European Case Law Identifier: | ECLI:EP:BA:1983:T018582.19831026 | ||||||||
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Datum der Entscheidung: | 26 October 1983 | ||||||||
Aktenzeichen: | T 0185/82 | ||||||||
Anmeldenummer: | 80400593.2 | ||||||||
IPC-Klasse: | - | ||||||||
Verfahrenssprache: | FR | ||||||||
Verteilung: | |||||||||
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Bezeichnung der Anmeldung: | - | ||||||||
Name des Anmelders: | Posso | ||||||||
Name des Einsprechenden: | - | ||||||||
Kammer: | 3.5.01 | ||||||||
Leitsatz: | 1. Das Amt kann dem Anmelder eine erfinderische Tätigkeit nicht allein deshalb absprechen, weil er die Veröffentlichungdaten zweier Dokumente, die zeitlich vor seiner Anmeldung liegen, miteinander verwechselt und daraus fälschlicherweise geschlossen hat, daß das vermeintlich ältere Dokument den Fachmann nicht auf den Gedanken bringen konnte, eine vermeintlich jüngere Vorrichtung zu vereinfachen, um zu dem anmeldungsgemäßen Gegenstand zu gelangen. 2. Artikel 114(1) EPÜ sieht vor, daß das EPA bei der Ermittlung des Sachverhalts nicht auf das Vorbringen der Beteiligten beschränkt ist. Erweist sich der Sachverhalt als unrichtig, so hat das Amt die Beteiligten zu einer Stellungnahme aufzufordern (Art. 113(1) EPÜ). Unterläßt er dies, so liegt ein Verfahrensfehler vor, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach sich zieht (R. 67 EPÜ). |
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Relevante Rechtsnormen: | |||||||||
Schlagwörter: | Erfinderische Tätigkeit Verfahrensmangel(wesentlicher) aufgrund falscher Auslegung des Sachverhalts durch die Prüfungsabteilung Rückzahlung der Beschwerdegebühr |
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Orientierungssatz: |
- |
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Angeführte Entscheidungen: |
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Anführungen in anderen Entscheidungen: |
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Sachverhalt und Anträge
I. Die am 29. April 1980 eingereichte und unter der Nummer 0 019 514 veröffentlichte europäische Patentanmeldung Nr. 80 400 593.2, die eine französische Priorität vom 14. Mai 1979 in Anspruch nimmt, wurde mit Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 27. Juli 1982 zurückgewiesen.
II. Der Entscheidung der Prüfungsabteilung lagen die am 27. März 1982 eingegangenen Patentansprüche 1 und 2 zugrunde. Die Prüfungsabteilung vertrat die Auffassung, daß die Erfindung nach Anspruch 1 nicht patentfähig im Sinne des Artikels 52 (1) EPÜ sei. In ihrer Begründung ging die Prüfungsabteilung von den Druckschriften FR-A-2 189 811, FR-A-2 297 478 und US-A-2 285 464 als Stand der Technik aus und kam zu folgendem Ergebnis:
1. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei neu.
2. Er beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
3. Die in Anspruch 2 aufgeführten Mittel seien Bestandteil der normalen Tätigkeit eines Fachmanns und rechtfertigten daher nicht die Umwandlung dieses Anspruchs in einen gewährbaren unabhängigen Anspruch.
4. Der Gegenstand des Anspruchs 2 beruhe ihres Erachtens weder für sich genommen noch in Verbindung mit Anspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit.
III. Der Anmelder legte am 8. September 1982 gegen diese Entscheidung Beschwerde ein; die Beschwerdegebühr wurde am selben Tag entrichtet, und die Beschwerdebegründung ging am 18. November 1982 ein. Er machte geltend, daß die Vorrichtung nach Anspruch 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, da die beiden Druckschriften FR-A-2 189 811 und FR-A-2 297 478 nicht ohne weiteres miteinander kombiniert werden könnten. Er beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Erteilung eines europäischen Patents auf der Grundlage der beiden am 18. November 1982 beim Amt eingegangenen Ansprüche 1 und 2.
IV. In einer Unterredung am 14. April 1983 wies der Berichterstatter den Beschwerdeführer darauf hin, daß er zunächst die Ansprüche abändern müsse; der Oberbegriff müsse erweitert, die überflüssigen Merkmale müßten herausgenommen und die Beschreibung müsse dann entsprechend dem im Laufe des Verfahrens ermittelten Stand der Technik und der erfindungsgemäßen Aufgabe geändert werden.
V. Der Beschwerdeführer reichte am 27. April 1983 neue Ansprüche 1 und 2 sowie eine neue Beschreibung ein und beantragte die Erteilung eines europäischen Patents aufgrund dieser Unterlagen. Anspruch 1 lautet nunmehr wie folgt:
1. Verbesserter Behälter zur Aufnahme einer Minikassette oder anderer Mittel der Informationsspeicherung mit zwei Spulen, bestehend einerseits aus einem aus Kunststoff geformten Element, das eine in Seitenwände übergehende Stirnwand aufweist und zwei umgebogene, mit einer Basis vereinigte Ränder bildet, und andererseits aus einem ebenfalls aus Kunststoff geformten zweiten Element, das eine Stirnwand samt Rückwand und Seitenwänden aufweist, die sich entlang den Seitenwänden des ersten Elements erstrecken, an die sie angelenkt sind, sowie aus elastischen Verriegelungsmitteln, die die Seitenwände der beiden Elemente an den sich öffnenden Enden verbinden, dadurch gekennzeichnet,
- daß das erste Element undurchsichtig ist und ein vorderes (9) und hinteres Teil (10) aufweist, die in an sich bekannter Weise durch ein beim Formen ausgebildetes Scharnier (8) miteinander verbunden sind, das in der Stirnwand parallel zur Basisfläche (29) verläuft und sich an den Seitenwänden über Trennschlitze (30, 31) fortsetzt, und
- daß das undurchsichtige vordere Teil (9) und das zweite, transparente Element (1) durch gegebenenfalls lösbare Befestigungsmittel (15 bis 24) zu einem starren Gehäuse verbunden sind.
VI. Der Anspruch 1 und die Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung sind der unter Nr. 0 019 514 veröffentlichten Anmeldung zu entnehmen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde entspricht den Artikeln 106 bis 108 und Regel 64 EPÜ; sie ist somit zulässig.
2. Die Beschwerdekammer hat zu der obengenannten Fassung des Anspruchs folgendes zu bemerken: Im Oberbegriff wird zur Festlegung der Erfindung auf das französische Patent FR-A-2 189 811 Bezug genommen; "die Stifte zum Festhalten der Spulen", die eine unnötige Beschränkung darstellen, sind weggelassen worden. Anspruch 1 entspricht den Erfordernissen der Regel 29 (1) a) EPÜ.
Der kennzeichnende Teil ist in folgenden Punkten geändert worden:
- Streichung des Merkmals "der hintere Teil bildet einen Deckel, der die Kassette trägt ...", das in der Beschreibung auf Seite 6, Zeilen 32 bis 35 nicht vorkommt
- Übernahme des Merkmals, daß "die Seitenwände mit denen des transparenten Elements durch elastische Verriegelungsmittel zusammenwirken", in den Oberbegriff
- Ersatz des Begriffs "Verbindungsmittel" durch "Befestigungsmittel", obwohl der letztere Begriff in der Beschreibung nicht vorkommt. Dieser Austausch ist gerechtfertigt, weil das Verbindungsmittel, mit dem das Vorderteil und das transparente Element ineinander einrasten, wie auf Seite 5, fünfter und letzter Absatz beschrieben, als gegebenenfalls lösbares Befestigungsmittel wirkt.
Die obengenannten, zur Klarstellung vorgenommenen Änderungen entsprechen den Artikeln 84 und 123 (2) EPÜ; sie sind somit zulässig.
3. In dem Schreiben vom 24. März 1982 hat der Beschwerdeführer irrtümlich behauptet, dem Fachmann sei die Patentschrift FR-A-2 297 478 vor der Patentschrift FR-A-2 189 811 zugänglich gewesen, und daraus den Schluß gezogen, daß der Erfinder insofern erfinderisch tätig geworden sei, als er den in der Patentschrift FR-A-2 189 811 beschriebenen Behälter vereinfacht habe, ohne dabei die Lehre der vermeintlich älteren Patentschrift FR-A-2 297 478 heranzuziehen. Diese Argumentation zum Nachweis einer erfinderischen Tätigkeit ist offensichtlich unrichtig. Die Prüfungsabteilung hat nun umgekehrt daraus gefolgert, daß bei Richtigstellung der chronologischen Reihenfolge der Gegenstand der Anmeldung für den Fachmann deshalb naheliegend sein muß.
Die Beschwerdekammer kann sich dieser Schlußfolgerung der Prüfungsabteilung nicht anschließen, da sie ihres Erachtens gegen Artikel 114 (1) EPÜ verstößt. Dieser Artikel sieht nämlich vor, daß das EPA den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat und dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt ist. Diese Bestimmung bringt weiter ganz klar zum Ausdruck, daß das Amt alle Tatsachen zu berücksichtigen hat, die seines Erachtens zur Förderung des Verfahrens erforderlich sind, insbesondere einschließlich jener, die es selbst vorbringt.
Dabei muß sich das Amt unter allen Umständen vom Grundsatz des rechtlichen Gehörs leiten lassen. Im vorliegenden Fall hat sich der Beschwerdeführer beim Nachweis der erfinderischen Tätigkeit für seine Anmeldung offensichtlich in den Veröffentlichungsdaten geirrt. Die Prüfungsabteilung darf jedoch diesen Umstand nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers ausnutzen; sie hat ihm entweder das festgestellte Versehen mitzuteilen, um ihm Gelegenheit zu einer Berichtigung zu geben, oder andernfalls darauf zu verzichten, das Versehen gegen ihn zu verwenden.
Die Prüfungsabteilung hat weder das eine noch das andere getan, sondern ein Versehen des Anmelders zur Stützung der Zurückweisungsgründe benutzt; sie hat sich damit nicht an Artikel 113 (1) EPÜ gehalten und einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen.
4. Dem Beschwerdeführer zufolge weist der in der Patentschrift FR-A-2 189 811 beschriebene Kassettenbehälter die beiden folgenden Nachteile auf:
1) Die Staubdichtigkeit läßt zu wünschen übrig;
2) die Herstellung ist kompliziert und damit kostspielig.
5. Die vorliegende Anmeldung stellt sich die Aufgabe, einen Kassettenbehälter nach dem Oberbegriff des Anspruchs 1 zu schaffen, der jedoch nicht die Nachteile des in der obengenannten Veröffentlichung beschriebenen Behälters aufweist.
6. Die Aufgabe wird nach Angabe des Beschwerdeführers dadurch gelöst, daß dem Kassettenbehälter die im kennzeichnenden Teil des Anspruchs 1 beschriebene Form gegeben wird.
7. Nach Prüfung der im Recherchenbericht aufgeführten Druckschriften teilt die Kammer hinsichtlich der Neuheit der Anmeldung die Auffassung der Prüfungsabteilung, wonach die Vorrichtung nach Anspruch 1 nicht nur gegenüber der älteren Patentschrift FR-A-2 189 811, sondern auch gegenüber der Patentschrift FR-A-2 297 478 neu ist.
8. Die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit hat folgendes ergeben:
8.1. Bei dem Behälter nach der Patentschrift FR-A-2 189 811 schließen Gehäuseunterteil und Deckel in geschlossener Stellung nur an den Seitenwänden ab. Auf den Vorder- und Rückwänden bleibt ein Spalt frei, dessen Breite von dem Spiel an der Gelenkverbindung abhängt.
Die Dichtigkeit eines derartigen Behälters ist bedeutend weniger wirksam als die des erfindungsgemäßen Gegenstands. Der Patentschrift FR-A-2 189 811 ist allenfalls die Lehre von einem Behälter zu entnehmen, dessen Deckel am Unterteil unter Einhaltung einer Verschiebemöglichkeit geschwenkt werden kann. Dies führt den Fachmann jedoch nicht zu einem Kassettenbehälter, der die Kassette an ihrem offenen Teil völlig umschließt und dessen Deckel und Unterteil so angeordnet sind, daß man eine starre Verbindung erhält, die Gegenstand des kennzeichnenden Teils des Anspruchs 1 ist. Ähnliches gilt für die vorveröffentlichte französische Patentschrift FR-A-2 297 478, in der ein dreiteiliger Behälter, bestehend aus einem parallelepipedischen Einband, einer darin angebrachten Hülle und einer in dieser Hülle gleitenden Schublade, beschrieben ist. Die Schublade besteht aus zwei um ein Scharnier schwenkbaren Teilen, so daß man die Kassette bei Bedarf herausnehmen kann. Das völlige Herausziehen der Schublade wird durch eine Klappe verhindert, die als Fortsatz der Hülle ausgebildet ist. Ausgehend von diesem Behälter, der unter anderem durch eine bewegliche Schublade in einer starren Hülle gekennzeichnet ist, gelangt der Fachmann nicht zwangsläufig zu einer Vorrichtung, bei der die Schublade fest mit der Hülle verbunden ist.
Der Gegenstand, den die Prüfungsabteilung ausgehend von den beiden älteren Patenten konstruiert hat, indem sie den Deckel des Behälters nach der Patentschrift FR-A-2 189 811 durch die gleitende Schublade der Patentschrift FR-A-2 297 478 ersetzt und dann die Schublade an dem Gehäuseunterteil des Behälters mit Hilfe einer starren, ggf. lösbaren Verbindung befestigt hat, entspricht nicht dem Gegenstand der vorliegenden Erfindung.
Um zu dem erfindungsgemäßen Gegenstand zu gelangen, sind nämlich folgende Schritte erforderlich:
1. Man nimmt die Schublade ganz heraus,
2. man dreht sie um,
3. man bringt sie in das Gehäuse nach der Patentschrift FR-A-2 189 811,
4. man ersetzt die gleitende Schwenkverbindung durch eine starre, lösbare Befestigung,
5. man befestigt die Schublade am Gehäuseunterteil. Die Prüfungsabteilung hat bei ihrem Vorgehen bekannte Mittel kombiniert, aber nicht bedacht, daß man, um zu dem Gegenstand des Anspruchs 1 zu gelangen, diese Mittel anpassen muß, damit sie zusammenwirken können. Eine derartige Anpassung ist für den Fachmann nicht naheliegend.
8.2. Der Beschwerdeführer weist in der Einleitung der Anmeldung auf die französische Patentschrift FR-A-1 319 370 hin. Diese Patentschrift wird genannt, um die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands nach Anspruch 1 zu stützen; sie hat eine Schachtel für pharmazeutische Erzeugnisse, z. B. Pastillen, zum Gegenstand. Der Deckel der dort beschriebenen Schachtel weist eine Rille auf, die als Scharnier zwischen einer beweglichen Klappe und einem festen Teil wirkt. Bei diesem feuchtigkeitsdichten Verschlußsystem braucht man den Deckel nicht völlig abzunehmen, um an den Inhalt des Behälters zu gelangen.
Bei der vorliegenden Erfindung geht es jedoch darum, die Kassette vor Staub zu schützen.
Auch weist der Deckel weder Seitenwände zum Halten der Kassette noch ein mit der Schachtel selbst zusammenwirkendes Verriegelungssystem auf. Der Fachmann braucht daher diese Art Behälter nicht in Betracht zu ziehen.
8.3. Hieraus ergibt sich, daß sich der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik herleiten läßt, sondern eine erfinderische Tätigkeit im Sinne des Artikels 56 EPÜ vorliegt. Der Anspruch ist somit zulässig.
9. Der von Anspruch 1 abhängige Anspruch 2 bezieht sich auf eine besondere Ausführungsart des starren Befestigungsmittels, das Gegenstand dieses Anspruchs ist.
Er wird sowohl formal als auch sachlich durch die Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt und ist somit ebenso zulässig wie Anspruch 1.
10. Die Kammer hat gegen die Änderungen, die der Beschwerdeführer in der Beschreibung vorgenommen hat, nichts einzuwenden.
Sie dienen der Neuformulierung der erfindungsgemäßen Aufgabe und zur Abgrenzung des Schutzbereichs gegenüber dem sich aus der Patentschrift FR-A-2 189 811 ergebenden Stand der Technik.
11. Der Beschwerdeführer hat zwar die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nicht beantragt, die Kammer ist jedoch der Ansicht, daß er Regel 67 EPÜ in Anspruch nehmen kann; diese Regel sieht eine Rückzahlung vor, wenn der Beschwerde stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht (siehe Nr. 3).
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird wie folgt entschieden:
1. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Auflage zurückverwiesen, auf der Grundlage der Ansprüche 1 und 2, der Seiten 1 bis 7 der Beschreibung in der am 27. April 1983 eingereichten Fassung und der ursprünglichen Zeichnungen ein europäisches Patent zu erteilen.
2. Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird angeordnet.