7 Kohlenstoffatomen, Aralkylreste mit 7 bis 15 Kohlenstoffatomen oder Alkarylreste mit 7 bis 15 Kohlenstoffatomen bedeuten, oder zusammen mit dem Stickstoffatom einen gegebenenfalls weitere Heteroatome enthaltenden heterocyclischen Ring mit 3 bis 10 Ringgliedern bilden, R3, R4 und R5 für gleiche oder verschiedene Reste stehen und Wasserstoff, Alkylreste mit 1 bis 6 Kohlenstoffatomen, Arylreste mit 6 bis 10 Kohlenstoffatomen, Cycloalkylreste mit 3 bis 7 Kohlenstoffatomen, Aralkylreste mit 7 bis 15 Kohlenstoffatomen, Alkarylreste mit 7 bis 15 Kohlenstoffatomen oder Halogenatome bedeuten, R6 für eine Isocyanatgruppe oder einen Rest der Formel steht, wobei R7 für Wasserstoff oder einen Rest der Formel -SO2NR1R2 steht und X für eine Methylen- oder eine Dimethylmethylen-Gruppe steht."

II. Gegen die Patenterteilung legte die jetzige Beschwerdeführerin am 13. Juni 1986 wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit Einspruch ein. Sie stützte sich dabei auf eine Reihe vorveröffentlichter Dokumente, von denen im Beschwerdeverfahren auf die folgenden Bezug genommen wurde:

(1) DE-A-2 637 114 (2) EP-A-0 029 161 (4) FR-A-1 465 165.

III. In der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 1987 stellte die Einspruchsabteilung fest, daß Dokument (2) den nächsten Stand der Technik darstelle. Dieser Ansicht haben die Parteien ausweislich des unwidersprochen gebliebenen Protokolls der mündlichen Verhandlung zugestimmt (vgl. Punkt 4, Absatz 1 des Protokolls). Die Einspruchsabteilung forderte daraufhin von der jetzigen Beschwerdegegnerin Vergleichsversuche gegenüber (2). Am 19. November 1987 hat die jetzige Beschwerdegegnerin Vergleichsversuche eingereicht.

IV. Mit einer am 02. Februar 1988 zur Post gegebenen Entscheidung wies die Einspruchsabteilung den Einspruch zurück und führte dazu im wesentlichen aus, daß die Verbindungen des Anspruchs 1 im Stand der Technik, insbesondere in (4), nicht genannt seien; sie beruhen auch auf erfinderischer Tätigkeit, da die eingereichten Vergleichsbeispiele vorteilhafte Eigenschaften für die aus den Verbindungen des Anspruchs 1 erhältlichen Polyurethanelastomere zeigen.

V. Gegen diese Entscheidung hat die unterlegene Einsprechende (Beschwerdeführerin) am 30. März 1988 unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde erhoben. Eine Begründung wurde am 7. Juni 1988 eingereicht. Darin wurde im wesentlichen geltend gemacht, daß alle in der Beschreibung genannten vorteilhaften Eigenschaften der aus den Verbindungen des Streitpatents erhältlichen Polyurethane für den Fachmann vorhersehbar gewesen seien. Dies gelte auch für die Verbesserung der mechanischen Eigenschaften, auf die sich die genannten Vergleichsbeispiele beziehen. Auch sei der Nachweis einer Verbesserung für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit allein nicht ausreichend; vielmehr wäre zu zeigen gewesen, daß die geltend gemachten (und nachgewiesenen) Effekte überraschend seien. Diesbezügliche Überlegungen der Einspruchsabteilung seien der angegriffenen Entscheidung aber nicht zu entnehmen.

VI. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hob in ihrer Erwiderung demgegenüber hervor, daß es bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit neuer Stoffe nicht nur darauf ankomme, ob deren vorteilhafte Eigenschaften theoretisch erklärbar, sondern auch ob dem Stand der Technik konkrete Hinweise bezüglich ihrer Herstellung zu entnehmen gewesen seien. In (2) seien lediglich die zur Herstellung hochwertiger Polyurethane kaum geeigneten chlorsulfonylsubstituierten Diisocyanate konkret beschrieben, ein Hinweis auf die (dialkyl)sulfonamidsubstituierten Diisocyanate des Streitpatents finde sich dort aber nicht. Für das Streitpatent sei daher erfinderische Tätigkeit anzuerkennen.

VII. In der mündlichen Verhandlung am 16. Januar 1990 führte die Beschwerdeführerin aus, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 im Hinblick auf (4) nicht einmal neu sei. Unstreitig seien dort aromatische Isocyanate genannt, die durch N-Alkylsulfonamidogruppen substituiert seien. Dabei könne es sich nicht um N-Monoalkylaminosulfongruppen handeln, da solche, wie dem Fachmann bekannt gewesen sei, bei der Herstellung der beschriebenen Isocyanate aus den entsprechenden Aminen durch Umsetzung mit Phosgen Nebenreaktionen eingehen können. Der Fachmann entnehme (4) daher unmittelbar die aromatischen N,N- dialkylsulfonamidsubstituierten Diisocyanate des Anspruchs 1 des Streitpatents.

Selbst wenn man von einer anderen Auslegung von (4) ausgehe und den Streitpatentgegenstand als neu ansehe, müsse man bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht von (2), sondern von (4) oder allenfalls von (1), d. h. den dort beschriebenen durch Sulfonestergruppen substituierten Diisocyanaten als dem nächsten Stand der Technik ausgehen, falls man das zu lösende technische Problem in der Angabe von Ausgangsstoffen für Elastomere mit den im Streitpatent genannten interessanten Eigenschaften sehe. Da der Fachmann einerseits wisse, daß bei Elastomeren eine Quervernetzung zu vermeiden und andererseits, daß für die sulfonestersubstituierten aromatischen Diisocyanate nach (1) eine z. T. starke alkylierende Wirkung der Sulfonestergruppe beschrieben sei, habe es für ihn nahegelegen, anstelle der Sulfonestergruppe weniger reaktive Gruppen einzuführen. Es sei dann für ihn auf der Hand gelegen, als Lösung N,N'- Dialkylaminosulfongruppen anstatt der Sulfonestergruppen vorzuschlagen.

VIII. Die Beschwerdegegnerin bestritt die Neuheitsschädlichkeit von (4): Bei den dort genannten N-Alkylsulfonamiden müsse es sich schon nach dem Sprachgebrauch um N- Monoalkylsulfonamide handeln; es sei üblich, in diesem Fall die Zahlenangabe "mono" wegzulassen.

Der Gegenstand des Streitpatents sei auch erfinderisch, da gegenüber den aus sulfonylchloridsubstituierten Diisocyanaten nach (2) hergestellten Polyurethanen erheblich bessere Eigenschaften für die aus den patentgemäßen Diisocyanaten erhältlichen Polyurethane nachgewiesen worden seien.

Außerdem seien die Verbindungen nach Anspruch 1 sowohl zur Herstellung von Duromeren, als auch zur Herstellung der im Streitpatent nur beispielhaft genannten Elastomeren geeignet, wogegen aus den Verbindungen nach (2) Elastomere nicht erhältlich seien.

IX. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu widerrufen. widerrufen. Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

X. Am Schluß der mündlichen Verhandlung verkündet der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent zu

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 sowie Regel 64 EPÜ; sie ist daher zulässig.

2. Neuheit In (4) werden auf Seite 1, linke Spalte, Verbindungen der Formel (R1)y-Ar-(N=C=O)x - berichtigte Formel; vgl. Seite 2, linke Spalte - genannt, in denen R1 u. a. auch eine "N- Alkylsulfonamidogruppe" sein kann. Die Werte für x und y können jeweils 1, 2 oder 3 sein. Ar bedeutet beispielsweise Phenyl, Naphthyl und Anthrazenyl, die jeweils substituiert sein können. Konkrete Beispiele für solche N-alkylsulfonamidsubstituierte Arylisocyanate werden in (4) nicht angegeben.

Die vorstehend genannte Formel nach (4) umfaßt daher eine Vielzahl von Verbindungen, insbesondere nicht nur Diisocyanate, sondern auch Mono- und Triisocyanate. Allein schon aus diesem Grunde ist (4) für die Verbindungen des Streitpatents, bei denen es sich ausschließlich um Diisocyanate handelt, nicht neuheitsschädlich, ohne daß es erforderlich wäre, auf andere Unterschiede oder darauf einzugehen, wie der Fachmann den Begriff "N- Alkylsulfonamido" hier verstanden hätte. Entgegen der vonder Beschwerdeführerin vertretenen Auffasssung ist daher der Gegenstand des Anspruchs 1 gegenüber (4) neu.

Die Kammer hat sich davon überzeugt, daß der Gegenstand des Streitpatents auch nicht durch die anderen ihr vorliegenden Dokumente vorweggenommen wird. Da die Beschwerdeführerin nichts Gegenteiliges geltend gemacht hat, sind dazu keine näheren Ausführungen zu machen.

3. Erfinderische Tätigkeit

3.1. Die Vorinstanz hat in Übereinstimmung mit den Beteiligten Dokument (2) als nächsten Stand der Technik angesehen. Auch die Kammer ist zu dem Ergebnis gekommen, daß (2) als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden kann. Sie erachtet dieses Dokument als besser geeignet, verglichen mit (1) und (4); denn weder (1) noch (4) nennen explizit oder implizit Verbindungen, die als konkreter Stand der Technik anzusehen wären und als Vergleichsbasis bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit eindeutig eher in Frage kämen (vgl. T 181/82; ABl. EPA 1984, 401).

Dies gilt auch für die in (1) explizit genannten Diisocyanate (vgl. (1), Beispiele 5 und 6 auf Seiten 19 und 20), bezüglich derer die Beschwerdeführerin nicht zur Überzeugung der Kammer dargetan hat, daß sie entscheidend weniger reaktiv seien als die Sulfonylchloride nach (2). Daher sieht die Kammer keine Notwendigkeit, von (2) als einmal gewähltem Ausgangspunkt für die Ermittlung erfinderischer Tätigkeit abzugehen.

3.2. Als dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe kann es daher angesehen werden, weitere als Ausgangsstoffe für die Herstellung von Polyurethanen geeignete Diisocyanate anzugeben, die unter Beibehaltung der erwünschten Eigenschaften SO2Cl-substituierter Diisocyanate (aktivierte NCO-Gruppen; verbessertes Brandverhalten der entsprechenden Polyurethane) zur Herstellung auch von Elastomeren brauchbar sind.

3.3. Zur Lösung dieser Aufgabe stellt das Streitpatent die in Anspruch 1 definierten Diisocyanate bereit. Daß diese die genannte Aufgabe auch tatsächlich lösen, erscheint aufgrund der am 19. November 1987 vorgelegten Vergleichsergebnisse glaubhaft und wird im übrigen von der Beschwerdeführerin nicht bestritten.

3.4. Zu untersuchen bleibt, ob die Bereitstellung der beanspruchten Diisocyanate angesichts der bestehenden Aufgabe auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.

3.4.1. Als Fachmann, der mit der Lösung vorstehend genannter Aufgabe befaßt wurde, ist nach Meinung der Kammer realistischerweise ein präparativ tätiger Chemiker anzusehen, der über die im Zuge eines Hochschulstudiums vermittelten Kenntnisse der organischen Chemie verfügt und auch Erfahrung auf dem Gebiet der Herstellung von Polyurethanen hat.

3.4.2. Wollte dieser Fachmann die bestehende Aufgabe (siehe oben unter 3.2) lösen, so lag es für ihn nahe, die hochreaktive Chlorsulfonylgruppe der Produkte nach (2) gegen eine weniger reaktive oder - unter den Bedingungen der Polyaddition - inerte sulfonylhaltige Gruppe auszutauschen: Der Fachmann mußte nämlich, wie auch von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten wird, erwarten, daß die Sprödigkeit der Polyurethane nach (2) auf die große Reaktivität der Chlorsulfonylgruppe zurückzuführen sei.

Für den Ersatz der Chlorsulfonylgruppe durch inertere sulfonylhaltige Gruppen mußten sich dem Fachmann aber N,N-Dialkylsulfonamidgruppen geradezu aufdrängen. Ihm ist nämlich aufgrund seines allgemeinen Fachwissens unstreitig bekannt, daß N,N-Dialkylsulfonamide zu den reaktionsträgsten Sulfonsäurederivaten zählen, und auch die Beschwerdegegnerin war auf Befragen während der mündlichen Verhandlung nicht in der Lage, eine ernsthafte Alternative hierzu zu nennen. Lag der Austausch der Chlorsulfonyl- gegen eine N,N-Dialkylsulfonamidgruppe aber, wie gezeigt, auf der Hand und waren die entsprechenden Verbindungen - wie u. a. den Ausführungen von Spalten 3 bis 5 der Streitpatentschrift zu entnehmen - für den Fachmann auch ohne weiteres herstellbar, so kann auch ein vorteilhafter - aber nicht unerwarteter - Effekt, der sich aus einem solchen Austausch ergibt, diesen nicht erfinderisch machen (vgl. z. B. T 296/87, Nr. 8.4.1; zur Veröffentlichung im Amtsblatt vorgesehen).

3.4.3. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Lösungsvorschlag des Anspruchs 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht.

Auch der Einwand der Beschwerdegegnerin, wonach sich aus den beanspruchten Diisocyanaten eben nicht nur Elastomere, sondern auch Duromere herstellen lassen, kann an diesem Ergebnis nichts ändern. Nach allgemeinem Fachwissen (vgl. z. B. H. Saechtling, Kunststoff-Taschenbuch, 20. Ausgabe, Carl Hauser Verlag, 1977, Seiten 391 - 395) kommt es nämlich bei der in der Polyurethanchemie gegebenen Möglichkeit, die mechanischen Eigenschaften des Polyadditionsprodukts eines gegebenen Diisocyanats wunschgemäß einstellen zu können, vor allem auf die Wahl des mit dem Diisocyanat umzusetzenden weiteren Reaktionspartners und nicht so sehr auf dieses selbst an.

ENTSCHEIDUNGSFORMEL

Aus diesen Gründen wird entschieden:

1. Die Entscheidung der Vorinstanz wird aufgehoben.

2. Das europäische Patent EP-B-0 071 839 wird widerrufen.

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